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Slapstick

Frühmorgens war es am vergangenen Sonntag schon warm, zwei Hummeln in der Duftnessel, 30 pfeifende Mauersegler über dem Haus. Der Krähe hatte ich zur Fütterung zwei Erdnüsse unter ein Gemüsenetz aus dem Supermarkt gelegt, innen auf der Fensterbank, und als ich wieder ins Zimmer kam, waren Netz und Nüsse weg. Ich vermute, dass die Krähe das Netz aus dem Fenster auf die Straße geworfen hat, um an die Nüsse zu kommen, aber ich konnte es draußen nirgendwo entdecken.

Dann wurde es heiß, und man sah vor den Fenstern kein Tier mehr. Auf dem Straßenpflaster konnte man sich ein Ei braten, aber trotzdem war alles voller Sonntagsmenschen mit ihren Sonntagserwartungen an sich selbst und ihre Umgebung. Die Tiere waren klüger, und ich fühlte mich ihnen näher.

Elisa Duca: drifting seaweed (2024)

Frühmorgens ist es an diesem Sonntag kühl und nass, der Balkon droht vor Regen wegzuschwimmen, die Duftnessel neigt sich tief. Schon am Samstag hat es nach der Fütterung im Zimmer nach nassen Krähen gerochen.

Am späteren Vormittag kommen immer mehr Nachrichten, dass ich neue Followerinnen auf Instagram habe, jede eine „Blogger/in“, die auf ihrem Profilbild Bikini trägt. Ich blocke sie und denke darüber nach, wie schwer es mir inzwischen fällt, mein Schreiben zu monetarisieren. Dann regnet es wieder, aber nur kurz.

Ich beschließe auf Netflix True Crime zu bingen. Das ist interessant, weil es um starke Gefühle geht.

Da ist die Folge mit dem Mann, der ein kleines Mädchen entführt und erst als Vater und Kind und dann als Vater und Ehefrau mit ihr zusammenlebt, und das Mädchen hat Freundinnen, die zufällig alle nicht merken, dass es sexuell missbraucht wird, oder die es merken, aber auf ihre eigene Wahrnehmung nicht reagieren, weil die Machtverhältnisse so sind, dass Männer ein Recht auf Gewaltanwendung haben und man besser nicht hinsieht.

Und dann ist das Mädchen irgendwann tot, und wie das kommt, wird in der Folge überhaupt nicht thematisiert. Es darf nur um die Ermittler gehen und ihre Gefühle der Dringlichkeit und Härte, mit der sie den Täter verfolgen, und darum, wie es kommt, dass die Freundinnen des Mädchens irgendwie stumpf daneben sitzen und ratlos in die Kamera blicken, darf es nicht gehen.

Da ist die Folge mit dem jungen Mann auf dem kirchlichen College in der US-Provinz, der nachts verschwindet, und dann kommt heraus, dass er vielleicht gar nicht so heterosexuell war, wie seine Freundin dachte, und online ein geheimes Leben führte. Ob das mit seinem Verschwinden zu tun hatte, lässt sich dann leider einfach nicht aufklären. Die Freundin und die Familie des jungen Mannes wollen ihn weiter so sehen, wie sie ihn immer gesehen haben, und Menschen verschwinden oder sind irgendwann tot, weil ihr direktes Umfeld sie einfach nur so sehen möchte, wie es sie gern hätte, und nicht so wie sie sind. Aber die Gefühle sind stark, die Verzweiflung über den Verlust und der Schmerz sind grenzenlos, und man kann einen Menschen offenbar sehr lieben, ohne ihn wirklich kennen zu wollen.

Da ist die Folge mit der Großfamilie, und der Vater gewinnt in der Lotterie und verschwindet, als er das Los einlösen will, und die Familie ist verzweifelt. Er war ein toller Vater, besonders für seine Söhne, für die er alles getan hat, und sie lieben ihn sehr und waren glücklich und zufrieden, wo kann er nur sein? Und dann wird er im Wald gefunden, tot nach einer Überdosis Meth, und ja, einmal hat einer seiner Söhne ihm Meth gegeben, als er danach gefragt hat. Aber wichtiger ist, dass sie ihn alle sehr geliebt haben, und sie sind ratlos und verzweifelt und können sich das nicht erklären, und der Rest geht uns nichts an.

Und dann ist da die Folge mit dem Mann, der ein Kind mit einer Frau hat, und sie haben sich sehr geliebt, aber irgendwann nicht mehr so, und dann haben sie sich getrennt, und der Mann hat online eine neue Partnerin gefunden. Und das war sehr aufregend, aber irgendwann nicht mehr so. Aber das war eine offene Zweierbeziehung, und der Mann hat online eine neue Partnerin gefunden, wollte aber auch mit ihr nichts Verbindliches, und plötzlich hat eine der beiden Frauen ihn gestalkt, sein Leben bedroht, das Leben seiner Exfrau bedroht und das seines Kindes. Und da rät ihm dann jemand, sich eine Pistole zu kaufen und das Leben seines Kindes zu beschützen, was er dann auch vernünftig findet, und er kauft sich eine Pistole, zieht dann aber auch um und sucht wieder online nach Partnerinnen.

Und die Frau, die weiter stalkt, dieses Monster, wird irgendwann gefasst, und alle haben starke Gefühle und sind entsetzt und verstört, aber welche Rolle der Mann in dieser Geschichte gespielt hat, wird nicht thematisiert. Er hat sich eine Pistole gekauft, als sein Kind in Gefahr war, also hat er alles richtig gemacht. Mehr kann man von einem Mann nicht erwarten.

Und nie geht es um das, was für mich das eigentliche Thema gewesen wäre. Immer geht es um die starken Gefühle der Ermittler*innen und der Angehörigen und deren grenzenlose Liebe, die uns entgegengeschleudert wird, bis wir nichts anderes mehr sehen, und die starken Gefühle der Angehörigen für die Opfer helfen ihnen dabei, nicht über ihre eigene Rolle nachzudenken.

Elisa Duca: the entire world of objects I (2024)

In der Sonne schrauben sich ein paar geflügelte Lindenfrüchte an meinem Fenster vorbei. Gefühle sind hinterhältig und gemein, denke ich so bei mir, aber ich bin ein autismusbetroffener Mensch, und deshalb stehe ich automatisch unter dem Verdacht, dass ich mit Gefühlen nichts anfangen kann – so wie Dustin Hoffman in „Rain Man“, der an der Hand von Tom Cruise mit tonloser Stimme Zahlenreihen herunterleiert, ein älteres Problemkind. Alles mein Problem.

Aus meiner Perspektive sieht es mit dem Autismus vielleicht ein bisschen so aus: Die Menschen in der nicht-autistischen Welt haben einfach eine andere Hirnstruktur als ich und nehmen das Universum ganz anders wahr, wobei diese nicht-autistische Welt so freundlich ist, meine Art der Weltwahrnehmung zum Symptom einer „neurologischen Störung“ zu erklären. Ihr Normalitätsgefühl wird von der Weltwahrnehmung autistismusbetroffener Menschen gestört. Deshalb lastet auf uns ein hoher Anpassungsdruck. Das ist sehr anstrengend, aber leider muss „Normalität“ unbedingt ein Mittel zur Ausübung von Macht sein, ein Zeichen der Überlegenheit, sonst würde sie keinen Spaß machen. „Normalität“ ist einfach ein Turnier, das man gewinnen wollen muss, eine Leistung, die man in der Leistungsgesellschaft erbringen muss, im christianlindnerschen Sinne.

Bei mir ist es so, dass ich mich in jeder gesellschaftlichen Situation vortaste wie im Nebel. Weil ich Reize schlecht filtern kann, nehme ich Dinge gleichzeitig wahr, und alle als gleich wichtig. Ich lebe sozusagen den Buchtitel von Jonathan Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah. Alles. Immer. Dann kommt es zum Beispiel auch vor, dass ich wahrnehme und verstehe, was andere an sich selbst gar nicht wahrgenommen und verstanden haben wollen, und ich bleibe in der kognitive Dissonanz hängen, die eine Gefühlsperformance in mir erzeugt, die unbedingt für wahr gehalten werden möchte. Vielleicht ist es kein Zufall, dass ich irgendwann Theaterkritiker geworden bin.

Und vielleicht war es als Autismusbetroffener mein Glück, dass ich so früh angefangen habe, mich mit Slapstick zu beschäftigen. Und vielleicht war auch das kein Zufall. Mein Lieblingsautist ist jedenfalls nicht Spock, dieser Heros des nur scheinbar gefühlskalten logischen Denkens, sondern Buster Keaton. Ein Film wie „The General“ bildet gut ab, wie ich mich, sagen wir, auf einer Buchmesse fühle, an einem Ort intensiver zielgerichteter Kommunikation mit Menschen, deren Hirnstruktur sich stark von meiner eigenen unterscheidet. Die Zahl der Knochenbrüche, die Buster Keaton bei der Ausübung seines Stummfilmberufs erlittenen hat, entspricht ungefähr der Zahl meiner beim Networking erarbeiteten seelischen Knochenbrüche.

Vielleicht kann ich meine Nöte unter Menschen mit normschönen Gehirnen ja als Kunst verstehen, als eine Art grotesken Tanz – und etwas anderes als getanztes Scheitern ist Slapstick ja nicht, mit dem Lacherfolg als Erlösung, als Zeichen eines gemeinschaftlichen Einverständnisses mit der Hoffnungslosigkeit. [Fußnote: Buster Keaton war der Star des Films „Film“ von Samuel Beckett (Si apre in una nuova finestra) aus dem Jahr 1965.]

Im diesem Tanz ist jedes Versagen, die gesellschaftlich erwarteten Gefühle oder Reaktionen zu produzieren, jeder Ausbruch meiner Unfähigkeit, höflich zu verstecken, dass ich taktisch eingesetzte Gefühle von den wahren unterscheiden kann, ein Lauf gegen eine Wand, gegen eine mir vor der Nase zugeknallte Tür, gegen die Dachlatte auf der Schulter eines Handwerkers, der sich unvermittelt umdreht. Ach so, ich habe wieder die Dampflok nicht gesehen, an deren Kuhfänger ich jetzt klebe! Buster Keaton und ich sind beide an allen möglichen und unmöglichen Stellen gut vernarbt.

Elisa Duca: the entire world of objects II (2024)

Frühmorgens ist es an diesem Montag sonnig und angenehm warm. Drei Hummeln in der Duftnessel, sie hat sich wieder aufgerichtet. Am späten Vormittag kommen immer mehr Nachrichten, dass Menschen auf Instagram mich zu Branded Content hinzufügen wollen. Ich finde keinen Weg, sie zu blocken.

Der Krähe habe ich innen auf der Fensterbank zwei Erdnüsse unter einen durchsichtigen Kasten gelegt. Im letzten Jahr hat sie den Kasten einfach scheppernd umgekippt, um an die Nüsse zu kommen. Diesmal geht sie vorsichtig ein Mal rund herum und entdeckt an einer Seite einen Schlitz. Dann zieht sie sich auf den Sims zurück, ruckelt sich den Kasten so hin, dass die Nüsse näher am Schlitz liegen, geht ein zweites Mal um den Kasten herum, steckt den Schnabel in den Schlitz und zieht sich die beiden Nüsse heraus.

Mit den Krähen ist es so, dass unser Verhältnis auch auf Erdnüssen beruht, aber nicht nur. Wir verstehen einander nicht, aber wir versuchen es immer wieder, und zwar täglich, wenn ich in Berlin bin. In unserem Umgang gibt es keine Hierarchie, kein Dominanzverhalten, bei dem ein Normalitätsanspruch als Waffe eingesetzt wird. Wir loten unser Nichtverstehen aus, mit anhaltender Neugier, und beide Seiten denken sich dabei immer neue Spiele aus.

Wenn nicht-autistische Menschen mich auf diese Weise als Krähe behandeln würden, wäre mir das eine Ehre. Das würde mir genügen.

Die Autismus-Spektrum-Störung wird auch Wrong-Planet-Syndrom genannt, und ich finde „wrong planet“ eine sehr schöne Bezeichnung für mein Lebensgefühl. Die KI-Arbeiten von Elisa Duca illustrieren für mich dieses Gefühl , und deshalb habe ich sie in hier eingestreut. Die Szenen und Räume erinnern an die „wirkliche“ Welt, stammen aber offenbar aus einem seltsamen Paralleluniversum, erfüllt von einem elektrischen Sirren, das anziehend und abstoßend zugleich ist. Starke kongnitive Dissonanzen.

Danke fürs Lesen, danke fürs Abonnieren, danke fürs Bezahlabo abschließen, wenn das Geld reicht.

Übrigens bin ich der Meinung, dass das Patriarchat zerstört werden muss.

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