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Ein schriller Pfeifton

Hallo,

ich habe das irgendwo schon mal aufgeschrieben, aber ich weiß nicht mehr wo:

Am 11. September 2001 klingelte in meiner Dachgeschosswohnung in der Rosa-Luxemburg-Straße in Berlin das Telefon. Die Frankfurter Rundschau war am Apparat und wollte wissen, wo meine Lebensgefährtin sei. Meine Lebensgefährtin war eine New Yorkerin, die in der Rundschau eine Kolumne hatte. Jetzt sei in New York etwas passiert, und man könne sie nicht erreichen.

Ich konnte sie auch nicht erreichen. Ich schaltete den Fernseher ein. Eine Freundin kam vorbei, wir kifften und sahen uns an, wie der zweite Turm des World Trade Centers in sich zusammen stürzte.

Es stellte sich heraus, dass meine Lebensgefährtin im Krankenhaus war. Sie hatte dort ein paar Wochen später einen Termin für eine Routineuntersuchung. Als der Anschlag begann, hatten alle Krankenhäuser in New York sich auf einen Ansturm Schwerstverletzter vorbereitet. Aber fast alle Opfer waren sofort tot. Deshalb hatte das Krankenhaus meine Lebensgefährtin angerufen, sie könne jetzt sofort kommen, man habe Zeit.

Lower Manhattan, ein Blick über eine Menschenmenge hinweg, am Ende einer Straße sieht man Trümmer des World Trade Centers, Rauch hängt in der Luft.

Diese Fotos habe ich Anfang Oktober 2001 in New York gemacht, an der Absperrung vor den Trümmern, die noch immer qualmten. In der U-Bahn saßen von weißem Staub bedeckten Feuerwehrleute, und ich wusste, dass es auch Leichenstaub war.

Am Fernseher in meiner Dachstube war ich überzeugt, dass wir vor einem neuen dunklen Zeitalter stehen, und ich glaube, dass ich Recht behalten habe. Osama bin Laden zu finden, umzubringen und seine Leiche aus einem Hubschrauber ins Meer zu werfen, hat nichts wieder gut gemacht.

Am 7. Oktober 2023 hat die Hamas das Erfolgsrezept von bin Laden noch einmal benutzt: mit einem Schlag so viel sadistische Gewalt in eine Gesellschaft zu injizieren, dass sie sich aus einem Automatismus männlicher Machtinstinkte heraus selbst zerstört. Ich blicke auf die Bilder von den qualmenden Trümmern und sehe überall nur Lust auf noch mehr Zerstörung, bis tief in meine eigene Gesellschaft hinein.

Während ich dies schreibe, sehnt die Regierung meines Landes sich nach Auflösung. Der Oppositionsführer treibt sie vor sich her; das ist ein Mann, der im Aufstieg einer Nazipartei nichts anderes sieht als seine eigene Gelegenheit zur Machtergreifung. Er will das Land mit einem Kabinett aus Opportunisten und Hasardeuren führen, nur seine Partei soll noch übrig bleiben. Die Injektion von Gewalt in eine Gesellschaft aktiviert die männlichen Machtinstinkte. Die Regierung versucht, den Rassismus der Nazipartei in vorauseilendem Gehorsam zu übertrumpfen, und die Opposition möchte den Rechtsstaat einstampfen. Nicht irgendwie verklausuliert, sondern ganz offen.

Was mich dabei besonders beeindruckt: Das System ist keinem rationalen Argument mehr zugänglich. Es hat begonnen, Rationalität offen zu verachten. Die Selbstzerstörung läuft auf Autopilot.

Lower Manhattan, Passant*innen vor einer Absperrung, am Ende einer Straße sieht man Trümmer des World Trade Centers, Rauch hängt in der Luft.

Auf Instagram übt Kommunikationswissenschaftlerin und Linguistin Nadia Zaboura in ihren Storys Medienkritik. Bisher hat sie sich vor allem die Auswirkungen der „Staatsräson“-Doktrin der Bundesregierung im Verhältnis zu Israel auf die Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk vorgenommen. Sie weist überzeugend nach, dass sie katastrophal sind, und zwar en detail – Teaser für Teaser, Anmoderation für Anmoderation. Ihre Aufmerksamkeit gilt jedem einzelnen Satz, und sie setzt alles ins Verhältnis zur internationalen Berichterstattung, gemeinsam mit einer sehr lebendigen Followendenschaft.

Gegen Intellektuelle und Wissenschaftler*innen (also Menschen, die glauben, dem Land mit ihrem Wissen und der Einführung komplexerer Gedanken helfen zu können) fährt die deutsche Politik eine Zermürbungsstrategie - durch permanente Verächtlichmachung von allem, was über im ZDF-Fernsehgarten konsumierbare Affekte hinausgeht. Bei mir hat es funktioniert. Ich bin zermürbt. Ich bin überzeugt, dass ein politischer Diskurs über Querdenkerniveau in Deutschland nicht gewollt ist und dass dieser Konsens so breit ist, dass Widerstand nicht mehr lohnt.

Aber vielleicht ist das völlig falsch. Vielleicht ist die fürsorgliche Belagerung des Systems nach Art von Nadia Zaboura ein gangbarer Weg. In dieser beinahe buchhalterischen Beharrlichkeit und Genauigkeit. Sie hat einmal geschrieben, sie sei dafür kritisiert worden, eine „zu hohe Stimme“ zu haben; das heißt: sie nervt. Vielleicht ist das die Lösung: nerven, mit erhobenem Zeigefinger. Ab heute wird zurückzermürbt.

Unscharf: Ein Mann in einer gelben Öljacke mit Schirmmütze und Atemschutzmaske, rechts am Haus ein Baugerüst, daran die Stars and Stripes, hinten Kräne, Dunst.

Mir fällt dazu ein, dass Städte immer wieder versuchen, Obdachlosen an öffentlichen Orten den Aufenthalt mit einem schrillen Peifton unterträglich zu machen. Vielleicht sollte man das umdrehen und nicht mehr als Folter für Schwächere einsetzen, als Tritt nach unten, sondern als Tritt nach oben. Vielleicht sollte man das „Zabouren“ nennen: Demokratie-Aktivismus durch einen schrillen Dauerton, der die Unterkomplexität und Dummheit aus unserem Gemeinwesen vertreibt, und die Verliebtheit der Macht in die Dummheit gleich mit. Die Androhung, zabourt zu werden, würde Friedrich Merz erzittern lassen. Ich fühle hier ein leises Kamala-Harris-Echo. Und in der Situation, in der wir uns befinden, würde ich mich jeder Bewegung anschließen, die die herrschenden Machtverhältnisse mit hohen, nervigen Pfeiftönen stört.

( „Medienkritik von Nadia Zaboura“ ist für den Publikumspreis des Grimme Online Award nominiert, und man kann noch bis einschließlich 3. Oktober hier für sie voten (Si apre in una nuova finestra), ich habe es schon getan.)

Danke fürs Lesen, danke fürs Abonnieren, danke fürs Mitgliedschaft abschließen, wenn das Geld reicht.

Übrigens bin ich der Meinung, dass das Patriarchat zerstört werden muss.

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