Volle Konzentration
Route neu berechnen/Doku über Gazprom/Therapie für Superreiche/Hymne auf das Huhn
Als ich meinen Roman Montaignes Katze recherchierte und schrieb, kam mir dieses Jahr 1584 sehr weit weg vor. Damen von Stand trugen in der Öffentlichkeit Masken, um sich vor Seuchen zu schützen. Immer wieder mussten Termine und Reisen verschoben werden, weil eine ansteckende Krankheit in der Gegend es nicht zuließ. Politische Gegner wurden mit langem - Haft und Folter - oder kurzem Prozess (Dolch) bekämpft. Waffen und Soldaten wurden permanent durch Europa verschoben, es galt das Recht des Stärkeren und der Krieg war, wie schon der alte Heraklit geschrieben hatte, der Vater aller Dinge.
In unserer Zeit des schnellen Internets, der Antibiotika und der permanenten Kommunikation, vor allem der globalisierten Wirtschaftsbeziehungen, schienen solche Phänomene wie im musealen Glaskasten aufbewahrt und so wahrscheinlich wie der Angriff durch einen Dodo.
Dann verschärfte sich die lang angekündigte Klimakrise, kamen Corona und der Überfall auf die Ukraine – auf einmal steht das 16.Jahrhundert wieder in der Tür wie eine vergessene Verwandtschaft, die mit ihren nervigen Unkenrufen leider recht behalten hat. Enigermaßen hilflos mussten wir ferne Zeugen von Gräueltaten werden, die noch gut in Voltaires Candide gepasst hätten. Auch das beinhaltet der Begriff der Zeitenwende: Wir wähnten uns ganz vorn, sind aber, wie bei Mensch ärgere dich nicht, zurückgeworfen auf den Anfang.
Diese Umorientierung bringt eine dauernde Anspannung mit sich, immer wieder muss die Route neu berechnet werden, weil das Navi den wilden Kurs dieser Jahre kaum noch abbilden kann. Dauernd macht man sich Sorgen und dann droht die Gefahr doch wieder aus einer völlig anderen Ecke. Medien kommen schwer gegen den Trend zur Monothematik an, dabei ignoriert man leicht, wo ein frisches Problem vor sich hin wächst. In dieser potentiell apokalyptischen Zeit liest man Berichte über Fälle tödlicher Vogelgrippeerkrankungen in Kambodscha, Unruhen in Peru und Mexiko mit erhöhtem Alarm: Was entwickelt sich da?
Was an am leichtesten übersieht, ist, wie viel gelungen ist. Corona wurde erst verpennt, dann aber doch angegangen. Die eindämmenden Maßnahmen, die völlig neue Impfung, begleitet von großen finanziellen Rettungsschirmen, das war neu und hat gewirkt. Spend your money now my friend, later it will. be too late – das war der geniale Rat, den Mario Draghi dem französischen Finanzminister LeMaire gab. Solche Maßnahmen der Staatskasse waren richtig, aber schon lange nicht mehr praktiziert worden. Man hatte ganz vergessen, dass Staat auch mal was anders kann als sparen. Dass der alte Ronald Reagan Satz Government is the problem, not the solution reine Ideologie ist, die in Krisenzeiten ihre Geltung einbüßt.
Ähnlich steil war die Lernkurve in Bezug auf die Russland und die Ukraine. Noch im letzten Bundestagswahlkampf traute sich ausser den Grünen niemand, Nordstream2 abzusagen oder die Kooperation mit Putin in Frage zu stellen. Selbst kurz vor der Invasion wurde gerätselt und überlegt, ob Russland wirklich ernst macht. Die Bundesrepublik war vor einem Jahr noch total abhängig vom russichen Gas. Viele, auch besonnene Menschen murmelten im vorigen Herbst von der apokalyptischen Pleitewelle, die die deutsche Wirtschaft ruinieren werde. Ein ebenso kluger wie ratloser Redenschreiber fragte mich: Was sagen wir, wenn die Menschen im Winter mit Corona in kalten Wohnungen hocken und verzweifeln?
Es kam anders. Es war die Leistung der Ampel, der Wirtschaft und immer wieder der Zivilgesellschaft. Das war nicht nur in Deutschland so, in ganz Europa wuchs die Einigkeit und die Bereitschaft, sich gegen Russland zu stellen. Hier war der Heldenmut der Ukrainerinnen und Ukrainer ein Beispiel, aber auch die Art der russischen Kriegsführung: Nur wenige Experten kennen die Geschichte beider Länder oder die Minsker Verträge. Aber die Mehrheit der Leute verabscheut, was den Menschen der Ukraine wiederfährt. Und anders als zu Montaignes Zeiten können wir auch wirklich etwas machen dagegen. Und sei es nur, es auszusprechen. Aber ich kenne auch so viele, die für die Ukraine gespendet, organisiert und geflüchtete Personen unterstützt haben. Es sind verunsichernde, anstregende Zeiten, aber wir durchleben sie nicht allein. Plötzlich spielen auch die großen Organisationen, die EU, die NATO und sogar die Vereinten Nationen wieder eine politische Rolle. Man hatte die beinahe im Mari Kondo Verfahren als überflüssiger Clutter aussortiert, aber nun erkennen wir, welche Freude in supranationaler Solidarität liegen kann.
Jürgen Habermas hat recht, wenn er der Bundesrepublik wegen der Waffenlieferungen an die Ukraine eine Mitverantwortung für den Kriegsverlauf zuschreibt. Deutschland kann sich nicht abwenden. Diese Verantwortung ergibt sich allerdings auch dadurch, dass wir Putin über Jahre reich und mächtig gemacht haben. Diese Dokumentation von Dirk Laabs zeichnet diese im Nachhinein unfassbare Verstrickung noch einmal genau nach.
Ich halte nichts davon, Angela Merkel oder Sigmar Gabriel dafür zu kritisieren, sie waren ehrlich und illusionslos auf der Suche nach einem gemeinsamen Weg mit Russland, hatten obendrein ganzklar die Mehrheit im Lande hinter sich. Andere Figuren hingegen sollte man schon noch mal unter die Lupe nehmen, am besten in einer grossen Wahrheitskommission. Von Strafverfahren verspreche ich mir nicht viel, ausserdem müssten dann - mit Ausnahme von Marielusie Beck, Ralf Fücks und Joachim Gauck - fast alle Deutschen in den Knast, denn wir wollten es ja so billig und immer billiger und scheuten die Mühen des ökologischen Umbaus. Unsere Liebe zur Illusion einer permanenten Gegenwart waren heftiger als die Mahnungen der kritischen Vernunft.
https://www.arte.tv/de/videos/108467-000-A/gazprom-die-perfekte-waffe/ (Si apre in una nuova finestra)Eines der Phänomene, die unsere ansonsten so auf Fairness und Gleichheit bedachte Gegenwart prägen, ist die Abkopplung der Superreichen vom Rest der Sterblichen. Die konservative amerikanische Peggy Noonan schrieb vor vielen Jahren davon, die Allerreichsten würden sich von der Gemeinschaft verabschieden und zwar durchs Dachfenster.
Früher oder später wird es zu einer von dem französischen Ökonomen Thomas Piketty empfohlenen Regulation kommen müssen, einer Art universellem Lastenausgleichsgesetz – aber die Sache hat noch einen anderen Aspekt: Es ist mitunter lebensbedrohlich, reich und berühmt zu sein.
Manchmal denke ich an all die Lichtgestalten meiner Jugend, die schon nicht mehr leben also an Michael Jackson, George Michael, Prince, Whitney Houston oder Lisa Marie Presley. Die eigentlich alles hatten, was in unserer Gesellschaft als erstrebenswert gilt und zwar im Übermaß. Was sagt ihr frühzeitiges und oft sozial elendes Ende über dieses Wertesystem aus? Die wenigen sehr reichen Menschen, die ich kenne, sind eher gequälte Seelen. Die Perversion der finanziellen und symbolischen Ungleichheit, der globalisierten Mediengesellschaft, zeigt sich auch an der Spitze der Pyramide.
In diesem Longread des Guardian wird eine der Kliniken beschrieben, in die sich solche armen reichen Menschen begeben können, um zu retten, was zu retten ist. Und dann wird einem doch einiges klar.
https://www.theguardian.com/society/2023/feb/23/one-billionaire-at-a-time-swiss-clinics-super-rich-rehab-therapy-paracelsus-kusnacht (Si apre in una nuova finestra)Einen Auszug aus diesem Film habe ich hier schon einmal gepostet. Nun entdeckte ich die Langversion dieser wunderbaren Meditation über das Brathähnchen. Roadmovie und Kochshow ist es auch. Der wahre Star des Films sind allerdings die französischen Hühner.
https://www.youtube.com/watch?v=VM8UYZL-Q4U (Si apre in una nuova finestra)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
PS: Die Lesungen aus Montaignes Katze gehen weiter. Am 1.März in Lüneburg, am 14.März in Pau in Frankreich und am 4.Mai in Wolfenbüttel!
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