ADHS und Leistungssport
Neurodivergenz bei Leistungssportlern: Sport als Selbstmedikation?
In meiner Praxis als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie begegne ich immer wieder dem Phänomen, dass Leistungssportler nach dem Ende ihrer Karriere vermehrt neurodivergente Symptome entwickeln. Obwohl ich selbst nicht sportlich aktiv bin, habe ich viele Klienten aus dem Leistungssport begleitet, die genau dies erlebt haben. Es scheint, als wäre der Sport für sie eine Art Selbstmedikation gewesen – eine Möglichkeit, ihre neurodivergenten Eigenschaften zu kanalisieren und deren Auswirkungen zu mildern.
Sport als strukturierendes Element für Neurodivergenz
Ein eindrückliches Beispiel ist der Fall eines ehemaligen Football-Profis, der nach einer Knieverletzung seine Karriere beenden musste. Dieser Athlet erhielt zunächst eine Stelle im Innendienst einer Feuerwehr. Doch er stellte bald fest, dass die Tätigkeiten dort für ihn große Herausforderungen mit sich brachten: Einerseits hatte er Schwierigkeiten, die organisatorischen Anforderungen des Jobs zu erfüllen, da ihm die Strukturen und Abläufe des Leistungssports fehlten. Andererseits fehlte ihm auch der körperliche Ausgleich und die Adrenalinkicks, die er durch das harte Training und die Wettkämpfe im Sport gewohnt war. Das führte dazu, dass seine neurodivergenten Symptome wie Impulsivität und Konzentrationsschwierigkeiten stärker zum Vorschein kamen. Letztlich suchte er nach neuen Wegen, um die verlorene Stimulation durch andere körperliche Aktivitäten und ein intensives Training zu ersetzen, um so seine innere Balance wiederzufinden.
Ein beeindruckendes Beispiel ist die britische Olympiaruderin Caragh McMurtry, die erst nach ihrer Karriere die Diagnose Autismus erhielt. Während ihrer aktiven Sportzeit boten ihr die strukturierten Tagesabläufe, die klaren Regeln und das wiederholte Training einen sicheren und vorhersagbaren Raum, in dem sie aufblühen konnte. Diese Strukturen halfen ihr, die Herausforderungen ihrer Neurodivergenz erfolgreich zu bewältigen.
Ein weiteres Beispiel ist der US-amerikanische Eiskunstläufer Adam Rippon, der nach dem Ende seiner Karriere mit einer ADHS- und Angststörungs-Diagnose konfrontiert wurde. Rippon berichtete, dass die strengen Trainingspläne und die Fokussierung auf das sportliche Ziel ihm halfen, eine Balance zu finden und sich weniger zerstreut zu fühlen. Während der aktiven Zeit auf dem Eis konnte er in einen Zustand des Hyperfokus eintreten – ein Zustand, der vielen ADHS-Betroffenen vertraut ist.Der Einfluss von Sport auf neurodivergente Symptome
Die Forschung unterstützt die These, dass sportliche Aktivität neurodivergente Symptome, insbesondere solche von ADHS, abmildern kann. In einer Studie von Ekman et al. (2021) wurden 200 Leistungssportlerinnen im High-School-Alter mit einer Kontrollgruppe von Nicht-Sportlerinnen verglichen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Sportlerinnen in der Schule signifikant stärkere ADHS-Symptome aufwiesen als die Nicht-Sportlerinnen. Während ihrer sportlichen Aktivitäten jedoch verschwanden diese Symptome fast vollständig. Dies verdeutlicht, wie sehr die Anforderungen und Strukturen des Sports eine positive Rolle für die Symptomkontrolle spielen können.
Die "Hunter vs. Farmer"-Theorie, die in der Studie ebenfalls Erwähnung findet, liefert eine interessante Erklärung für dieses Phänomen. Menschen mit ADHS haben oft Eigenschaften wie Hyperaktivität, Impulsivität und eine besondere Fähigkeit zur Hyperfokussierung – Fähigkeiten, die in einer Jäger- und Sammlergesellschaft von Vorteil wären. In unserer modernen Gesellschaft, die mehr auf Sesshaftigkeit und Routine setzt, werden diese Eigenschaften jedoch oft als "störend" wahrgenommen. Im Sport hingegen, ähnlich wie bei der Jagd, finden neurodivergente Menschen eine Umgebung, in der ihre besonderen Fähigkeiten zur Geltung kommen können: klare Ziele, körperliche Anstrengung und Wettkampf bieten genau die richtige Stimulation und Motivation.
Sport als Teil der Therapie für Neurodivergente
Viele neurodivergente Menschen könnten von der Einbindung von Sport in ihre Therapie profitieren. Regelmäßige sportliche Aktivität kann helfen, den Alltag zu strukturieren und eine gewisse Vorhersagbarkeit zu schaffen, was besonders für Menschen aus dem ADHS- oder Autismus-Spektrum wichtig sein kann. Sport bietet zudem die Möglichkeit, überschüssige Energie abzubauen und gleichzeitig die Fähigkeit zur Selbstregulation zu verbessern. Die rhythmischen und repetitiven Bewegungen, die bei vielen Sportarten vorkommen, wirken oft beruhigend und helfen, Stress abzubauen.
Auch Leistungssport kann Teil einer therapeutischen Strategie sein. Durch das intensive Training und die klare Zielsetzung entsteht eine Umgebung, die für viele neurodivergente Menschen sehr hilfreich sein kann. Die Stimulierung der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin, die beim Sport freigesetzt werden, spielt eine große Rolle bei der Reduzierung von ADHS-Symptomen, da diese Neurotransmitter oft in zu geringen Mengen vorhanden sind.
Praktische Tipps zur Integration von Sport in den Alltag
Klein anfangen: Für viele neurodivergente Menschen kann der Einstieg in eine sportliche Routine eine Herausforderung darstellen. Es ist wichtig, klein anzufangen – schon tägliche Spaziergänge oder kurze Übungen können eine große Wirkung haben.
Den richtigen Sport finden: Jede*r ist anders – während einige von strukturierten Sportarten wie Schwimmen oder Rudern profitieren, die einen klaren Ablauf haben, bevorzugen andere vielleicht körperliche Aktivitäten mit einem sozialen Aspekt, wie Teamsportarten oder Tanz.
Routine schaffen: Sport sollte möglichst in den Alltag integriert werden, um langfristig eine positive Wirkung zu erzielen. Eine feste Tageszeit für sportliche Aktivität kann helfen, Regelmäßigkeit zu schaffen und die Motivation zu steigern.
Körperliche Aktivität als Ventil nutzen: Gerade in stressigen Phasen kann Sport ein hilfreiches Ventil sein, um Anspannungen und emotionale Überforderung abzubauen. Dabei geht es nicht darum, immer Leistung zu erbringen, sondern eine Möglichkeit zu finden, Stress abzubauen.
Weitere Beispiele aus dem Leistungssport
Neben McMurtry und Rippon gibt es zahlreiche weitere Beispiele, die belegen, wie eng die Verbindung zwischen Leistungssport und Neurodivergenz ist. Michael Phelps, der erfolgreichste Olympionike aller Zeiten, spricht offen über seine ADHS-Diagnose. Das intensive Schwimmtraining half ihm, seine Energie zu kanalisieren und gleichzeitig seine Fähigkeiten zur Hyperfokussierung zu nutzen. Nach seiner aktiven Karriere sprach er jedoch auch von den Herausforderungen, seine Stimmung zu regulieren und die Leere zu bewältigen, die der Verlust der sportlichen Struktur hinterlassen hatte.
Der ehemalige NFL-Spieler Brandon Marshall erhielt spät in seiner Karriere die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, verbunden mit Symptomen, die häufig bei ADHS auftreten. Marshall erkannte, dass der Wettbewerb und die ständige Stimulation des Footballs ihm halfen, die Herausforderungen seiner psychischen Gesundheit zu bewältigen. Als er sich aus dem aktiven Sport zurückzog, wurde er vermehrt mit den Symptomen konfrontiert und begann eine intensive psychotherapeutische Behandlung.
Fazit
Diese Beispiele zeigen, wie Leistungssport neurodivergente Menschen dabei unterstützen kann, ihre Symptome zu kontrollieren und ihre Stärken zu nutzen. Doch sie verdeutlichen auch die Herausforderungen, die entstehen, wenn der Sport als Regulationsmechanismus wegfällt. Neurodivergente Athleten brauchen daher oft besondere Unterstützung, wenn sie ihre Karriere beenden, um neue Wege zu finden, ihre Neurodivergenz positiv in ihr Leben zu integrieren.
Für Menschen, die sich aktuell in Therapie befinden oder ihre neurodivergenten Eigenschaften besser verstehen und nutzen wollen, kann die Integration von Sport ein wirkungsvoller Ansatz sein. Ob durch strukturierte Bewegung, die gezielt hilft, Symptome zu regulieren, oder durch das Erleben von Gemeinschaft in Teamsportarten – Sport kann ein wichtiger Baustein sein, um ein erfülltes und ausgeglichenes Leben zu führen.
Quelle Ekman, E., Hiltunen, A., & Gustafsson, H. (2021). Do Athletes Have More of a Cognitive Profile with ADHD Criteria than Non-Athletes? Sports (Basel), 9(5), 61. https://doi.org/10.3390/sports9050061 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
LG Martin 🤓💡🌈🤝👣✨🔗🎨💬🚀 https://steadyhq.com/de/adhsspektrum/ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)