Ohne Titel
Hallo,
ein Titel fällt mir diesmal nicht ein. Das heißt, mir ist ein sehr lustiger Titel eingefallen, sogar mit Alliteration, aber mir ist gerade nicht lustig. Bilder habe ich in den vergangenen Tagen zu viele gesehen, und viele davon hätte ich lieber nicht gesehen, deshalb dies:
I. Gewalt
Bei mir im Park steht an der Wand der Wall-Bezahltoilette FUCK und dann der Name eines Landes, der aber schon orange-leuchtfarben übersprayt worden ist, und jetzt sieht es ganz schick aus. Ich habe es fotografiert, möchte es aber nicht zeigen. Am anderen Parkausgang steht auf einer Plakatwand NO FIRE FOR ANTISEMITISM – BRUNNENSTR LEBT. Ich habe es fotografiert, möchte es aber nicht zeigen.
Weiter oben in der Brunnenstraße ist das orthodoxe jüdische Gemeindezentrum, an dem ich auf dem Weg zum Baumarkt immer vorbeikomme und auf das der Brandanschlag mit Molotowcocktails versucht wurde, ein Versuch, der nicht verhindert werden konnte, und auch die Täter konnten weglaufen und wurden nicht gefasst. Die Berliner Polizeipräsidentin erklärte daraufhin: „Das Schutzkonzept greift.“ Kann man so und so sehen. (Hier in der Gegend wird übrigens oft Richard David Precht gesichtet, den ich nie fotografiere, weil er immer so aussieht, als würde er darauf warten; er hätte natürlich jederzeit mal bei dem Gemeindezentrum vorbeigehen und sich über orthodoxes Judentum informieren können. Auch allem nach dem Anschlag, aus Solidarität.)
Wo sie nicht mehr fußläufig erreichbar waren, sind mir die Ereignisse der letzten Wochen auf Mastodon und auf Bluesky begegnet. Das stimmt nicht, erlebt habe ich sie vor allem via Instagram-Storys und -Reels, aber der Vergleich zwischen Mastodon und Bluesky war, bevor das Massaker der Hamas vom 7. Oktober kam, ein großes Thema, und ich wollte es unterbringen, jetzt unterbricht mich aber Mastodon mit dem Interview mit einem französischen Journalisten (Si apre in una nuova finestra), der die Leichen der Opfer des Massakers gesehen hat:
Vom ersten Tag an war mir klar, dass es hier nicht nur um den Krieg ging, sondern auch um Menschen, die an einer Bushaltestelle massakriert wurden, um alte Frauen. Alle möglichen Verbrechen wurden begangen. Das wurde mir vor Ort auch gesagt: "Alles, was möglich war, wurde getan". Butscha [in der Ukraine] zum Beispiel war ein absoluter Gewaltausbruch zu einem bestimmten Zeitpunkt. Aber weniger an der restlichen Front.
Hier war es so, als hätte es einen generellen Befehl gegeben, so viel wie möglich zu foltern. Ob es alle Zeugenaussagen vom Musikfestival sind, alle Zeugenaussagen aus den Kibbuzim, sie sind immer gleich. Es gab ein sadistisches, perverses Spiel, um Menschen leiden zu lassen. Dieses Phänomen eint alle Kriege, aber nicht in diesem Ausmaß, an einem einzigen Tag. In diesem Fall war es ein Massaker.
Zwei Bilder sind aus den vergangenen zwei Wochen bei mir hängengeblieben. Das eine zeigt eine deutsche Frau, die eine Fahne mit einer Wassermelone darauf schwenkt, rot, weiß und grün, also in den Farben der palästinensischen Fahne. Vor einem Mikrophon, andere Sprecher neben sich, auf der Kundgebung einer offensichtlich für ein Insta-Reel gefaketen Demonstration. Auf dieser Nicht-Demonstration schenkt sie dem palästinensischen Volk listig die Wassermelonenfahne, weil die Berliner Polizei ihnen ja das Zeigen der gleichfarbigen eigenen Fahne verboten habe.
Das andere ist das Bild eines Rechtsanwalts und Strategieberaters, der angibt, einmal Pressesprecher des Bundesjustizministeriums gewesen zu sein, und in einem Tweet palästinensische Demonstranten, die den Israel-Vernichtungsslogan „From the river to the sea“ rufen, sofort vor eine „Phalanx von Polizisten mit gezückten Schlagstöcken“ gestellt sehen will.
Ich weiß nicht, was größeren Grusel in mir auslöst, die Wassermelonen- oder Schlagstock-Geste. Die Herablassung deutscher Palästinenser-Befreiungsfantasien oder die sadistischen Bestrafungsfantasien deutscher Männer in besserer Stellung.
Bei der Verarbeitung des gegen meinen Willen erworbenen Wissens über das Massaker der Hamas und meines Schreckens darüber, mit wie viel Wuppdich Teile der deutschen Linken sofort ihre anti-israelischen und antisemitischen Parolen aus dem Schrank geholt haben, hilft mir das Strammstehen der deutschen Staatsführung in Solidarität mit Israel nicht wirklich. „Paternalistischen Philosemitismus“ haben jüdische Unterzeichner*innen eines Apells (Si apre in una nuova finestra) das genannt, in dem sie fordern, Palästinensern in Neukölln vielleicht doch ihr Demonstrationsrecht einzuräumen. Wenn es dann ausgeübt wird, dieses Demonstrationsrecht, sehe ich bedrückende, erschreckende Gewaltbereitschaft, was nicht bedeutet, dass es nicht ausgeübt werden sollte. Die inzwischen offen zutage tretende verbale Gewaltbereitschaft der sich auf die Machtübernahme vorbereitenden CDU bei ihren Versuchen, die AfD rechts zu überholen, macht mir sehr viel mehr Angst. Und das ist ja nun die Strategie: Anschluss an Trump, Le Pen und Orbán finden, bevor die AfD einen bei diesem Wettlauf schlägt. Das wird es sein, was die neue „Mitte“ bestimmt: Unterwerfung unter die Gewaltherrschaft, um sich das Privileg zu erhalten, selbst Gewalt ausüben zu dürfen.
„Es ist nicht fünf vor zwölf. Wir sind bereits mit dem Mittagessen durch, und der Tisch wird gerade abgeräumt“, hat der Fernsehunterhalter Hape Kerkeling kürzlich zur Lage der Nation erklärt, und ich ergänze das mit dem Foto einer Seite aus einem Buch von Timothy Snyder, das mir auf Bluesky zugespielt wurde (das Buch heißt „On Tyranny“).
II. Kommunikation
Ein paar Tage nachdem ich bei Bluesky aufgeschlagen bin, machte Elon Musk auf TwittiX Werbung für die AfD, und plötzlich setzte ein Exodus deutscher Medienpersönlichkeiten ein. Plötzlich schlugen sie alle im Bluesky-Exil auf, als würden sie in Davos aus dem Hubschrauber purzeln, klopften sich die Pelzmäntel ab, riefen nach Champagner, weinten um die verlorenen Followenden und freuten sich, dass sie wenigstens nicht bei Mastodon gelandet waren.
Ich war schon ins Exil gegangen, als Musk Twitter endgültig in Besitz genommen hatte. Ich war auf Mastodon gelandet, dem Netzwerk, das sich für etwas Besseres hält. Ich hatte mich dort durchgekämpft, das war nicht leicht – auf Mastodon muss man sich seine Parzelle Land selbst roden. Was wissen diese Bluesky-Neulinge schon, die sich für etwas Besseres halten? Sie haben ja nichts erlebt!
Bluesky, mit den Neuen: Die halbe Zeit trauern sie dem alten Twitter nach und bestätigen einander, dass es richtig war, dort jetzt gegangen zu sein (nachdem Nero schon drei Viertel von Rom abgebrannt hatte, na ja, kann man so und so sehen). Die andere Hälfte der Zeit bestätigen sie einander, dass es auf Bluesky besser ist als auf Mastodon, wo immer so viel mansplaint wird, wie sie einander auf Bluesky mansplainen.
Und die dritte Hälfte der Zeit über wird dort darüber diskutiert, wie „wir“ hier miteinander kommunizieren sollen. Mitten in diesem unkontrollierbaren Messagingmix aus spontanen Mitteilungen zum Befindlichkeitsstatus und politischen Schnelleinschätzungen, aus Eigenwerbung für das neue Buch (oder die neue Ausgabe des Newsletters) und Wolkenfotos, der jedes gut funktionierende soziale Netzwerk ausmacht. Wer ist denn das „wir“, das sich an diese Regeln hält.
Die Hauptvereinbarung lautet dabei, dass das Böse totgeschwiegen werden muss: Das skandalöse neue Interview von XY auf Z soll man nicht zitieren, nicht verlinken, XY soll man nicht abbilden. So ist meine Timeline ein Ort des Raunens und der Andeutungen geworden: Was XY da wieder von sich gegeben hat, war natürlich skandalös! Aber kein Hinweis darauf, was genau XY gesagt hat und wo. Keine Chance, Quellen zu recherchieren, Aussagen zu veröffentlichen, um sie kritisierbar zu machen und ihnen etwas entgegenzusetzen.
Die Theorie dahinter besagt, dass jeder Klick und jede Abbildung des Bösen dem Bösen nützen, weil das Böse sich von Aufmerksamkeit in all ihren Formen ernährt. Dass das Böse unkritisierbar geworden ist, weil auch Kritik es weiter aufbläht. Das bedeutet aber auch, dass man sich der Vorstellung von Social Media als dämonischem Aufmerksamkeitsmoloch völlig ergeben hat. Den Gedanken, dass Social Media ein Mittel sein könnte, kritische Öffentlichkeit herzustellen, hat man aufgegeben.
Vielleicht hat man ja Recht. Aber es hat Konsequenzen. Es markiert ein Einverständnis mit der Auflösung einer Form von aufgeklärtem Diskurs, über den die offene Gesellschaft sich einmal zu verständigen beschlossen hatte. Aber wahrscheinlich ist das sowieso schon gelaufen und ich habe hier einen Boomer-Moment. Und es ist damit wie mit der Einführung autoritärer Herrschaft: Wenn genug Menschen sich so verhalten, als müsse man sich der Aufmerksamkeitsökonomie unterwerfen, dann herrscht sie. Also herrscht sie.
Ich finde es auf Bluesky übrigens lustiger als auf Mastodon. Was mir ein Rätsel ist – Mastodon ist nicht kompliziert und Bluesky hat Mastodon technisch nichts voraus. Aber auf Bluesky haben die Menschen am Kommunizieren offenbar einfach mehr Spaß, und Mastodon hat irgendetwas in den Knochen, das wie ein Verbot des Spielerischen wirkt.
III. Danke
Danke fürs Lesen, danke fürs Abonnieren und danke fürs Bezahlabo Abschließen, wenn das Geld reicht. „Wassermelonen und Wahn“ war der Titel für diese Ausgabe, den ich mir verkniffen habe. Dies ist ein Newsletter mit kleiner Reichweite, der aber von den Abonnierenden in wirklich hoher Prozentzahl auch tatsächlich gelesen wird. Davon fühle ich mich sehr geehrt.
Bitte macht in eurem Messagingmix auf Bluesky, Mastodon, Instagram (aber nicht auf Twittix) Werbung für mich. Und wenn es mehr Bezahlabos werden, freue ich mich, die Inflation frisst meine Kinder. Nein, ich habe gar keine Kinder, aber die Inflation nagt an mir, so wie sie an uns allen nagt, neben allem, was da sonst noch nagt. Danke!