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Amsel

https://www.youtube.com/watch?v=BZQSryQWcpU (Si apre in una nuova finestra)

Hallo,

es ist Sonntag, zehn nach sechs am Morgen, und das Licht ist noch grau. Gestern habe ich auf dem Balkon gesessen, den ich mir mit den Vögeln teile. Die Amsel ist gekommen, und ich habe erst nur ihren Schnabel hinter dem Blumentopf gesehen, nach dem scharrenden Geräusch ihrer Landung.

Sie hat mich angeguckt, lange, dann ist sie zur Vogeltränke gehüpft, hat sich hinein gesetzt und gebadet. Dann hat sie sich geschüttelt, ist wieder ausgestiegen und hat sich geputzt, lange, ganz am Rand der Brüstung, mit dem Rücken zu mir.

Das ist ein Fortschritt. In den Tagen zuvor hat sie im Baum gesessen und gemeckert, sobald ich auf den Balkon gekommen bin. Jetzt teilen wir uns das Territorium. Dass es ihr Territorium ist, demonstriert sie durch Furchtlosigkeit. Von der Brüstung aus überblickt sie den ganzen Hof, den sie beherrscht. Ich werde geduldet, in ihrem Rücken. Mehr verlange ich nicht. Ich erkenne ihre Ansprüche an.

Auf meinem Computer hat sich eine groteske Anzahl von Newsletter-Anfängen und Entwürfen angesammelt, aber ich habe für keinen dieser Anfänge einen Mittelteil oder ein Ende gefunden. Vielleicht poste ich in Zukunft einfach jedes Mal einen Link zu einem Video, auf dem ich in die Selfiekamera gucke und schweige. Irgendwann kann ich auch anfangen, etwas vorzulesen, zum Beispiel eines meiner Lieblingsbücher, das den Titel „Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige“ trägt.

Für mein Gefühl ist alles gesagt, seit vielen Sonntagen. Es ist alles durchanalysiert. Ich kann nicht erkennen, dass die Gefahrenanalysen irgendeine Wirkung hätten. Der Typus des alten Sacks, der aus Trotz extra lange duscht, wenn das Wasser knapp wird, hat sich politisch auf ganzer Linie durchgesetzt. Kubicki, Merz, Trump, wo ist der Unterschied? Angesichts der Raserei der sogenannten Mitte kommt einem die AfD fast schon lächerlich vor. Irrelevant. Von der Mitte in ihrem Wahn rechts überholt. Der Weltuntergang wird ein Autounfall: Ein Greis in einem SUV will sich nicht von der Baustelle bremsen lassen, schert auf die Fahrradspur aus und rast in die Mutter mit dem Kind.

Es ist Sonntag, zehn nach sieben, schon heller, und die Vögel im Hof sind unruhig. Alles voller Hormone, die Elstern knipsen sich zum Nestbau tote Zweige von von Bäumen. Ich würde mich gern bei der Tierwelt für die Menschheit entschuldigen. Es tut mir sehr, sehr Leid. Aber auch die Tierwelt muss sich Fragen stellen: Wenn die Säbelzahntiger damals ein bisschen entschlossener gewesen wären und sich gar nicht erst auf Diskussionen eingelassen hätten, wäre der Welt viel Leid erspart geblieben.

Was uns Menschen angeht, fürchte ich: Was wir befürchten, ist alles schon eingetreten. Ich kann mir jedenfalls im Moment nichts anderes mehr vorstellen. Die von der Hamas in die Welt gebrachte Finsternis hat mir den Geist verfinstert, wie bei einem Vulkanausbruch vielleicht, der auf der anderen Seite der Welt den Himmel verdunkelt, und ich kann nur warten, bis der Rauch sich verzogen hat. (Und nein, ich möchte nicht darüber diskutieren, von wem die Gewalt ausgeht.)

Sonntag, halb zehn, die Sonne scheint. Eine Amsel badet, die andere springt durch die Pflanzkübel und zerrupft alles, was sie in den Schnabel bekommt. Ich sehe von drinnen zu.

Viele haben mir den Film über die Krähen empfohlen, der vor einer Weile in den Kinos war, meiner Krähenfreundschaften wegen. Aber das wollte ich nicht - ich fand die Bilder im Trailer zu glatt und den Werbeclaim, wir könnten von den Vögeln etwas über UNS lernen, zu eitel. Ich interessiere mich wirklich nicht für mich selbst, wenn ich mir ein neues Spiel für die Krähen ausdenke und ihnen die Erdnüsse in einer Dose verstecke, die ich mit einem alten Notizzettel abdecke und innen auf die Fensterbank stelle, so dass sie einen Schritt in die Wohnung machen müssen. Sie kommen dann und schleudern den Zettel mit dem Schnabel auf die Straße; ich hatte mir ein paar wichtige Passwörter darauf notiert.

Das mit den Krähen ist eine Beziehung, die für beide Seiten auf ganz merkwürdige Weise nicht funktioniert, die aber beide anhaltend neugierig macht und an der beide jetzt seit über drei Jahren festhalten. Vielleicht sollte man von menschlichen Beziehungen auch nicht mehr erwarten.

Während ich das Amselvideo gesucht habe, mit dem dieser Newsletter beginnt, hat YouTube mir immer wieder DIE BESTE REDE SEINES LEBENS VORGESCHLAGEN, SPRACHLOS REDE! – PETER HAHNE SAGT UNFASSBARES, von einem Kanal, der Mental Fitness heißt. Ich habe mich trotzdem für die Amsel entschieden, eine andere Art Rede. Das Video zeigt acht Stunden lang eine singende Amsel, mehr nicht, und man sollte es sich von Anfang bis Ende angucken. Es gibt so viel, was man dabei vergessen kann.

Ein Film, der eine ähnliche Wirkung auf mich hat, aber ganz und gar in der Großstadtnatur spielt, in einer fernen Vergangenheit, ist „News from Home“ von Chantal Akerman:

https://www.youtube.com/watch?v=6ai73JORZfI (Si apre in una nuova finestra)

Und damit möchte ich für heute schließen.

Danke für die Geduld beim Warten auf diese Lieferung. Danke fürs Lesen, danke fürs Bezahlabo abschließen, wenn das Geld reicht.

Übrigens bin ich der Meinung, dass das Patriarchat zerstört werden muss.

Es ist Sonntag, halb elf und sehr hell.

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