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»Eat Pray Leave«

»Der dünne Kuba spielte anders Flucht, als wir es getan hätten an den besonders faden Nachmittagen. Mit ihm mussten wir im Sandkasten die Umrisse eines Autos ausheben: zwei Vordersitze, eine Rückbank und eine Kuhle für den Kofferraum. Eine Motorhaube trampelten wir nur dann in den Sand, wenn uns der Sinn danach stand. Meistens hob ich mir noch einen flachen Fußraum aus, hockte mich auf den Fahrersitz und steuerte den ausgedachten Wagen mit gekreuzten Stöcken oder einer Frisbeescheibe durch die Tschechoslowakei. Darius lag auf der Rückbank und spielte dort den kleinen Kuba. Er machte Autobahngeräusche und verpopelte die Fahrt. Kuba selbst, der echte, tigerte weit um den Sandkasten herum. Er kommentierte unser Spiel, manchmal streng wie ein Dramaturg, manchmal mit einer stillen Zufriedenheit wie Heinz Galinski. Kurz vor dem Grenzübergang Richtung Österreich steuerte ich den Fluchtwagen auf Kubas Ansage hin in eine Nothaltebucht. Dort hatte ich mich umzuschauen, zur Rückbank zu drehen und Darius zwei Mahonienbeeren in den Mund zu stecken. Beruhigungsmittel oder Schlaftabletten sollten es sein, die er, verblüffend gut gespielt, hinunterwürgte. Sobald er sich hängen ließ wie ein Sack Kartoffeln, sollte ich ihn von der Rückbank zerren. Auf Ansage hatte ich den Kofferraum zu öffnen und den bewusstlosen Darius vorsichtig hineinzulegen. Dann aber kam das immer Gleiche: Darius gähnte. Dass er sich Bewusstlosigkeit vorstellte wie eine schwere Müdigkeit, das war ihm niemals auszutreiben gewesen. Er gähnte übertrie­ben laut. Anfangs hatten wir noch einen alten Waschlappen mit fantasiertem Chloroform getränkt, aber ein in den Schlaf ge­zwungenes Kind, das laut­hals gähnte, so etwas passte nicht in Kubas Vorstellung und machte ihn rasend vor Wut. Besonders dann, wenn sich Darius noch wie ein Kätzchen dabei streckte. Immer wenn ich ahnte, dass Kubas Stimmung kippen könnte, rannte ich um den Wagen, steckte meine Beine wieder in den Sand, trat auf das imaginierte Gaspedal und rollte auf die Autobahn zurück. Mit et­was Glück besänftigte ihn das und er befahl mir, wie­der in den Grenzverkehr zu steuern. Jetzt trat der echte Kuba auch selbst in seiner eigenen Inszenierung auf. Er spielte einen Grenzer. Zwei sogar. Erst einen Tschechoslowaken, dem ich ein Bündel Geldscheine zustecken musste. Nur dann durften wir passieren. Manchmal variierte er, verlangte kein Bündel, sondern Schein um Schein, einzeln aus meiner unsichtbaren Geldbörse gezupft, bis es ihm genügte. Danach erst durfte ich wei­terrollen, bevor aus Kuba ein Grenzbeamter aus Oberösterreich geworden war. Ihm musste meine ausgedachte Beifahrerin – Ehefrau, Cousine oder Schwester – nur schnell und flüchtig ihre Brüste zeigen. Manchmal griff er auch danach, schraubte kurz an ihrer unsichtbaren Oberweite herum, bis er uns augenzwinkernd durchwinkte.

Dieses Spiel konnte eine ganze Stunde dauern, und wenn vom Nachmittag noch etwas übrig war, spielten wir auch noch die Weiterfahrt nach Deutschland durch. Direkt hin­ter Linz sollte ich unbedingt nach Westen abbiegen. »Unbedingt!«, sagte Kuba. Er stand auf einem der Rundhölzer, die den Sandkasten umschlossen, und starrte auf mich hernieder. Kurz hinter Passau sollte Darius aus der Kofferraumkuhle rollen und parallel dazu der Fluchtwagen aus dem Sand in die Bundesrepu­blik. 1988 aber tat ich mich mit Ost und West noch schwer, so dass Kuba bei jedem Fehler, als wäre er wieder in sei­ner Tschechenrolle, laut und böse werden konnte. Besonders dann, wenn ich irrtümlich nach links gesteuert hatte. Dann brüllte er mit kippender Stimme, die mir erst ge­spielt vorkam, aber plötzlich die Oktavengrenze durchbrach: »Wien! Du fährst nach Wien!«

Sofort stieg ich auf die Bremse, aber schon war es zu spät: Kuba, der sonst so stille Kuba, rastete aus. Es war kein sauber ab­brennender Zorn, der ihm gleichmäßig entwich, sondern eine Presswut, die ihm durch jede Ader in den Hals und in den Schädel stieg. Sein ganzer Körper fing zu zucken an. »Wien! Wir sind in Wien! Du bist nach Wien gefahren! Was will ich denn in Wien?«

Ich steuerte zurück, kurbelte nach links und rauschte in den ausgedachten Gegenverkehr hinein. Aber wie ich mich auch hupend gegen den Blechstrom kämpfte, es half nichts: »Zu spät! Zu spät! Jetzt waren wir in Wien! Jetzt waren wir! Jetzt bist du schon in Bratislava. Bratislava! Im Osten! Wir sind wieder im Osten! Alles für den Arsch!«, rief Kuba. Seine Arme schossen in die Luft. Sie waren kreidebleich, weil jedes Blut ihm in den Kopf gestiegen war. »Alles für den Arsch! Alles! Du bist in Bratislava. Bratislava! Und ich bin tot! Tot, Mann, tot! Erstickt! Erstickt im Kofferraum. Erstickt an meiner Kotze! Bratislava! Bravo!«

Mit einem großen Satz, der ihn in die Luft hob, sprang Kuba vom Rund­holz. Sein schlaksiger Körper donnerte wie ein Katapult­geschoss auf die Rückbank, mit einer Kraft, als läge um jedes seiner dürren Körperteile eine zweite, unsichtbare Schicht aus Muskeln. Die Mulde, in der ich hockte, war sofort zer­furcht. Während Kuba wieder in die Höhe schoss, rollte Darius aus seiner Kuhle auf die ausgedachte Straße. Und als Kuba zu stram­peln begann, zu treten wie ein Bekloppter, und der ganze Kof­ferraum in einer Sandfontäne auseinanderflog, rettete ich mich mit einem Hechtsprung aus der Wagentür. Sofort flog uns die Karosse in dicken Brocken in den Rücken. Ein letztes Mal noch sprang Kuba in die Luft, stürzte auf den Fahrersitz, kickte wie ein Besessener in meinen Fußraum hinein und zu guter Letzt flogen die Stöcke für Lenkrad, Gangschaltung und Handbremse im hohen Bogen aus dem Sandkasten. Darius und ich krochen im Krebsgang über die Rundhölzer, duckten uns und sahen zu, wie Kuba noch viermal kräftig in den Sand furchte und die allerletzte Linie und Struktur mit seinem Schwung durchtrat. Dann lag Stille über der Grube. Kuba hockte ausgelaugt und atemlos in der Senke. Seine Augen waren rot unterlaufen. Er hatte sich Sand ins eigene Gesicht gekickt. Sein Blick fuhr durch den Krater, den er ausgehoben hatte. Dann schaute er auf, erhob sich, stieg über die Rundholzmauer und lief davon, ohne sich nochmal nach uns umzudrehen. »Bratislava!«, brüllte er mit dick belegter Stimme.«

Auszug aus meinem Debütroman »Schlesenburg (Si apre in una nuova finestra)«. Ab dem 12. Februar 2025 endlich auch als Taschenbuch (Si apre in una nuova finestra) erhältlich. Überall dort, wo es Bücher gibt.

Herzlich willkommen zur dreizehnten Ausgabe von »Feine Auslese«.

»Schlesenburg« | Taschenbuch | btb-Verlag (Si apre in una nuova finestra)
F / A

#1 / Ich glaube ja noch immer …

»… , dass der halbherzige Rückzug von Twitter zudem sich einige von uns nach langem Zögern durchgerungen haben, nichts anderes ist als eine scheinheilige Form der Selbstbeschwichtigung. Verzeiht mir bitte diese Härte. Ich schließe mich da ein. Als hätten wir mit unserem Abgang bei X, dem heldenhaften Verzicht auf 1.000 Follower oder lass es das 10- oder 20fache sein, unseren größtmöglichen antifaschistischen Beitrag geleistet. Ist es mit dem Verzicht auf Twitter wirklich schon getan? Müssen wir nicht gleichwohl oder vielmehr über TikTok sprechen? Die weltweit größte Propagandamaschine. Ihr kriegt die kruden Inhalte doch auch zugefüttert, Agitation in harmlos erscheinenden homöopathischen Dosen: Videos, die uns eine Korrelation suggerieren sollen zwischen Messerstechern, Taschendieben in Venedig und am Ostseestrand betenden Muslimen; die uns verklären lassen sollen, wie sorgenfrei das Leben in den 90ern gewesen ist, oder in Wehmut hüllen, wie bildschön Dresden, Frankfurt, Köln, Berlin vor dem Krieg gewesen sind; Videos, wie sauber Polen ist, wie sicher Ungarn, die Steiermark, St. Petersburg; wie nur Mutterliebe eine Frau erfüllt und einen Mann nur oberkörperfreies Holzhacken; wie Maya und Sumerer eine Wahrheit kannten, die ein obskures Establishment uns mühevoll verschweigt. Ich weiß, ihr kriegt dergleichen auch. Und ich weiß, wie gut wir alle darin sind, uns einzureden, dass derartige Inhalte uns nicht tangieren. Dass wir immun dagegen sind. Aber bitte fragt euch: Wie immun sind eure Eltern, Onkel, Tanten, wie immun sind eure Kinder, Neffen, Nichten? Wie immun sind Erst- und Wechselwähler? Wenn TikTok sich anschickt, uns das Hier und Jetzt madig zu machen, durch Angst und Neid, durch Zweifel und Verklärung, wer profitiert davon? Mit dem Verzicht auf Twitter ist es nicht getan. Belügen wir uns nicht.

F / A

#2 / Toujours la tristesse

Gestern Nacht auf dem Weg ins Bett:

»Müssen Sie wirklich in unseren Hausflur pissen?«
»Ick war erst nebenan.«
»Ja und?«
»Dann hab’ ick jemerkt: ick wohn da ja.«

F / A

#3 / Feine Ablese

Angelesen: Umlaufbahnen (Si apre in una nuova finestra) von Samantha Harvey

Literarisch eigentlich ein bisschen die Nase voll gehabt von Bahnen. Egal wie viele. Dann schickt der Exfreund Umlaufbahnen und sagt: „Vielleicht gefällt es dir." Irgendwie habe ich Zweifel, an welcher Stelle die Betonung zu setzen ist. Vierzig Seiten drin im Buch dämmert es mir langsam: Vielleicht gefällt es DIR. Und ich muss sagen: Geht so. Schmaler Grat zwischen lyrischer Sprache und verstrahlter Sprache. Es geht um 6 Astronauten in einer Raumstation, die wegen der Extremperspektive und chronischer Unterbeschäftigung über die Erde und sich selbst sinnieren. Sally Rooney trifft Stanislaw Lem trifft Maja Lunde.

Ausgelesen: Es geht uns gut (Si apre in una nuova finestra) von Arno Geiger

Generationenroman. Schon wieder. Bitte fragt nicht wieso. Beim Lesen zwangsläufig mit Eugen Ruge verglichen. In Zeiten des abnehmenden Lichts. Inhaltlich hat mich Geiger dann doch deutlich mehr abgeholt, auch wenn es sprachlich echt eine ganze Ecke unbekömmlicher ist. Viel Präsens, Sätze abgehackt wie Holzscheite, alles gedrungen. Ist natürlich eine Metapher für die generativ vererbte Unfähigkeit zu kommunizieren. Grob gesagt geht es um einen Typen, der entlang seines geerbten Nachlasses die eigene Familiengeschichte entrümpelt. Was man mögen muss: Österreich, schmerzhaft dysfunktionale Familienstrukturen und Bücher, die mit ruhiger Stimme laute Geschichten erzählen.

Abgelesen: Ein wenig Leben (Si apre in una nuova finestra) von Hanya Yanagihara

Unpopular opinion, richtig unpopular opinion: Nehmt es mir nicht übel, aber 1000 Seiten Elendsvoyeurismus sind mir 900 zu viel. Ich checke schon, wie gut geschrieben und gebaut das ist. Plot und Charaktere. Und schön, dass ein Buch mit schwulen Narrativen und homosexuellen Lebensentwürfen zu so einem Weltbestseller werden kann. Aber genau darin liegt die Krux: Wieso stellt sich der Erfolg einer schwulen Geschichte immer erst dann im heteronormativen Mainstream ein, wenn es eine von Leid, Tragik oder Einsamkeit geprägte Geschichte ist? All of Us Strangers, Moonlight, Brokeback Mountain, Tomasz Jedrowski, Thomas Mann, André Aciman. Immer muss erst das Narrativ des einsamen, unglücklichen und elendig endenden Homosexuellen reproduziert werden, bis sich eine nischenentkommende Popularität ergibt. Und wer mir jetzt mit Heartstopper kommt, kann gerne für sich abwägen, wessen Elend schwerer wiegt: des bisexuellen Nick (mit einem Bein verankert in heteronormativer Unbeschwertheit) oder des schwulen Charlie.

F / A

#4 / Das Letzte von der Rolle

Das ist Karpfen auf dem Rost.
Gibt es manchmal in Nahost.
»Näher Ost« müsste es heißen,
Rechts von Oder oder Neißen.

Wer jetzt glaubt, die Polen wären
Oberhalb von Böhm- und Mähren
Alle Kannibalenwesen,
Hat bei »Karpfen« sich verlesen.
Karsten liegt hier nicht zu Tisch.
Hand aufs Herz: Hier liegt nur Fisch.

Eine Frage schließt sich an!
Was ich selbst nicht sagen kann:
Warum Mutter nachts um vier
Bilder schickt von totem Tier?!

F / A

#5 / Feiaahmnt.

Wer hätte gedacht, dass Newsletter schreiben so viel Laune macht? Hoffe, dass sich die leidenschaftlichen Stunden an der einen oder anderen Stelle transportiert haben. Wenn ihr die Arbeit an diesem Newsletter finanziell supporten wollt, sehr gerne! Am meisten aber freut es mich, wenn ihr euch das Taschenbuch von »Schlesenburg« (Si apre in una nuova finestra) ins heimische Regal holt. Auf bald!

F / A

#6 / Nachklang

🔊 Bon Iver mit »Second Nature« 🔊

https://open.spotify.com/intl-de/track/0ZiZoJuytgBABtjeR9nzhE?si=89521aabcfe8421b (Si apre in una nuova finestra)

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