Notes from the Future I: das schwedische Volksheim explodiert
(Foto: Wolf Schumacher – von unserem Honeymoon in Nordschweden. Schweden in all seiner Schönheit, aber dunkle Wolken ziehen auf...)
Liebe Leute,
ich fang mal mit ner Frage an: was für Bilder kommen Euch in den Kopf, wenn ich “Schweden” sage? Gar keine? Mittsommer und nie endende Wälder? Für ältere Semester: Olof Palme und eine weirdly “linke” Außenpolitk während der 70er und 80er Jahre? ABBA und der “schwedische Koch” der Muppetshow? Politisch denkt Ihr vermutlich an einen starken Wohlfahrtsstaat, eine ausgeprägte sozialdemokratische Hegemonie; kulturell an ein liberales Land, wo die Menschen alle nackt saufend miteinander in der Sauna (bastu auf Schwedisch, “Badestube”) sitzen, nicht so verklemmt, mucksmäuschenstill mit Handtuch und Badehose, wie hierzulande. Im Kern denken die meisten Menschen im globalen Norden, die an Schweden denken, an ein Land, das mit sich selbst im Reinen ist, und gerne dem Rest der Welt zeigt, dass es irgendwie ein Bisschen moralisch überlegen ist. Gleichheit, Offenheit, gesellschaftlicher Frieden: so sieht man Schweden oft, so präsentiert es sich gerne, und vor allem sieht es sich gerne selbst genau so, als ein Hort der Rationalität und Gerechtigkeit in einer schlechteren Welt (also: schlechter, als Schweden).
Schweden explodiert,,,
Dementsprechend muss es Euch ein Bisschen verwirrt haben, falls Ihr übers Wochenende Nachrichten konsumiert habt, dass Ulf Kristersson, der konservative Ministerpräsident des Landes, dessen Minderheitsregierung von den Neonazis der Sverigedemokraterna (SD) toleriert wird, sich mit den Spitzen des schwedischen Militärs getroffen hat, um etwas zu besprechen, das in liberalen Demokratien wirklich eine extreme Ausnahme ist, nämlich den Einsatz des Militärs im Inland, um die Polizei in ihrem Kampf gegen die immer brutalere Bandenkriminalität zu unterstützen.
Wie brutal? “Zwölf Tote (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) - das ist die traurige Bilanz des "schwarzen Septembers" in Schweden. Die Ganggewalt ist erneut eskaliert. Zuletzt starb ein 18-Jähriger an einer Sportanlage im Süden Stockholms, während dort Kinder trainierten. Nicht nur Opfer, sondern auch die Täter seien immer jünger, sagt der schwedische Polizeichef Anders Thornberg. 'Die Kriminellen sind skrupellos. Sie heuern Täter an, in vielen Fällen Jugendliche, die bewaffnet werden und Aufträge bekommen.' Diese schwere Kriminalität werde von immer Jüngeren ausgeführt.”Vergangene Woche explodierten in der Nacht von Montag auf Dienstag zwei Bomben in Schweden, (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) eine im Stockholmer Vorort Hässelby, die andere in der Nähe von Linköping, drei Menschen wurden schwer verletzt; und als ich heute morgen um 6:30 in den Zug nach Stockholm stieg, und die schwedischen Radionachrichten anschaltete, war die erste Nachricht, dass, wieder in Hässelby, zwei Bomben explodiert waren, und diese wohl mit einem brutalen Mord vergangenen Mittwoch in Verbindung stünden.
Letzte Anekdote: mein alter Freund und Genosse Pär Plüschke – ich lebte 2000 – 2001 in Schweden, und wir organisierten zusammen Proteste gegen einen EU-Gipfel in Göteborg (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) im Sommer 2001 – saß vergangenes Jahr in seiner Lieblingspizzeria in seinem Kiez (Skarpnäck – so ein Bisschen eine Mischung aus Marzahn und Neukölln), als plötzlich ein Mann vor dem Fenster der Pizzeria angeschossen wurde, und zu Boden ging. Pär rief den Krankenwagen, leistete 1. Hilfe, aber der Mann verblutete, als die Ambulanz gerade ankam. Es war der dritte Tod durch Schusswaffen in Pärs Nachbarschaft innerhalb weniger Wochen.
(Gewalttaten in Stockholm und Umland seit 25/12/22 Rot: Schusswaffen- oder Messerangriff; Schwarz: Explosionen; Grau: Brände. Quelle: https://www.dn.se/sverige/brand-efter-sprangning-i-hasselby/ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre))
Ihr wisst, ich bin nicht so der große law-and-order-Mensch, und habe natürlich recherchiert und herumgefragt, ob es sich hier wirklich um eine “Gewaltexplosion” handelt, oder um eine von rechts geschürte “Moralpanik” (induzierte Massenparanoia) – und muss leider sagen, dass, obwohl es natürlich Elemente strategischer politischer Kommunikation in all dem gibt, eine reale Gewaltdynamik ist, die Menschen in Schweden Riesenangst macht, die auch von gut informierten, erfahrenen Genoss*innen äußerst ernst genommen wird, und die einen erheblichen Anteil daran hat, dass Schweden in den letzten Jahren so hart nach rechts gekippt ist, dass der de facto mächtigste Mann im Land ein ex-Neonazi ist (Jimmie Åkesson, Chef der SD, war in den 90er Jahren ein Straßennazi, Knobelbecherskin, und meine alten Genoss*innen kennen ihn noch aus Straßenkämpfen).
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...und das “Volksheim” kollabiert
Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Ihr auf diese Tatsachen mit “ist doch gar nicht so schlimm reagiert”, aber wenn ihr diese Zahlen mit den USA vergleicht, würdet Ihr damit gar nicht so falsch liegen – gefühlt vergeht da keine Woche ohne ein mass shooting, Babies erschießen aus Versehen ihre Eltern, Hunde ihre Herrchen, und Cops erschießen Afroamerikaner*innen. Klar, dann sind alle erstmal schockiert, aber, wie wir wissen, gibt's dann ein paar Tage “thoughts & prayers”, und dann geht's wieder zum Tagesgeschäft zurück.
Aber: Schweden ist halt nicht die USA, weder in realitas, noch, viel wichtiger, in der symbolischen Selbstwahrnehmung. Wie oben schon angedeutet ist Schweden ein Land, das sich unglaublich viel darauf einbildet, eines der Guten, wenn nicht sogar das Beste zu sein (haben sie ein Bisschen mit der Schweiz und Kanada gemeinsam, go figure). Der Schwede, der gerade neben mir im Zug sitzt, nannte das die “Staatsideologie”: wir sind besser, als die Anderen – Sverige, hem till den första “Bessermensch” (eine noch nervigere Kreatur, als der Gutmensch). Diese Art von kollektivem Selbstbild ist ein mächtiges politisches Movens, eine starke politische Produktivkraft. Churchill konnte Großbritannien u.a. gegen die Nazis mobilisieren, weil es im UK eine starke Tradition von “wir lassen uns doch von diesen Pappnasen auf dem Kontinent nix sagen”, auf den Brexit geh ich jetzt hier gar nicht ein; in Deutschland machen wir keinen Stich gegen die korrupte und kriminelle Automafia (aka Autoindustrie), weil Deutschland halt “ein Land der Autofahrer” (und der betrügerischen Ingenieure) ist, und die USA als Land of the Free, and so on, and so forth.
Das kollektive schwedische Selbstbild geht auf das sozialdemokratische Konzept des “Volksheims” (folkhemmet) zurück. Die klassische Formulierung dieser Doktrin stammt aus dem Jahre 1928 vom späteren schwedischen Premierminister Per-Albin Hansson:
"Bei feierlichen Anlässen, aber auch in alltäglichen Situationen sprechen wir gerne von der Gesellschaft [...], die für jeden von uns das gemeinsame Haus, das Haus des Volkes (folkhemmet), das Haus des Bürgers ist... Die Grundlage des Heims ist die Gemeinschaft und das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Das gute Heim kennt keine Privilegierten oder Vernachlässigten, weder Lieblinge noch Stiefkinder. Dort schaut der eine nicht auf den anderen herab, dort versucht keiner, sich auf Kosten des anderen Vorteile zu verschaffen, die Starken setzen die Schwachen nicht herab und plündern sie aus. Im guten Heim herrschen Gleichheit, Fürsorge, Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft."
Gleichheit, Fürsorge, Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft. Das ist nicht so richtig das, was gerade in Schweden passiert, und das so brutal offensichtliche Auseinanderfallen von Selbstverständnis und erlebter Realität führt zu etwas, das wir gut kennen, nämlich zu Angst (vor Gewalt, aber auch davor, nicht zu sein, wer man glaubt, zu sein), Scham (eben doch nicht zu den guten zu gehören), und kognitiver Dissonanz. Keine guten Voraussetzungen für rationale gesellschaftliche Problemlösung, wie wir aus der Klimadebatte wissen.
De te fabula narratur
Die Fragen, die mich in den nächsten zwei Wochen beschäftigen werden, sind also die: wie gehen die Menschen in Schweden (zumindest in Stockholm, wo ich mich aufhalten werde), mit dieser “Kollapsdynamik” um (inwiefern das, was in Schweden gerade passiert, einen “Kollaps” darstellt, werde ich morgen diskutieren, hier nur kurz die Definition: Kollaps ist aus der Perspektive handelnder Subjekte meist kein one-off Event, sondern, bestimmte für notwendig und/oder legitim erachtete Güter oder Dienstleistungen werden an bestimmten Orten und für bestimmte Zeiten nicht durch die etablierten Kanäle erhältlich sein – in diesem Fall Sicherheit und medizinische Versorgung)? Vor allem: wie gehen linke Bewegungen und Milieus damit um, was können wir von denen lernen. Denn, wie der olle Marx mal in einem deutschen Vorwort zum 1. Band des Kapitals schrieb, weil lauter Deutsche ihn fragten, wieso es denn für sie interessant und wichtig wäre, über englische Kämpfe um einen 8-Stunden Tag oder die Einhegung von Almenden in Lancaster zu lesen: “de te fabula narratur”, schrieb er, “von Dir erzählt die Geschichte”. Deutschland ist ziemlich gut durch die Krisen der letzten 15 Jahre durchgekommen, und beginnt jetzt erst, sich der fuckedupness der politischen Systeme anderer (ehedem) reicher Länder anzunähern. In dem Sinne: de te, Germania, fabula narratur. So listen and pay attention.
Wenn alles gut läuft, werde ich, wie vor einigen Monaten in Lützerath, jeden Tag einen “kurzen” (ahahahahaha!!!) Text schreiben, mein “Notes from the Future”-Tagebuch.
Aber für heute war's das erstmal. Ich freu mich wahnsinnig, meinen guten alten Freund Pär wiederzusehen, zum 1. Mal seit... 15 Jahren wieder in Stockholm zu sein, und diese lustige Sprache zu sprechen.
Vi hörs, kära vänner och kamrater. Imorgon, med nästa installment av: Notes from the Future.
Euer Tadzio