Über Normalität
Auf YouTube habe ich ein Tornadovideo aus Iowa gesehen („INCREDIBLE TORNADO VS WIND TURBINE DRONE FOOTAGE“ von Reed Timmer, auf Youtube hochgeladen am 22.5.) und hatte eine leise Panikattacke. Das lag nicht am furchterregenden Inhalt, sondern an der Form. Am ruhigen Flug der Kameradrohne auf den Wirbelsturm zu, hin zum Farmhaus zwischen Windhose und Objektiv, hin zu der Scheune, der man nicht genau ansieht, ob sie brennt und qualmt oder ob der Sturm Mehl aus ihr herauswirbelt; an den hyperscharfen Bildern, die noch das Schimmern des regennassen Bodens einfangen, an deren 4, 5 oder 6k-Qualität (wer weiß schon, wie weit die mögliche Pixeldichte seit der vorvergangenen Woche explodiert ist?); an der Intention des Filmemachers, der natürlich auf ein Kräftemessen zwischen der von ihm kontrollierten Technik und der mit totalem Kontrollverlust drohenden Naturgewalt aus ist; an der Tatsache, dass diese Drohnenflug-Einstellung über offenem Gelände mich an Computerspielästhetik erinnert, nicht an die Wirklichkeit, und ich nach einigen Seherfahrungen mit KI-generierten Videos nicht mehr weiß, ob hier überhaupt Wirklichkeit abgebildet wird.
Panikattacke wegen Realitätsverlust im Angesicht von Bildern, die besonders stolz darauf sind, Realität abzubilden, aber eher Gewalt durch Entzug der Realität des Abgebildeten ausüben. Visuelles Mobbing.
Den Tag der Europawahl habe ich in einer Turnhalle verbracht, als Wahlhelfer. Die Stimmauszählung am Abend war rauschhaft, ein Wirbel, ein ordnender Tornado. Irgendwie war ich beim Sortieren in der Mitte gelandet und musste mit dem linken Arm Stimmzettel nach rechts und mit dem rechten nach links reichen, es war der Wahnsinn. Das davor, der sogenannte Wahlvorgang, war, als wir uns aufeinander eingespielt hatten, ein langer ruhiger Fluss.
Meine Aufgabe war, zu gucken, dass die anderen alles richtig machen, und die Abdeckung vom Einwurfschlitz der Wahlurne zu ziehen. Bei uns war das ein gelochtes Blatt Blankopapier, am Nachbartisch war es das Berliner Stadtwappen auf weißem Karton, und als ich das gesehen und gerufen habe, das ist ja schick bei euch, wir haben nur ein weißes Blatt Papier, wurde ich einfach starr angeblickt und zurück an meinen Tisch geschwiegen. Dass wir im Koffer mit dem Wahlmaterial nicht nach dem Berliner Stadtwappen gesucht haben, konnten sie sich einfach nicht vorstellen.
Wahlhelfende sind sogenannte „normale“ Menschen, und vor denen habe ich Angst. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich solche Menschen verunsichere, ohne je zu verstehen womit, meistens offenbar einfach damit, dass ich da bin. Durch Anwesenheit. In der Grundschule haben meine Mitschüler*innen mir zum Beispiel eine reingehauen, weil ich Sätze mit Nebensätzen gebildet habe, was sie sich nicht gefallen lassen wollten. Mein Sprachgebrauch hat ihren Normalitätsbegriff gestört.
Normalität ist normativ, das ist ja keine Überraschung, sie will sich durchsetzen. „Man muss mit den Menschen klarkommen“, hat mein Vater immer gesagt, mit warnendem Unterton, und ich bin in der Turnhalle mit den drei Wahllokalen dann auch gut mit ihnen klargekommen. Zwölf Stunden unter Menschen, die mich verunsichern, weil sie mir ständig Angst machen, ich könnte sie verunsichern und sie könnten auf diese Verunsicherung mit Gewalt regieren.
Normale Menschen sind die Menschen, für die Politik gemacht wird und die Franz Müntefering von der SPD in Talkshows immer gern „die Menschen da draußen im Lande“ genannt hat, mit denen man jetzt endlich besser kommunizieren müsse. Dass ich den Satz zum ersten Mal von ihm gehört habe, ist bestimmt zwanzig Jahre her; es kann aber nicht so gut funktioniert haben, weil die Menschen da draußen im Lande seine Partei bei der Europawahl in Grund und Boden nichtgewählt haben. Vielleicht ja auch weil „Münte“ und Seinesgleichen zwanzig Jahre lang im Grunde nicht viel anderes kommuniziert haben, als dass man mit den Menschen da draußen im Lande jetzt endlich besser kommunizieren müsse.
Kürzlich ist Müntefering mir in einem Zeitungsartikel als „der große alte Mann der SPD“ wiederbegegnet. Ich möchte später auch einmal als der große alte Mann von etwas gelten, weiß aber noch nicht von was, und rein kulturell ist das ja inzwischen auch etwas schwieriger geworden. Zum Glück. Der große alte Mann der SPD war jedenfalls auf einem Ausflugsdampfer aufgetaucht und hatte dort vor dem Seeheimer Kreis der Partei eine mahnende Rede gehalten. Dann war er von Bord gegangen, soll aber vorher den Genoss*innen am rechten Rand noch aufgetragen haben, „den Menschen“ keine Angst zu machen.
Das finde ich schwierig. Wer jetzt keine Angst hat, nach dieser Europawahl, vor diesen Landtagswahlen im September, in dieser Klimakatastrophe, in diesem neuen kalten Krieg, hat sich in meinen Augen aus der Wirklichkeit verabschiedet. Menschen Angst zu machen, die noch keine haben, wäre im Grunde ein therapeutischer Versuch, sie in die Wirklichkeit zurückzuholen. Aber Politik darf die Menschen nicht verunsichern, genau wie ich, das haben wir gemeinsam. Und vor Menschen, die mit Gewalt durchsetzen wollen, dass man sie nicht verunsichert, kann man sich wahrscheinlich nur noch verstecken.
Es gibt gar keine normalen Menschen, das wird ganz klar, wenn man beobachtet, wie die Menschen zur Europawahl die Turnhalle mit den Wahlkabinen betreten, zögernd oder betont forsch, wie sie die Füße voreinander setzen, wie sie die Arme bewegen, wie sie sich eine Wahlkabine aussuchen, wie sie zur Stimmabgabe auf den Tisch zukommen, wie sie sprechen, oft gepresst, verunsichert, unter Druck, alles richtig zu machen, als würde man sie prüfen. All war ist jedes Mal völlig einzigartig. Ich habe niemanden wählen sehen, der irgendeiner Norm genügen würde, nur einige, die es vergeblich versucht haben.
Eigentlich war jeder einzelne Wahlvorgang eine Ein-Mensch-Performance, wie von Tino Seghal, und natürlich musste ich auch an den Text von Peter Handke denken, in dem immer einfach nur Menschen hin- und hergehen: „Und wieder sind sie sämtlich nichts als anwesend (…)“ Anwesend sein ist manchmal das Schwierigste überhaupt. (Ich meine den Theatertext aus dem Jahr 1992 mit dem Titel „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“.)
Alles muss anders werden. Der Informatiker Kristian Köhntopp schreibt in seinem Blog (Si apre in una nuova finestra) ganz lakonisch: „Die Welt, in der ihr groß geworden seid, bzw. die Welt mit der Struktur der Arbeit und den Methoden, die mal funktioniert haben, existiert nicht mehr. Die Politik, die ihr kennt, könnt Ihr nicht fortsetzen, weil ihre Methoden nicht mehr adäquat sind. Wenn man sich hinstellt, mit dem Fuß aufstampft und ‚Ich will aber‘ wählt, dann wird das nicht funktionieren, weil die Methode nicht mehr zum Problem paßt.“
Die Historikerin Hedwig Richter und der Journalist Bernd Ulrich haben ein Buch mit dem Titel „Demokratie und Revolution“ geschrieben, in dem sie sehr heiter und höflich von „der Politik“ fordern, sich einer veränderten Wirklichkeit zu stellen. Sie haben das Buch mit dem Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt diskutiert und ihn mit ihrer höflichen Forderung konfrontiert. Die taz (Si apre in una nuova finestra)hat seine Antwort dokumentiert: „‚Der Kanzler stellt sich hin und sagt: Es muss alles anders sein?‘ Das sei ‚ein fast schon naiver Vorschlag.‘“
„Die Politik“ ist beleidigt von dem Anspruch, sich mit der Wirklichkeit überhaupt auseinandersetzen zu müssen. Wer so einen Anspruch stellt, muss fast schon infantilisiert werden. Politik darf nur für „normale“ Menschen gemacht werden, auch wenn deren Normalitätsverständnis uns umbringt.
Auf dem Lübecker Flughafen, zwanzig Minuten zu Fuß von dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, hat ein Milliardär während der Pandemie verzweifelten Querdenker*innen einen selbst entwickelten, nicht zugelassenen Impfstoff verabreicht. Er wurde angeklagt, und sein Verteidiger war Wolfgang Kubicki, stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP und Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Das ist deutsche Normalität. Normale Menschen helfen normalen Menschen.
In Nordwestmecklenburg haben zwanzig Menschen zwei Mädchen aus Ghana angegriffen und einem davon ins Gesicht getreten. Gewalttätigkeit, die sich als Normalität durchsetzt und der sich niemand entgegenstellt, verschafft mir Panikattacken. Es mag aber sein, das Politiker („Macher“! „Pragmatiker“!) es für einen fast schon naiven Vorschlag halten, sich dieser Gewalt nicht unterwerfen zu wollen.
Vor meinem Fenster gehen Fussballfans auf und ab, bis sie anfangen zu torkeln. Ich lese, dass bei Sport-Großereignissen die Gewalt gegen Frauen stark ansteigt. Gewalt muss ausgeübt werden. Wenn man Räume schafft, die in geselligem Rahmen zur Ausübung von Gewalt ermuntern, kann man Milliarden verdienen. Wir leben in konkurrierenden, einander gegenseitig ausnutzenden Systemen von Gewalt.
Der Moment, in dem man die Hoffnung verliert, ist natürlich auch ein Augenblick großer Klarheit, und der Rest ist Tornado. Er kommt ja schon auf unsere Scheune zu. Er ist wahrscheinlich schon lange da.
Und der Rest nach diesem Rest ist Trauer.
Nach der Trauer kommt dann etwas Neues.
Danke fürs Lesen, danke fürs Abonnieren und danke fürs Bezahlabo Abschließen, wenn das Geld reicht.
Übrigens bin ich dafür, dass das Patriarchat zerstört wird. In diesem Sinn habe ich für Berlin Review eine Würdigung (Si apre in una nuova finestra) von Rainald Goetz als Abschied vom männlichen Genietum geschrieben.