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Apropos “Friedensdemo”: Nicht. Mein. Frieden!

source: ideogram.ai (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

04.10.2024

Liebe Leute,

heute ein paar Gedanken zu dem, was gestern in Berlin unter dem doch eher irreführenden Namen “Friedensdemo” stattfand. Etwas unorganisiert vielleicht, weil ich zur Zeit ziemlich busy mit der Vorfeldorga des Erscheinens meines Buches (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) bin, und weil ich gerade im Zug nach Bologna sitze, wo mein Neuköllner Fußballteam in einem Turnier gegen 9 andere weitgehend heterosexuelle, weitgehend mittleralterliche (so sagt man doch “Heteromänner im mittleren Alter”, oder?), aber allesamt äußerst sympathische und nichtmackrige Teams antreten wird, und ich hoffentlich nicht schon wieder mein Knie verletze.

Wasnfürn Frieden?

So, jetzt aber zur “Friedensdemo”: ich war einigermaßen schockiert, als mir klar wurde, dass sogar Organisationen wie die IL Berlin, der ich mich in enger politischer Freundschaft verbunden fühle, zu einer Demo aufriefen, deren öffentliche Wahrnehmung vor allem von Sahra “Lady Voldemort” Wagenknecht, ihren Death Eaters (BSW) und anderen Putinkuschler*innen (u.a. dem Gauweiler, nach dem Gauland der zweitschlimmste deutsche Gau heutzutage) dominiert wurde. Dass gute Freund*innen ihren Feiertag opferten, um auf einer Demo unterwegs zu sein, auf der Ralf Stegner tatsächlich dafür ausgebuht würde, die Tatsache zu benennen, dass diese ganze “es braucht Frieden”-Sache deshalb gerade relevant ist, weil Russland die Ukraine überfallen hat. Dass linke und linksradikale Genoss*innen sich auf einer Demo herumtreiben würden, wo sie zusammen mit der rechtsradikalen Kleinstpartei “die Basis” abgelichtet würden – alle vereint im Ruf nach einem “Frieden”, der tatsächlich die selbe Struktur hat wie “keine Radwege in Peru”, “keinen Klimaschutz, wenn er uns ans Portemonnaie geht”, und “Grenzen zu, das doitsche Boot ist voll“: “Frieden” heißt hier vor allem, dass Nichts getan werden oder geschehen soll, das deutsche Lebensstandards gefährdet, das den imperialen Frieden (really just: die residuale Nachkriegs-Pax Americana, von der Teile Europas noch geschützt sind) in Frage stellt, in dem wir weiterhin verhältnismäßig gut leben können. Im Grunde erscheint mir dieser “Frieden” nichts anderes zu sein, als die geopolitische Variante des Statements von George Bush Senior, als er zum 1992er Erdgipfel in Rio flog: “the American standard of living is not up for negotiations. Period.” Ganz ähnlich klang Lady Voldemort gestern auch.

Internationale Beziehungen

Ich will damit gar nicht sagen, dass es keine guten Gründe gibt, die politische Macht der deutschen Rüstungsindustrie zu hinterfragen, wie die Kampagne “Rheinmetall entwaffnen” das tut: seit Eisenhower wissen wir, dass ein politisch allzu mächtiger Rüstungssektor eine eigene Dynamik entfaltet, die bald politische Prozesse im Kriegsinteresse des Rüstungssektors steuert.

However: ich würde mal die These aufstellen (irgendwann, vor Ewigkeiten, war mein Feld mal “Internationale Beziehungen”), dass die causa efficiens der Aufrüstungsbemühungen Deutschlands und der EU in diesem Fall nicht der politische Druck der Rüstungsindustrie ist (obwohl deren Macht seit dem 24.2.2022 natürlich deutlich angestiegen ist), sondern – in IB-Begriffen – der Aufstieg einer “irredentistischen” (auf gewaltsame Grenzverschiebungen ausgerichteten) Regionalmacht im Osten der EU, im Kontext des schrittweisen Rückzugs des US-amerikanischen Nuklearschirms.

Das ist zunächst Alles erstmal so “wertfrei” wie möglich formuliert: im internationalen System gibt es, wie auch in nationalen politischen Systemen, ein bestimmtes Quantum an Gewalt, das ausgeübt oder zumindest angedroht werden muss, um dieses System zu stabilisieren. D.h., dass das auch von irgendjemandem ausgeübt oder angedroht werden muss. “Zu hause” ist das üblicherweise die Polizei (Staat, Gewaltmonopol, etc.), in internationalen Systemen ein globaler oder regionaler Hegemon – oder halt jeder Staat gegen jeden Staat. Wer glaubt, wie die “idealistische” Schule in den IB, dass seit dem Ende des 2. WK diese Gewaltfunktion überholt sei, weil jetzt Alle so megaaufgeklärt miteinander umgehen würden, hat einfach die Tatsache ignoriert, dass es eben eine nuklear stabilisierte Pax Americana für manche gab, für andere nicht, und dass an den Rändern dieses “befriedeten” imperialen Raums ständig gewaltsame Konflikte tobten oder zumindest drohten.

Die Aufrüstung Deutschlands und Europas ist also nicht, wie manche meiner Genoss*innen das in einer ziemlichen Verkürzung ihres linken Materialismus behaupten, das Werk der bösen Rüstungslobby, sondern ziemlich direktes Resultat struktureller Veränderungen im geopolitischen System. We may not like it, aber die Tatsache, dass die bisher de facto Schutzmacht der EU ihren Schutz zunehmend abzieht, muss in Deutschland und der EU zu fundamentalen Veränderungen führen. Ich behaupte nicht, genau zu wissen, wie diese aussehen sollen. Aber sie einfach zu ignorieren, zu sagen, “wir steigen jetzt einfach aus dem neuen internationalen Spiel aus, wir suchen Wege jenseits der Waffen, wir werden durch superkluge Verhandlungslösungen, die noch niemand bisher sehen kann, und durch die Hilfe einer dea ex machina, alle Konflikte der Welt auflösen”, offenbart nicht nur ein fundamentales Missverständnis geopolitischer Strukturen und Konstanten, es zeigt auch, dass es hier, mal wieder, um diese stärkste aller politischen Produktivkräfte in Deutschland geht: den absoluten Willen, sich jeder, aber auch wirklich jeder Veränderung zu entziehen, die sich derzeit durch die und in der Polykrise aufdrängt.

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Diktatorenschönsaufen

Am Ende bin ich aber ziemlich sicher – ich bilde mir ja ein, mit der Verdrängungsthese eine Art intellektuellen Universalschlüssel zu besitzen ;) – dass es auch hier nicht um Fakten, um reale Meinungsverschiedenheiten in der Einschätzung geopolitischer Veränderungen und Zwänge geht, sondern um Emotionen, Affekte, und den Wunsch, sich stark, selbstwirksam zu fühlen, und außerdem zu “den Guten” zu gehören.

Also: in der Geschichte der Linken in der BRD war es immer die “gute” linke Position, NATO-kritisch zu sein, sich gegen die Wiederbewaffnung der BRD im Kalten Krieg zu wehren (eine der größten Demonstrationen der BRD-Geschichte fand im Juni '82 in Bonn statt, und richtete sich gegen den NATO-”Doppelbeschluss”, der die Stationierung von Atomraketen in Westeuropa legitimieren würde), und gegen den im Grunde pathologischen Antikommunismus der alten BRD zu betonen, dass “der Ostblock” halt nicht aus Wahnsinnigen bestand, sondern aus Akteuren, mit denen verhandelt werden könne und müsse. Alles gute und vernünftige Positionen, die, wie alle Bewegungen, ihren Mitgliedern Halt und Bedeutung vermittelte.

Wie wir wissen, brechen Halt und Bedeutung in der Polykrise und der Arschlochisierung unserer Gesellschaften immer weiter weg, erleben immer mehr Menschen die Welt als erschreckend, als desorientierend, als überfordernd. In dieser Situation ist es attraktiv, nach magischen Lösungen für Probleme zu schauen (ich habe schon oft vom “magischen Denken” auch in linken und ökologischen Kreisen gesprochen), und die reale Unlösbarkeit von Problemen zu ignorieren. Genau, wie die Rechten nun ihren “imaginierten Vergangenheiten (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)” schwelgen, gibt es die reaktionären Tendenzen auch auf links: die Realität von 2024 wird einfach auf die der frühen 80er Jahre projiziert, und was nicht passt, wird passend gemacht. Das wurde mir klar, als ich auf dem Rückweg aus Amsterdam nach Berlin am 2.10. im Zug eine sehr nette Frau traf, eine alte Linke, eine Feministin, eine Friedensbewegte, die auf dem Weg zur “Friedensdemo” war, und diese nach ihren Motivationen fragte.

Die Antworten waren meist nicht überraschend, bezogen sich auf die Frage des Verhältnisses Russlands zur NATO, aber eine Sache brachte mich dann doch auf: diese angeblich gut informierte Frau, die in ihren Händen gerade ein kluges politisches Buch hielt, reagierte auf die Frage, wie sie die Verfolgung von Queers durch das russische Regime einschätzte (ihr wisst, ich halte es wegen seiner Kombination aus national-popularen Mobilisierung wie z.B. der Naschi, seiner starken Verankerung in der russisch-orthodoxen Kirche, und seiner Positionen zu “Familie” und “Queer” für ein reaktionär-klerikalfaschistisches a la Franco oder Salazar, nicht so sehr revolutionär-faschistisch wie Hitler und Mussolini) mit diesem faszinierenden Satz: “das kann ich nicht einschätzen, hab ich nicht selbst miterlebt.”

Plötzlich wurde also hier eine Realität absolut und mit Wucht verdrängt (ich versuchte ja mehrfach, sie zu einer Aussage zu bringen), die medienöffentlich belegt ist, und vom russischen Regime immer wieder bestätigt wird: Putins Russland bekämpft uns Queers auf äußerste, hat wie der Christian Nationalism in den USA entschieden, dass wir zu den nützlichsten aller politischen punching bags gehören. Das müsste jeder Linken, jedem progressiven Menschen Probleme bereiten, und natürlich auch dazu führen, dass politischer Support für die Regierung, die Queers jagt, in Frage gestellt werden müsste. Aber das geht natürlich nicht, weil es hier nicht um reale politische Positionen, sondern um emotionale Bedürfnisse geht: um das Bedürfnis, die Welt möge wieder so relativ einfach sein, wie sie sich für Linke Anfang der 80er Jahre darstellte: expansive NATO böse, Waffen in der BRD schlecht, je weniger Waffen, desto besser. Und in der Welt kann Putins Russland ja keinen organisierten Queerhass pushen, denn diese Tatsache würde ja nicht die Schablone aus den 80ern passen, die ich gerade beschrieb. Verdrängung at its best.

ABER ES SIND HALT NICHT DIE 80ER!!!

Aber Alle wissen ja derzeit: wenn wir in irgendeiner Vergangenheit sind (sind wir natürlich nie), dann sind wir näher an den 1920ern und 30ern, als den 80ern. Und damals war das eben nicht so mit “weniger Waffen ist besser”: die Genossen in Spanien brauchten natürlich Waffen, um Francos Truppen zu bekämpfen, und mir hat immer noch keiner von den “Frieden schaffen ohne Waffen-Leuten erklärt, wie man eine faschistische Bedrohung weg verhandelt. Und dass Putins Russland eine solche ist, sollte spätestens klar sein, seitdem wir verstanden haben, dass es kaum eine rechtsradikale Partei in der EU gibt, die nicht aus Moskau finanziert wird; dass Russland einem mythomanischen Protodiktator 2016 den Weg zur Macht in den USA ebnete; aber vor allem dadurch, dass Russland seit bald einem Jahrzehnt immer wieder Angriffskriege führt, die der imperialen Expansion und dem Befrieden innerer politischer Konflikte durch externe Feindbildkreation dienen.

Es gilt zur Zeit: by any means necessary gegen den Faschismus. Putin versucht, sich zum Godfather der globalen reaktionär Offensive zu machen (schaut Euch nur an, wie Faschoideologen wie Tucker Carlson ihn abfeiern). “By any means necessary” heißt, auch das eigene “business as usual” zu hinterfragen, und in diesem Fall heißt es, die linke Position zu Waffenlieferungen, zur Rüstungsproduktion, und zu internationalen Beziehungen zu hinterfragen.

Aber dass die Linke, vor allem die LINKE, bei solchem Hinterfragen ziemlich langsam und träge ist, beweist sie seit 15 Jahren in der Klimafrage. Wenn es auch hier so lange dauert, bis linke gesellschaftliche Kräfte eine Position auf der Höhe der Zeit haben, zeigt das nur: die alte Linke isch ähnlich over, wie es der Klimaschutz als politisches Projekt ist. Das hat man leider gestern auf der Demo eindrücklich sehen können, auf der alte Linke neben neuen Rechten standen.

Nein: was wir da gestern erlebt haben, das war nicht mein Frieden, das war nicht meine Linke, das war nicht meine Bewegung. Was wir da gestern erlebten, war die organisierte Verdrängung neuer Realitäten. Und wie schonmal in Bezug aufs Klima gesagt: es kann keine Linke geben, die nicht ehrlich ist (you know, Aufklärung und so).


Mit unfriedlichen Grüßen,

Euer Tadzio

p.s.: und natürlich hoffe ich, dass Ihr Alle schon mein Buch vorbestellt habt ;)

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Sujet Verdrängungsgesellschaft

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