Passa al contenuto principale

»Was man von hier aus sagen kann«

Und wieder das Gefühl, man wäre fehl am Platz. Man sollte gar nicht da sein, doch man ist nun mal. Und wenn du nicht dabei gewesen wärst, ich wäre lieber abgehauen. Oder gar nicht erst dort hingegangen. Aber jetzt waren wir halt da, also dachte ich: Ich bleibe. Immerhin bist du extra angereist. Du schläfst bei mir. Dabei hättest du auch hier schlafen können, bei Anna, aber so eng seid ihr nicht. Auch wenn ihr euch schon drei Dekaden kennt und Anna heute 39 wird. Außerdem hat sie eine Schwester und Schwestern gehen vor. Du auch. Ergo schläfst du bei mir, wenn du in der Stadt bist. Wir sind eng genug dafür. Kein Blatt passt zwischen uns, das wäre übertrieben. Aber wenn du noch ein bisschen bleiben willst, dann bleib ich auch. Ohne zu ahnen, dass du am liebsten überhaupt nicht hier gewesen wärst.

Jemand hat Törtchen mitgebracht. Zu feine und zu viele. Die schmale Grenze überschritten zwischen Mitbringsel und Prahlerei. Wir haben Wein dabei und jemand anders Luftballons. Es sind vier Luftballons in Gold. 4, 0, Minus, 1. Alle hier sind gut gealtert, auch wenn der Gag, der hinter 40 minus 1 steckt, etwas anderes vermuten lässt. Anna hat eine Überraschung vorbereitet. Das hast du schon geahnt, sagst du. A wie Ahnung. Aber: Die Überraschung hatte keinen Bock auf uns. Deine Worte in der Tram danach, nicht meine. Boah, denke ich. Ich halte mich zurück und halte mein Maul, mein männliches, mein schwules. Bei Anna in der Runde, während sie sich allen anvertraut, ist Schwulsein die Potenz aus Männlichkeit. Mann mal Mann. Ich sitze zwischen euch und höre zu und weiß, dass es mich am allerwenigsten betrifft. Ich gebe, was ich geben kann. Es ist nicht viel: Mein Mitgefühl und mir selbst eine neutrale Formulierung. Anna hatte einen Abgang. A wie Abgang. Deine Worte in der Tram. Nicht meine. Boah, denke ich wieder. Warum bist du so? Anna hatte einen Abgang an ihrem 39. Geburtstag.

Wir sitzen in der Runde und ich halte: Meine Fresse. Ein anderer ist da, den kenne ich vom Sehen. Der hält die Fresse auch. Wir sitzen in der Runde und ich halte aus: Mein Unbehagen. Das Gefühl, ich wäre fehl am Platz. Auch wenn es mich in fünf Minuten oder zehn mit Freude oder Stolz fluten wird, dass Anna und alle hier dabei sind, eine Welt zu bauen, wo man Männern die Verantwortung verpasst, dieses Unbehagen auszuhalten. Erst ihm und mir und eines schönen Tages allen. Noch sind wir nicht in fünf Minuten oder zehn. Noch denke ich: Niemand hat die verdammte Boombox ausgemacht. Anna sitzt und weint und wird getröstet, aber die verdammte Boombox spielt »Banana Pancakes«. Irgendjemand sollte, denke ich, irgendjemand muss. Ich kann nicht aufstehen, mich erheben und entscheiden, was besser ist, was angemessen ist. Stille oder nicht Stille. Du stehst auf und machst die Boombox leiser. Wie ein Kompromiss.

Der Abend geht nicht lang. Wie auch? Wir lassen den Wein da und müssen Törtchen mitnehmen. Wir sitzen in der Tram und ich merke: Deine Stille. Ich kenne dich seit Jahr und Tag und weiß nicht, was es macht mit dir. Kein Blatt, das wäre übertrieben. Vielleicht macht es nichts mit dir. Wieso muss es etwas mit dir machen? Adel verpflichtet, Uterus nicht. Ich sitze in der Tram und unterstelle dir: Ein Unbehagen. Mein Kopf sitzt in der Tram und hält sein Maul nicht. Ich musste schon bei Anna daran denken, was es macht mit dir. Was es mit Mutter machen würde. Was es mit Großmutter gemacht hätte. Ich kann nicht anders. Und ich schäme mich, dass ich keine Ahnung habe. Das allergrößte Thema, der halbe Stammbaum, und trotzdem keinen blassen Schimmer. Ich möchte, dass du weißt: Ich kann es aushalten. Was auch immer es mit dir macht. Auch wenn es gar nichts mit dir macht. Ich sitze in der Tram und ich frage mich, woher mein Unbehagen kommt. Vielleicht ist Unbehagen das Ergebnis, nie davon tangiert gewesen zu sein. Ich möchte, dass du weißt: Ich kann es aushalten. Ich würde Freude oder Stolz empfinden, wenn wir das Unbehagen überwinden, und ich schwöre dir, mir nichts darauf einzubilden.

Wir teilen uns das Bett wie kleine Kinder. Natürlich ist es nicht das Gleiche. Trotzdem ist es so eng wie früher. Immer noch bequemer, als wenn einer auf dem Sofa schlafen muss. Immer noch bequemer, auch wenn sich einer wälzt. Heute wälzen wir uns beide. Wir überreichen uns das Wälzen wie einen Staffelstab. Wir wälzen uns so oft und lange, dass es unfreiwillig komisch wird. Mitten in der Dunkelheit muss ich leise lachen. 

»Was?«, fragst du genervt. 
»Was?«
»Warum wälzt du dich so?«, fragst du.
»Du wälzt dich auch!«
»Wenn was ist, dann sag!«, sagst du. 
»Ach keine Ahnung!«, sage ich.
»Man was!«, sagst du. 
»Nichts!«

Du fährst herum und boxt mich. Du drehst dich wieder fort. Du hattest immer zu viel Kraft in deinen Armen.

»Mir war das nicht egal!«, sagst du. 
»Was?«
»Heute! Das!«, sagst du. »Mir war das alles nicht egal.«
»Das sagt auch keiner.«

Ich bin so überrascht von deinem Satz, dass ich das Licht anmache. Aber du boxt mich nochmal, greifst über mich und machst es wieder aus. Ich kann nicht wieder anmachen. Ich kann nicht aufstehen, mich erheben und entscheiden, was besser ist, was angemessen ist. Stille oder nicht Stille. Du wälzt dich nochmal, hin und her und hin, dann bleibt es lange still. Du legst den Rücken gegen meinen. Kein Blatt, das wäre übertrieben. Dann höre ich, wie du den Atem änderst, mit Absicht, so dass es klingt, als wärst du eingeschlafen. Wie ein Kompromiss. Und wieder das Gefühl, man wäre fehl am Platz.

Herzlich willkommen zur elften Ausgabe von »Feine Auslese«.

F / A

#1 / Ich glaube ja noch immer …

»… , dass wir mal über Hinge sprechen sollten. In Sachen Dating-Apps tanze ich auf jeder Hochzeit. Und keine, wirklich keine App gibt mir so sehr das Gefühl, ich hätte mich im Standesamt geirrt wie Hinge. Ich swipe durch die Profile und frage mich: Wer sind diese Leute? Es geht zu wie in Kopenhagen: ausnahmslos schöne Menschen. Jeden Swipe muss ich mit einem Wohlfühlpunkt auf meiner Body-Issue-Skala bezahlen. Jetzt könnte man sagen: »Jo Paule, dann arbeite halt an deinem Selbstwertgefühl.« Toller Tipp, Frau Rorschach-Bennheimer. Hier sind 100 Euro. Bis nächste Woche. Gleiche Zeit wie immer? Im Grunde sind bei Hinge vier Kategorien an Männern unterwegs: Typ Expat-reiche-Eltern-weiß, Typ Expat-reiche-Eltern-halbweiß, Typ Privattrainer-Hobby-Sport und Typ Wochenende-Borkum-oder-Ibiza-Hauptsache-Insel. Selten von einem Algorithmus so sehr den Vibe gesteckt bekommen, nicht dazuzugehören. Meine Theorie: Ist Absicht. Das ganze Grundkonzept ist durchkapitalisiert. Gut ist, was gefällt. Was gefällt, ist gut. Man könnte meinen, Profile würden danach gewichtet, wie oft sie geliked werden. Und Neukunden würden genau durch diese Top-Profile gelockt und gebunden. In meiner Wahrnehmung kann man stunden-, tage-, wochenlang durch den Katalog blättern, ohne in den digitalen Gassen auf einen Menschen zu stoßen, der halbwegs so gewöhnlich aussieht wie man selbst. Kopenhagen eben. Mich macht diese gewinnmaximierte Perfektionsflut müde und verbittert. Heute Morgen mitgezählt. Ich musste 53 Profile wischen, bis mir jemand mit meinem Attribut vorgeschlagen wurde. Jemand wie ich: Ein Brillenträger. 53 Profile. Gerne würde ich mich weniger beklagen. Aber man kann whinge nicht ohne Hinge schreiben.« 

F / A

#2 / Toujours la tristesse

Dienstagmorgen. Hermannplatz Neukölln. An der Ampel neben mir steht ein Handwerker und telefoniert:

»Hab' ich mir auch jedacht.«, ruft er ins Telefon. »Aber weeste wat? Man muss dit Pferdchen melken, solange es noch warm ist.«

Die schnörkellosen Weisheiten dieser Stadt. Sie begeistern mich echt jedesmal aufs Neue.

F / A

#3 / Feine Ablese

Angelesen: Kairos (Si apre in una nuova finestra) von Jenny Erpenbeck

Wendeliteratur oder Endeliteratur? Aktuell (Seite 71) tippe ich auf Letzteres. Ist schon ein Hammermove von Jenny Erpenbeck, eine zweifelhafte Beziehung und einen zweifelhaften Staat in taumelnder Parallelität gemeinsam gegen die Wand fahren zu lassen. Am Anfang hatte ich Probleme mit dem Altersunterschied der Protagonist:innen. Liebespaar. Sie Neunzehn, er Mitte Fünfzig. Bisschen allergisch gegen Lolitaliteratur. Aber durch das Brennglas einer Autorin klappt es irgendwie. Manchmal blättere ich zurück und versuche zu ergründen, wie sie das gemacht hat. Drückt mir die Daumen, dass ich noch dahinter komme.

Ausgelesen: In Zeiten des abnehmenden Lichts (Si apre in una nuova finestra) von Eugen Ruge

Ich schließe jetzt meine Bildungslücke zum Deutschen Buchpreis. Das ist der Plan. Sogar den Elan aufgebracht und meine Bücher-Wishlist (Si apre in una nuova finestra) neu bestückt. Falls ihr mir Buchpreisträger:innen schenken wollt, nur zu. Los ging es mit Eugen Ruge. Hatte ich schon hier. Und heiliger Bimbam, habe ich mich schwergetan. Iris Radisch sagt »Buddenbrooks meets DDR«. Na ja, so ähnlich. Und heiliger Bambim, was habe ich mich mit denen schwergetan. Zwei von vier Erzählsträngen haben mich nicht gekriegt [bei Ruge, nicht bei Mann] und dass ich aus Versehen ein Kapitel überlesen habe und erst im Nachhinein gemerkt, ist auch kein gutes Zeichen. Auf »Metropol« von ihm habe ich trotzdem Lust. Vielleicht ist mein Schädel einfach nicht gemacht fürs große Epos.


Abgelesen: Das Marterl (Si apre in una nuova finestra) von Johannes Laubmeier

Zufallsfund. Lag wie ein Findelkind vorm Haus. Reingelesen, Vollbremsung und für ein anderes Mal behalten. Toter Vater geht gerade nicht. Thematisch. Auch wenn der eigene putzmunter ist. Aber die Erzählperspektive gefällt mir. Was der hiesige Leser jedoch bereits beim Durchblättern bemerkt hat: Herr Laubmeier muss mehr Dialoge wagen.

F / A

#4 / Das letzte von der Rolle

Festgemauert in der Erden,
Halt! Moment! Das ist bekannt!
Etwas Neues muss es werden!
Glockes Auftakt ist verbrannt.

Wasser sprudelt aus der Erden,
Dünner Strahl quillt hoch hinaus.
Wird wohl etwas lauter werden,
Was ein Glück, bin außer Haus.

Als ich nächtens wiederkehre
Ist das Baggerwerk gescheh’n.
Deshalb geb ich mir die Ehre:
Foto, pullern, schlafen geh’n.

F / A

#5 / Feiaahmnt.

Wer hätte gedacht, dass Newsletterschreiben so viel Laune macht. Alle bisherigen Newsletter findet ihr hier (Si apre in una nuova finestra). Wenn ihr die Arbeit an diesem Newsletter supporten wollt, sehr gerne! Und jetzt: Prosit. 

F / A

#6 / Nachklang

🔊 Bleachers mit »Stop Making This Hurt« 🔊

https://open.spotify.com/intl-de/track/7fRCD4vVNpCy91Y3zxNMUl?si=a0f832a591a8467d (Si apre in una nuova finestra)

0 commenti

Vuoi essere la prima persona a commentare?
Abbonati a PAUL BOKOWSKI: FEINE AUSLESE e avvia una conversazione.
Sostieni