Was ich nach Ostern erlebt habe
Hallo,
für diese Ausgabe meines Newsletters habe ich ein Video gedreht, geschnitten und mit Text unterlegt.
Zu Beginn ist alles schwarz, und ich sage:
Meine Mutter hört Stimmen. Operngesänge. Ein Bariton sagt ihr, dass sie das Haus verlassen soll.
Aufblende, Spätnachmittagssonne unter einem massiven alten Holztisch. Die Tischbeine sind furchterregende wurmstichige Sphinxen. Neben einer davon leuchtet blau ein freundlicher kleiner Oktopus aus Weichplastik.
Ich sage:
Ich bin mit meiner Lebensgefährtin in Italien und krieche bei ihren Eltern unter den Tisch. Ich suche den Bariton im Kopf meiner Mutter, aber ich finde nur Gespenster.
Dann ein harter Schnitt auf einen Hund im Gegenlicht auf Terrassenfliesen. Zwischen ihm und der Sonne stehen ein Rankgitter und ein Nadelbaum. Der Hund bewegt manchmal den Kopf, ein leichter Wind zaust ihm das Fell. Im dramatischsten Augenblick der Szene streckt der Hund eine Pfote aus.
Ich sage:
Menschen sterben, aber nicht hier. Dort, wo ich zufällig gerade nicht bin, geht es um Gewalt. Um die Herrschaft der Stärkeren über die Schwächeren. Um die Legitimation von Folter und Mord. Um die Pervertierung der Begriffe, die den Schutz Schwächerer begründen sollen, und ihre Funktionalisierung für das Zementieren von Gewaltherrschaft.
Schnitt auf die Blätter eines Unkrauts schräg von unten. Gräser drängen sich ins Bild, im Hintergrund ein Nadelbaum vor blauem Himmel. Die Blätter rascheln. Mehr nicht. Zeit vergeht. Ich sage:
Wo ich zufällig gerade bin, geht einfach nur langsam die Sonne unter. Es ist manchmal schwer zu verstehen, dass sich ein Ort finden lässt, an dem man die Welt ertragen kann.
Schnitt auf eine Hausfassade in der Abendsonne. Mit einem Satz springt eine Katze auf ein Fensterbrett und lässt sich dort nieder.
Schnitt auf Efeublätter im Schatten, unscharf im Vordergrund. Dahinter Gestrüpp, und durch das Gestrüpp blickt man auf einen kleinen, von der Sonne beschienenen Fluss. Wasser fließt über Steine. Mehr nicht. Zeit vergeht. Ich sage:
Hinter dem Haus gibt es einen Fluss. Macht, Kampf, Krieg und Sieg sind dem Fluss egal.
Dann Schnitt auf meine Hand vor der Handykamera, ich richte die Kamera ein. Als ich die Hand wegziehe, sieht man dahinter den Hund, der wachsam am Tor steht, den Blick nach rechts gerichtet. In der Ferne hört man Hunde bellen. Der Hund blickt zu mir hinüber, dann setzt er sich und blickt wieder wachsam nach rechts. Ich sage:
Der Hund wartet auf den Angriff des iranischen Regimes auf Israel.
Der Hund wendet sich ab und läuft aus dem Bild. Ich sage:
Der Angriff ist erfolgt.
Man sieht meine Hand, die die Kamera wieder einsammelt.
Schnitt auf eine Landschaft. Im Vordergrund ein Eisenmast mit der Nummer 44, eine Böschung. Dahinter eine Wiese mit einer Art Käfig und einem Schuppen. Dann ein Strommast, ein Acker, Bäume, Hügel, höhere Hügel, blauer Himmel, Schleierwolken. Stimmen. Viel Zeit vergeht. Dann bewegt sich der Eisenmast mit der Nummer 44 plötzlich langsam nach links, weil wir in einem Zug sind und der Zug anfährt.
Ich sage:
Ich mache mich zu meiner Mutter auf, in deren Kopf noch immer der Bariton singt. Ich werde begleitet von Tourist*innen, die in eine Stadt reisen, die sie auf ihrer Liste abhaken müssen, oder die diese Stadt wieder verlassen.
Auf meiner Reise steige ich in vier Züge, ein Taxi, ein Flugzeug und eine S-Bahn und schlafe eine Nacht in einem fremden und eine Nacht im eigenen Bett. Als ich ans Ziel komme, liegt bei meiner Mutter auf dem Teppich ein toter Vogel.
Schnitt auf einen von der Sonne ausgeblichenen Perserteppich mit einer toten Blaumeise darauf, wie aufgebahrt. Die Kamera fährt ein Stück um sie herum.
Schnitt auf eine Landschaft. Eine Wiese an einem Hang, hinten Olivenbäume. Hinter den Bäumen steigt aus einem Feuer gelblich weißer Rauch auf.
Die gleiche Rauchfahne aus größerer Nähe. Wütend wallender Rauch hinter den Bäumen.
Eine andere Perspektive aus noch größerer Nähe. Der Rauch zieht auf die Kamera zu, über die Olivenbäume hinweg und zwischen ihnen hindurch, bis er sie fast verschluckt.
Ich sage:
Dort, wo ich in Italien war, haben alle ein paar Olivenbäume hinter dem Haus. Als ich dort war, wurden sie gerade beschnitten. Das Altholz wird verbrannt. Der Rauch zieht an einen Ort, den ich nie erreichen werde oder an dem ich immer schon bin.
Abspann.
Teil dieses Videos ist auch alles, was nicht darin vorkommt, z.B.:
die Fremdscham angesichts von Instagram-Persönlichkeiten, die mit einer einzigen, unablässig wiederholten Botschaft aus politischen und menschlichen Schrecken den größtmöglichen Nutzen für sich schlagen;
die Erfahrung, dass im Wahnsystem der Überkommunikation alles in Wahn verwandelt wird, was man hineingibt, auch wenn es vernunftbasiert ist, und die Bewunderung für alle, die es trotzdem weiter mit Vernunft versuchen;
die Frage, für wen Christian Lindner arbeitet;
der Wunsch, selbst Stimmen zu hören, einen Mezzosopran vielleicht, der mir etwas singt, es muss ja kein Bariton sein; die Sehnsucht, mich einem Wahn in die Arme zu werfen, einem der vielen fertig bereit stehenden – was ist die Mehrzahl von Wahn? - oder einem ganz auf mich zugeschnittenen, von einer AI vielleicht, oder einzuziehen in ein selbstgezimmertes Wahngebäude, es gibt große Vorbilder in der Literatur, im Kino, in der Oper;
das Problem, dass sich Herrschaftsfreiheit nicht durchsetzen lässt, weil ihre Durchsetzung schon wieder Machtausübung wäre, dass sie also nur zu erreichen wäre, wenn alle gleichzeitig freiwillig auf ihre reale oder eingebildete Macht verzichten, was Christian Lindner bestimmt nur vortäuschen würde, und dann könnte es passieren, dass man aus Versehen die ganze Macht Christian Lindner gibt;
meine große, große Sehnsucht zu kommunizieren, indem ich schweige.
Der Hund in meinem Video heißt übrigens Iggy.
Danke für’s Lesen, danke für’s Abonnieren, danke für’s Bezahlabo abschließen, wenn das Geld reicht! Übrigens bin ich der Meinung, dass das Patriarchat zerstört werden muss.