Queerer Kanon #8: Rafael Chirbes im Fokus und Neuerscheinungen
Liebe Leser*innen,
mit etwas Verspätung startet auch der Queere Kanon? ins neue Jahr. In diesem Jahr erwarten uns einige spannende neue queere Bücher, unter anderem von Linus Giese (Si apre in una nuova finestra), Eva Tepest (Si apre in una nuova finestra), David Santos Donaldson (Si apre in una nuova finestra) und Constance Debré (Si apre in una nuova finestra).
In der ersten Ausgabe des Jahres widmet sich Marlon den Tagebüchern des spanischen Autors Rafael Chirbes, die Ende letzten Jahres zum ersten Mal auf Deutsch erschienen sind. Chirbes galt als einer der wichtigsten Gegenwartsautor*innen des Landes und hat mit seinem letzten Roman Paris-Austerlitz, den Tobi euch vorstellt, ein beeindruckendes Werk der HIV-/AIDS-Literatur vorgelegt.
In unserer Out & Proud-Rubrik stellen wir euch neue und aktuelle Titel von Alejandro Varela, Dino Pešut, Alex Espinoza und Saul Friedländer vor. Zum Schluss verweisen wir in Queere Freuden noch auf einen Artikel sowie einen Newsletter.
Ausnahmsweise wird in dieser Ausgabe nur Lieratur von cis-gender Autoren besprochen (die aber intersektional zusammengestellt sind). Das ist reiner Zufall, da einige der geplanten Titel noch nicht verfügbar waren oder wir uns noch mitten in der Lektüre befinden. Dementsprechend wird sich die Zusammensetzung in der nächsten Ausgabe wieder ändern.
Wie immer freuen wir uns auf euer Feedback, eure Fragen, Vorschläge und Kommentare.
Tobi & Marlon
Rafael Chirbes Tagebücher und Paris-Austerlitz
Mit Von Zeit zu Zeit sind die Tagebücher des spanischen Schriftstellers Rafael Chirbes (1949 – 2015) erschienen. Sie decken den Zeitraum zwischen 1983 und 2005 ab und erzählen vom Nachtleben in Madrid, von Sex, Alkohol und Drogen, aber auch vom Schreiben, den ständigen Selbstzweifeln und immer wieder von der rettenden Kraft der Literatur.
Die Tagebücher sind zweigeteilt: Teil 1 deckt die Jahre zwischen 1984 und 1992 ab, Teil 2 1995 bis 2005. Dass es in den Tagebüchern diese klaffende Lücke gibt, hat verschiedene Gründe. Einer von ihnen ist der Tod von François, einem langjährigen Geliebten von Chirbes.
Die Beziehung ist intensiv und leidenschaftlich, aber auch von Momenten der (Selbst-)Erniedrigung geprägt. Alkoholexzesse und Eifersuchtsszenen wechseln sich ab, verkompliziert durch die Distanz zwischen Spanien und Frankreich. François will seinen Geliebten in den Abgrund mitreißen, denn im Gegensatz zu ihm hat er keinerlei Ambitionen:
„Seine Hingabe, seine Nervosität erschrecken mich. Als ob unsere Beziehung alle Lücken seines Lebens, die außerhalb der Arbeit bleiben, ausfüllte. Ich erkläre ihm, dass dies nicht so ist, nicht sein darf, insbesondere wenn man bedenkt, dass wir mehr als tausend Kilometer voneinander entfernt leben.“
Chirbes hat die Beziehung und den Tod des langjährigen Geliebten in dem posthum veröffentlichen Roman Paris-Austerlitz (ebenfalls von Dagmar Ploetz aus dem Spanischen übertragen) verarbeitet. In diesem flüchtet ein junger Maler vor seiner gutbürgerlichen Familie von Spanien nach Frankreich, wo er sich in Michel verliebt, einen Arbeiter Mitte 50 – der wie auch François an AIDS sterben wird.
Dass Chirbes einen Teil der Tagebücher nachträglich als Ein Zimmer in Pari betitelt, zeigt, inwiefern die Kunst das Leben und das Leben die Kunst beeinflussen, denn die Parallelen zu James Baldwins Giovanni’s Room sind offensichtlich, etwas, das Chirbes bereits während seiner Beziehung zu François gespürt haben muss, erwähnt er doch die Lektüre von Baldwins Roman.
Als der Roman 2016 veröffentlicht wurde ging die Süddeutsche Zeitung in ihrer Rezension so weit, vom literarischen Coming Out Chirbes zu sprechen. Dabei hatte er aus seiner Sexualität nie ein Geheimnis gemacht. Sowohl sein Debüt, die Novelle Mimoun (aus dem Spanischen von Elke Wehr), als auch sein vierter Roman (wenn hier auch nur peripher) Der Schuss des Jägers (ebenfalls von Elke Wehr übersetzt) thematisieren Homosexualität. Chirbes selbst war an Homosexualität als literarischem Thema allerdings nur wenig interessiert:
„Nichts davon interessiert mich als Literatur – (…) Schwule sollen heiraten (in Kürze wird das möglich sein) und öfter zum Baggern in die Sauna oder in Kneipen gehen, oder noch besser: Sie wollen nirgendwohin gehen und lieber versuchen, mit den Nachbarn zu vögeln, die ihnen gefallen, denn letzten Endes ist das die einzige wirklich wünschenswerte Normalität.“
Auch deswegen wäre es wohl zu kurz gegriffen, Paris-Austerlitz beispielsweise als schwule Literatur zu bezeichnen. Denn auch wenn das Buch eine schwule Liebe und AIDS thematisiert, steht vor allem ein Thema im Vordergrund – die Grenzen der Liebe.
Das heißt aber nicht, dass Chirbes sich in den Tagebüchern bei der Schilderung seiner Sexualität zurückhalten würde: „In vier Tagen haben wir nicht voneinander gelassen. Ich hätte nie gedacht, dass man so viel vögeln kann und mit so viel Lust. »Je suis fou«, sagt er. Ein Franzose kann so etwas sagen. Ich denke es: Ich bin auch verrückt, auf meine Weise, wir riechen nach all den Säften und Flüssigkeiten, die der menschliche Körper in sich birgt. Egal, duschen können wir auch später.“
Wir begleiten Chirbes bei seinen Streifzügen durch Kneipen, die oft einem Exzess aus Alkohol und Drogen gleichen, sind dabei, wenn die Nacht mit Poppers und Sex endet.
All das gerät im zweiten Teil der Tagebücher in den Hintergrund. Hier dominiert das Schreiben – beziehungsweise die Unfähigkeit zu schreiben. Chirbes wird immer wieder von Selbstzweifeln und schwersten Depressionen geplagt. Die Anpassung seiner Umgebung an bürgerliche Ideale mit dem Ende der Franco-Diktatur ruft in ihm vor allem Wut und Verachtung hervor.
Denn Chirbes stammt aus einer proletarisch-republikanischen Familie, der Marxismus prägte seine Jugend. Entsprechend ist seine Einstellung gegenüber dem Literaturbetrieb und vor allem der Literaturkritik, die er als bürgerliche Institution betrachtet:
„Es gibt kein Heilmittel gegen die Klassenherkunft, nicht einmal Geld oder soziales Prestige. Das erstaunt mich nicht. Als Materialist weiß ich, dass die Seele ein Abbild der Umstände ist, ein komplexes Geflecht aus Formen, Tabus, Hoffnungen, Misstrauen und Groll, das sich in der frühen Kindheit herausbildet. Sie ist eine Komposition, eine Kombination aus Materialien, aber auch eine Wunde, gegen deren Schmerz du dich wehrst, und sogar vor deinen eigenen, klassenlosen Kindern zeigst du die Krallen eines Tieres von unten.“
Schlussendlich ist es aber immer wieder die Literatur, die Chirbes rettet. In ihr findet er, wenn keine Antwort, so doch immer einen Weg, eine Richtung. Das liest sich mitunter durchaus amüsant, denn der Autor ist nicht eitel. Er hinterfragt die eigene Erfahrung und das Alter, versucht auch durch die Lektüre von jungen Stimmen das aktuelle Geschehen in der Literatur zu begreifen.
Wer sich nicht mit dem Werk des Spaniers auskennt, braucht die Lektüre der Tagebücher dennoch nicht zu scheuen. Denn Chirbes selbst hat sich eine Veröffentlichung gewünscht und seine Schriften entsprechend vorbereitet. Darüber hinaus liefert das sehr kluge und informative Vorwort von Heinrich von Berenberg ausreichend Kontext, um Leser*innen den Einstieg zu ermöglichen.
Die Tagebücher laden vor allem aber dazu ein, das Werk dieses viel zu unbekannten Schriftstellers kennenzulernen. Ein Großteil seiner Romane ist im Verlag Antje Kunstmann erschienen, wo parallel zu den Tagebüchern auch die gesamte Spanien Trilogie, bestehend aus Der lange Marsch, Der Fall von Madrid und Alte Freunde (aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz), veröffentlicht wurde. (Marlon)
Vincennes, im Großraum Paris, Mitte der 1980er-Jahre: Ein junger spanischer Maler aus einer gutbürgerlichen Familie verliebt sich in den 30 Jahre älteren Arbeiter Michel. Ihre Liebe ist stürmisch und exzessiv. Sie trinken und haben Sex, wann immer sich ihnen die Möglichkeit bietet. Die kleine Hinterhofwohnung Michels, gerademal von einem dunklen Fenster beleuchtet, wird zu ihrem Nest.
Doch die räumliche Enge, die anfangs so verlockend und beschützend war, greift auf die Beziehung über. Michels Vorstellung des Zusammenlebens gleicht einer Symbiose, ein ineinander Aufgehen, das dem Erzähler die Luft abzuschnüren droht. Sie geht so weit, dass er den Wunsch des Protagonisten, aufgrund der HIV- und AIDS-Krise Kondome zu verwenden, als Affront und fehlende Hingabe wertet. Und so kommt es zum Bruch.
Rafael Chirbes letzter Roman, Paris-Austerlitz, gilt gemeinhin als sein autobiografischster. Denn die Geschichte um den spanischen Erzähler und seinen ehemaligen französischen Geliebten, der an AIDS stirbt, hat ihre Parallelen in Chirbes eigenem Leben, wie man spätestens bei der Lektüre seiner Tagebücher erkennt.
Dennoch kann hier nicht von Autofiktion gesprochen werden. Zum einen, weil Chirbes Novelle klare und sehr wichtige Unterschiede zum Leben des Autors aufweist. So stammt Chirbes Protagonist einer wohlhabenden spanischen Familie ab, der Autor selbst kam hingegen aus einfachen Verhältnissen. Sein langjähriger Partner Francois, der oftmals als Vorbild für Michel gesehen wird, war nicht älter, sondern im selben Alter wie Chirbes. Wie Michel starb auch er an AIDS.
Paris-Austerlitz ist aber auch deswegen kein autobiografischer Roman, weil er unter anderem mit großer Präzision die Klassenunterschiede seiner Charaktere analysiert. Der Erzähler romantisiert zwar anfangs seine angespannte finanzielle Lage und die Zuflucht, die ihm Michel bietet. Er weiß im Hinterkopf aber auch, dass ein Anruf, ein Besuch bei den Eltern genügten, um wieder ein komfortables Leben zu führen.
Seine anfängliche Romantisierung des Lebens mit Michel und des gemeinsam geteilten Raumes im Einzugsgebiet der französischen Metropole erinnern nicht von Ungefähr an James Baldwins Klassiker Giovanni’s Room, in dem es letztendlich auch mehr um Klasse als um Homosexualität ging. Die Prekarität und Absolutheit der Beziehung üben wie bei Baldwin auf den gutbürgerlichen Erzähler eine exotische Faszination aus, sie bieten die Chance auf die Immersion in eine ungeschütztere, ihm unbekannte Welt. Auch die „Bar der Marokkaner“, die Michel regelmäßig aufsucht, um sich zu betrinken, erscheint wie ein Wiedergänger von Giovannis Arbeitsstätte „Guillaumes Bar“.
Doch Chirbes Protagonist ist nur Gast. Wie ein Tourist, der sich aus einem Luxusressort hinaus bewegt und sich unter die Einheimischen mischt, um „Land und Leute“ zu erleben, wie es oft so floskelhaft heißt. Seine Leidenschaft erkaltet mit dem Bedürfnis nach klassischen Wohlstandsmarkern, einem Job mit Aufstiegschancen und einer Wohnung mit viel Tageslicht. Der Blick auf den ausgemergelten Körper des ehemaligen Partners, der sich noch immer nach ihm sehnt, wird ihm zur Last.
Dementsprechend taugt der Erzähler von Paris-Austerlitznicht zum Sympathieträger, gleichwohl er den Widerstreit der Gefühle durchaus reflektiert. Er hadert mit seiner Verantwortung, mal drückt er sich vor ihr, schiebt sie weg, mal scheint er sie zu akzeptieren. Chirbes novellenhafter Roman spiegelt diesen Prozess auch auf der formalen Ebene. Er folgt keiner linearen Chronologie, die kurzen Kapitel wirken mitunter fragmentarisch, wie Erinnerungen. Beginn und Ende der Beziehung gehen immer wieder ineinander über. Der Blick des Liebenden vermischt sich mit dem des Abscheus.
Das große Verdient von Paris-Austerlitz ist es, all diese Widersprüche und Fragmente nebeneinander stehen zu lassen. Chirbes weiß um die Komplexität des Lebens und der Liebe und mutet sie seinen Leser*innen zu. Es wird nicht erklärt, nicht harmonisiert, nicht geurteilt. Im Klappentext wird der Roman als kompromisslos bezeichnet. Lebensecht trifft es besser. (Tobi)
Out & Proud: Aktuelles & Neuerscheinungen
In Daddy Issues nimmt uns Dino Pešut mit ins Zagreb der 2010er-Jahre. Sein Erzähler Luka hat einst Anglistik studiert und ist danach wie viele seiner Altersgenoss*innen in eine europäische Großstadt gegagenen, um sein Glück und eine Karriere zu suchen. So recht ist es ihm nicht gelungen, weshalb es ihn wieder nach Zagreb verschlagen hat, wo er als Portier in einem Hotel arbeitet und nebenbei Gedichte schreibt.
Und das gar nicht mal schlecht, findet zumindest sein älterer Fuck-Buddy. Doch veröffentlichen will Luka sie dennoch nicht. In die Trägheit seiner immergleichen Tage bricht die Nachricht von einer schweren Erkrankung seines Vaters. Mit Letzterem verbindet den Erzähler eine Hassliebe, hat er ihn doch einen Großteil seiner Kindheit und Jugend mit der alkoholkranken Mutter allein gelassen, deren früher Tod auf beiden lastet.
Während der Vater seinem Wunsch, den eigenen Sohn zu sehen, immer stärker Nachdruck verleiht, zwingen Luka einige weitere Entwicklungen in seinem Umfeld, die eigene Lethargie hinter sich zu lassen. Pešut, der als Dramatiker große Erfolge feiert, gelingt in Daddy Issues das Kunststück, komplexe Themen wie Homophobie, Klasse, Tod und die Auswirkungen eines nicht lange zurückliegenden Krieges zu adressieren, ohne dabei die Leichtigkeit zu verlieren.
Sein Vater-Sohn-Gespann entzieht sich den Erwartungen. So haben wir es keineswegs mit einem homophoben Vater zu tun, der seinen Sohn ablehnt, wie es oft in der queeren Literatur (und leider in der Realität, die sie abbildet) zu finden ist. Vielmehr begleiten wir zwei Suchende, denen der Halt vor längerer Zeit abhandengekommen ist und die nicht anzukommen scheinen. Gleichzeitig zeigt Pešut auf, dass die Vorstellung eines "Ankommens" eine zutief neoliberale ist. Denn Lukas erfolgreichere Freund*innen, die es nach Berlin oder London verschlagen hat, wirken keineswegs glücklicher.
Daddy Issues ist ein temporeich erzählter, sprachlich ausgefeilter Roman, frisch und selbstsicher. (Tobi)
Alejandro Varela: The Town of Babylon (erschienen bei Astra House) (Si apre in una nuova finestra)
Klassentreffen sind gemeinhin eine bittersüße Angelegenheit. Oft oszillieren sie zwischen nostalgischer Verklärung und ehrlichem Erstaunen ob der Schneisen, die das Leben den früheren Mitschüler*innen ins Leben als auch die Gesichter geschlagen hat. Für queere Menschen gestalten sie sich häufig noch ein bisschen schwieriger. Denn vielen ist die Schulzeit aufgrund von Diskriminierung(en) und Ausgrenzung ungut in Erinnerung, weshalb sie Jahrgangszusammenkünfte häufig meiden.
Auch Andrés, Protagonist von Alejandro Varelas Debütroman The Town of Babylon, hat sich bisher von diesen regelmäßig zelebrierten Ausflügen in die Vergangenheit ferngehalten. Doch dann wird sein Vater überraschend krank und muss operiert werden. Just zur selben Zeit findet in seiner kleinen Heimatstadt das 20-jährige Jubiläum seiner Abschlussklasse statt und Andrés erliegt seiner Neugier.
Dabei erwarten ihn einige Unabwägbarkeiten. Etwa Jeremy, der ehemalige Highschool-Herzensbrecher, mit dem er eine heimliche Beziehung führte oder Paul, ein von allen gefürchteter Bully, der einst damit prahlte, einen schwulen Mann in einem Cruising-Gebiet verprügelt zu haben. Auch war Andrés, der zu Schulzeiten beliebt und strebsam war, nicht geoutet. Für viele der Partygäste verkörpert er die große Ausnahme, the one that got away: einer der wenigen, die es an eine gute Universität und später in die Großstadt schafften, wo er als Professor lehrt und mit einem Arzt verheiratet ist.
Doch wider Andrés ursprünglichen Befürchtungen verläuft die Zusammenkunft gut. Seine Mitschüler*innen sind neugierig, reagieren positiv auf seine Ehe und suchen den Kontakt mit ihm. Auch Jeremy kann seine Augen nicht von Andrés lassen. Und das, obwohl viele der Autos auf dem Parkplatz Trump-Sticker auf den Stoßfängern haben und Andrés, dessen Eltern aus El Salvador und Kolumbien kommen, nicht mehr wie früher Andy genannt werden möchte.
Die Zeit bei seinen Eltern wird für Andrés zur Bestandsaufnahme. Er ist 37, in seiner Beziehung kriselt es und die Konfrontation mit Jeremy, Paul und seinem Elternhaus zwingen ihn dazu, sich mit der Vergangenheit und sich selbst auseinanderzusetzen. Alejandro Varelas Debüt erzählt davon, was es heißt, als queeres Kind von Einwanderer*innen in der weißen Kultur amerikanischer Vorstädte aufzuwachsen. Er beleuchtet den Widerstreit der Identitäten und die Frage nach Zugehörigkeit(en), die damit einhergehen.
Die Erzählperspektive wechselt zwischen Andrés Ich-Erzähler in der Gegenwart und einem allwissenden Erzähler, aus dessen Sicht unter anderem die Geschichte von Andrés Eltern und seinem Bruder erzählt wird. Das Wechselspiel dieser Erzählinstanzen führt zu einer außerordentlich gelungenen Verbindung aus Mikro- und Makroperspektive.
Varela schafft es mühelos die Komplexität seiner Figuren und Themen abzubilden und gleichzeitig temporeich und humorvoll zu erzählen. The Town of Babylon ist ein zeitgenössisches queeres Epos auf kleinem Raum, eine intersektionale Taxonomie der amerikanischen Vorstadt mit einem Protagonisten, dem man weiter durchs Leben folgen möchte. (Tobi)
Anhand einer Mischung aus Memoir, Kulturgeschichte und Interviews mit Freunden und Fremden versucht Alex Espinoza eine Geschichte des Cruisens zu erzählen. Von der griechischen Antike, über die Molly Houses im viktorianischen England bis hin zu Grindr berichtet er vom Zusammenkommen von Männern mit den unterschiedlichsten Herkünften. Das ist eine spannende Idee – scheitert jedoch an den eigenen Ansprüchen.
Die Mischung verschiedener Genres in der queeren Sachbuchliteratur ist mittlerweile nichts Neues. Spätestens Maggie Nelsons The Argonauts (Die Argonauten, aus dem Amerikanischen von Jan Wilm) hat es vorgemacht. Und auch aktuelle Neuerscheinungen wie Fire Island: Love, Loss, and Liberation in an American Paradise (Si apre in una nuova finestra) von Jack Parlett und Gay Bar: Why We Went Out von Jeremy Atherton Lin (Si apre in una nuova finestra) vermischen gekonnt die Mikro- mit der Markroebene. Cruising scheitert daran, dass diese formal unterschiedlichen Aspekte nicht so recht zusammenfinden wollen.
Espinozas historischer Abriss über die Geschichte des Cruisens gleicht in der Regel eher einer Kulturgeschichte der Homosexualität. Der Autor verläuft sich in einer Geschichte, die wir eigentlich schon zu genüge kennen: Die sich wandelnden Vorstellungen von Sexualität, die Verfolgung queerer Menschen, die sie dazu zwingt, eigene Codes zu entwickeln, um im Geheimen miteinander zu kommunizieren und sich zu finden, und so weiter und so weiter.
Natürlich ist Kontext wichtig. Allerdings stehen diese Aspekte oft zu sehr im Fokus und sind gleichzeitig viel zu oberflächlich. Selbiges gilt für Espinozas thematische Ausflüge nach Russland und Uganda. Denn in seinem Bestreben, eine nicht nur rein amerikanische bzw. westliche Geschichte des Cruisens zu erzählen, verliert er sich in bekannten Informationen zu Propaganda-Gesetzen und Gesetzestexten aus der Kolonialzeit. Das sind wichtige Themen, keine Frage. Insgesamt erwecken diese Kapitel jedoch den Eindruck schlechter Recherche und eine gewisse Herablassung.
Spannend ist Cruising vor allem dann, wenn Espinoza von seinen eigenen Erfahrungen berichtet. Denn das Cruisen wird hier als eine radikale Sexualität verstanden, die heteronormative Machtstrukturen umgeht und deswegen Begegnungen jenseits gesellschaftlicher Hierarchien oder Klassen ermöglicht.
Espinoza selbst gehört der Latinx Community an und ist nicht able-bodied. Auch deswegen bietet seine Erzählung eine Perspektive, die nur allzu oft untergeht. Leider geht diese so wichtige wie spannende Erzählung zugunsten bekannter Allgemeinplätze vollkommen unter.
Ich cruise also weiter und hoffe auf die Begegnung mit einem Buch, das mir gibt, was ich brauche. (Marlon)
Saul Friedländer: Proust lesen (erschienen im Verlag C.H.Beck) (Si apre in una nuova finestra)
Marcels Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit umfasst 7 Bände und ca. 4500 Seiten. Solch ein Werk (er)fordert so manches einführendes Buch, um Leser*innen den Einstieg in die Lektüre zu erleichtern. Genau das will Saul Friedländers Proust lesen jedoch nicht sein, „sondern ein Essay über das Lesen von Proust“, wie es im Klappentext heißt.
Dieses Essay über das Lesen von Proust ist als ein durch und durch persönliches zu verstehen, das auch nicht den Anspruch erhebt, von einem Proust-Experten zu stammen. Sei’s drum: In Zeiten wie unseren, in denen das persönliche Empfinden, einen immer höheren Stellenwert einnimmt, auch was die Auswahl unserer Lektüre betrifft, kann genau solch ein Ansatz geneigte Leser*innen vielleicht eher dazu bewegen, diesem Monumentalwerk eine Chance zu geben (Verzeiht mir bitte den Bandwurmsatz, aber es geht hier immerhin um Proust!). Doch beim Lesen des Essays konnte ich mich nicht des Eindrucks verwehren, dass das Versprechen einer persönlichen Lektüre nicht erfüllt werden konnte.
Friedländer konzentriert sich in seinem Essay auf einige wenige zentrale Themen: die komplexe und oft widersprüchliche Darstellung von Juden und Jüdinnen, Homosexualität und Erinnerungen. Nun habe ich bereits als junger Student lernen dürfen, dass es für das Studium der Literaturwissenschaft vollkommen ausreicht, nur die Madeleine-Szene zu lesen – eben weil sie als Auslöser der unwillkürlichen Erinnerung eines der zentralen Themen der verlorenen Zeit darstellt.
Das gleiche gilt auch für die beiden anderen Themen. Ohne sie wäre der Romanzyklus kaum vorstellbar. Natürlich kann eine Lektüre der zentralen Themen der Suche nach der verlorenen Zeit persönlich sein – im Falle von Proust lesen ist sie das aber wenig bis gar nicht.
Im direkten Vergleich zeigt sich, wo der Themenschwerpunkt von Friedländer wirklich liegt. Ihn interessiert vor allem Prousts (der Halbjude war) zwiespältiges Verhältnis zum Judentum. Dass den Lesenden genau das als Erkenntnis präsentiert wird, ist ein wenig ernüchternd – auch für jemanden wie mich, der nie von sich behaupten würde, Proust-Experte zu sein.
Umso ärgerlicher ist es, dass Friedländer schlussfolgert, dass Proust mit seiner eigenen Homosexualität keinerlei Probleme hatte und die oftmals hässliche Darstellung innerhalb des Textes einen einfachen Grund hat: das zeitgenössische Publikum nicht allzu sehr zu verärgern.
Das ist vor allem deswegen ärgerlich, weil es bestimmte Tatsachen ignoriert (die teils sogar genannt, in der Schlussfolgerung aber nicht berücksichtigt werden) und teils in der Betrachtung derart oberflächlich ist, dass auch ich als Nicht-Experte guten Gewissens sagen kann: Das ist falsch. Und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass das Thema Homosexualität für Friedländer nur ein Nebenaspekt in seiner Betrachtung darstellen soll.
Proust lesen von Saul Friedländer zu lesen tut nicht weh – vor allem, wenn man einen ersten Einstieg in das Werk erhalten möchte. Und wenn man sich bewusst ist, dass es noch durchaus mehr zum Werk zu entdecken gibt. Für alle anderen wird dieses Essay herzlich wenig Neues und / oder Interessantes zu bieten haben. (Marlon)
Queere Freuden
Hier möchten wir auf Texte, Posts und andere Formate aus dem queeren Themenkosmos verweisen, die uns in den letzten Wochen beschäftigt haben.
Ob Bars, Saunen oder Clubs, queere Orte stehen in den letzten Jahren stark unter Druck. Vor allem in den USA. Digitalisierung und Gentrifizierung machen viele von ihnen nicht mehr rentabel. Der von Rechts geschürte Hass auf Queers, der unter anderem zu Anschlägen wie dem in Colorado Springs führt, gefährdet elementare Safe Spaces der Community. Der afroamerikanische Schriftsteller Bryan Washington lässt in einem großartigen, sehr bewegenden Text im New Yorker sein Year in Queer Spaces Revue passieren und zeigt auf, was sie so wichtig macht. (Tobi)
https://www.newyorker.com/culture/2022-in-review/my-year-in-queer-spaces (Si apre in una nuova finestra)Bereits in seinen beiden Romanen What Belongs to You und Cleanness (beide aus dem Amerikanischen von Daniel Schreiber) hat Garth Greenwell sein Gespür für Sprache, Zwischenmenschliches und Kunst und Kultur unter Beweis gestellt. Wer davon nicht genug bekommen mag, kann hier seinen kostenfreien Newsletter abonnieren. (Marlon)
https://garthgreenwell.substack.com/ (Si apre in una nuova finestra)