DYMERS und ADHS - Soziale Rhythmusdysregulation
Dysregulation und das Konzept von DYMERS: Ein tieferer Einblick
Einleitung
In den letzten Jahren hat sich das Verständnis von psychischen Störungen und neurodivergenten Zuständen erheblich weiterentwickelt. Ein aus meiner Sicht besonders interessantes Konzept in diesem Zusammenhang ist die soziale Rhythmusdysregulation (DYMERS), die eine zentrale Rolle in der Erklärung von Symptomen bei verschiedenen psychischen Störungen und neurodivergenten Zuständen spielen könnte. Seit einigen Wochen versuche ich aus der Sicht der Kinder mit Regulationsstörungen abzuleiten, wie sich ein dysreguliertes Kind fühlt und schützt, wie es in einer zunehmend dysregulierten Welt quasi zurecht kommt. Das ist teilweise erschütternd, teilweise sehr erhellend. Ich möchte ganz bewusst dabei die herkömmlichen Kategorien von “gesund” und “krank” und Schubladen der Diagnosen verlassen. Es geht darum, ein Verständnis für dynamische Regulation und Prozesse zu entwickeln, die psycho-logisch sind. Also selbstregulierende Abläufe bzw. eben gerade Prozesse, die diese Fähigkeit der dynamischen Anpassung an Veränderungen nicht mehr haben.
Was ist DYMERS?
Social Rhythm Dysregulation Syndrome (DYMERS) ist ein relativ neues Konzept in der Psychiatrie, das sich auf die Unfähigkeit bezieht, regelmäßige und stabile soziale Rhythmen aufrechtzuerhalten. Bis heute hatte ich ehrlich gesagt noch nie davon gehört.
Dazu gehören Schlafmuster, Essenszeiten und soziale Interaktionen. Menschen mit DYMERS erleben häufig Unregelmäßigkeiten in diesen Bereichen, was zu erheblichen Beeinträchtigungen im täglichen Leben und in der psychischen Gesundheit führen kann.
Entstehung des Konzepts DYMERS
Das Konzept von DYMERS entstand aus der Beobachtung, dass viele Menschen mit verschiedenen psychischen Störungen gemeinsame Schwierigkeiten in der Regulierung ihrer täglichen Rhythmen haben. Man könnte es also als ein Teil der “Spektrum-Störungen” annehmen. Also eine gemeinsame, noch vielleicht nicht genau definierte biologische Veranlagung, die dann zu ganz unterschiedlichen “Symptomen” oder “Syndromen” führt.
Das Konzept der Dysregulation
Dysregulation bezieht sich auf die Unfähigkeit des Körpers oder des Geistes, bestimmte Funktionen aufrechtzuerhalten oder zu regulieren. Dies kann in verschiedenen Systemen des Körpers auftreten, einschließlich biologischer Rhythmen, emotionaler Reaktionen und sozialer Interaktionen. Menschen mit Dysregulation haben Schwierigkeiten, konsistente und vorhersehbare Muster zu halten, was zu erheblichen Beeinträchtigungen im täglichen Leben führen kann. Bei ADHS wird eigentlich ziemlich schnell deutlich, dass es auch oder gerade eine “Rhythmusstörung” ist. Genetische Untersuchungen beschäftigen sich dabei auch mit der Rolle sog. “clock-Gene”.
Biologische Rhythmusdysregulation
Biologische Rhythmen, wie der Schlaf-Wach-Zyklus, sind essenziell für die körperliche und geistige Gesundheit. Diese Rhythmen werden durch die innere Uhr des Körpers, die in einem Teil des Gehirns, dem suprachiasmatischen Kern, lokalisiert ist, gesteuert. Wenn diese Rhythmen gestört sind, können verschiedene Probleme auftreten:
Schlafstörungen: Menschen mit Dysregulation haben häufig Schwierigkeiten beim Ein- und Durchschlafen sowie unregelmäßige Schlafzeiten. Dies kann zu Müdigkeit, Konzentrationsproblemen und Stimmungsschwankungen führen.
Hormonelle Dysregulation: Stresshormone wie Cortisol können bei Menschen mit Dysregulation unregelmäßig ausgeschüttet werden. Dies kann zu erhöhter Reizbarkeit, emotionaler Instabilität und körperlichen Beschwerden führen.
Emotionale Dysregulation
Emotionale Dysregulation bezieht sich auf die Schwierigkeit, emotionale Reaktionen zu kontrollieren und zu regulieren. Dies kann zu extremen Stimmungsschwankungen und intensiven emotionalen Reaktionen führen:
Stimmungsschwankungen: Häufige und plötzliche Wechsel zwischen verschiedenen emotionalen Zuständen sind typisch. Menschen mit emotionaler Dysregulation können schnell von Freude zu Traurigkeit oder Wut wechseln.
Impulsivität und Hyperaktivität: Diese Symptome können als Ausdruck einer inneren emotionalen Unruhe und eines unregelmäßigen emotionalen Rhythmus verstanden werden.
Interaktionelle Dysregulation
Interaktionelle Dysregulation betrifft die sozialen Interaktionen und die Fähigkeit, sich in soziale Kontexte einzufügen. Menschen mit dieser Form der Dysregulation haben Schwierigkeiten, soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten und konsistente soziale Muster zu folgen:
Unregelmäßige soziale Interaktionen: Schwierigkeiten, soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten und konsistente soziale Muster zu folgen.
Probleme mit sozialen Signalen: Missverständnisse in der Kommunikation und Schwierigkeiten, soziale Hinweise richtig zu interpretieren, sind häufig.
DYMERS: Eine umfassende Sicht
Das Konzept von DYMERS beschreibt nun eine Störung, bei der die zeitliche Struktur und Regelmäßigkeit sozialer Aktivitäten und Rhythmen erheblich gestört sind. Ursprünglich im Kontext von Bipolarstörungen untersucht, hat sich gezeigt, dass DYMERS auch bei anderen Zuständen wie Panikstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und ADHS eine Rolle spielt. Die Frage, die sich hierbei stellt, ist, ob es sich bei DYMERS um ein grundlegendes Merkmal von Menschen mit Regulationsstörungen handelt, die bereits in der frühen Kindheit beginnen und später zu unterschiedlichen Diagnosen führen.
Eine Studie, die im "Clinical Practice & Epidemiology in Mental Health" veröffentlicht wurde, untersuchte die Dysregulation sozialer Rhythmen bei älteren Erwachsenen mit Panikstörungen. Die Ergebnisse zeigten, dass Personen mit Panikstörungen signifikant höhere Werte auf einer Skala zur Messung der biologischen Rhythmusstörung hatten als Personen ohne Panikstörungen. Diese Dysregulation war unabhängig von der Anwesenheit depressiver Episoden und deutet darauf hin, dass DYMERS eine gemeinsame Grundlage für verschiedene psychische Störungen sein könnte.
Dysregulation in der frühen Kindheit
Es gibt Hinweise darauf, dass viele Menschen, die später Diagnosen wie ADHS, Bipolarstörung oder Panikstörung erhalten, bereits in der frühen Kindheit Anzeichen von Dysregulation zeigen. Diese Kinder haben oft Schwierigkeiten, regelmäßige Schlaf- und Essenszeiten einzuhalten, zeigen extreme emotionale Reaktionen und haben Probleme mit der sozialen Interaktion.
Frühe Schlafstörungen: Viele Kinder, die später ADHS oder andere Störungen entwickeln, zeigen bereits früh Schwierigkeiten beim Ein- und Durchschlafen. Diese Schlafprobleme können die Entwicklung und Funktion des Gehirns beeinträchtigen.
Emotionale Instabilität: Kinder mit Dysregulation zeigen oft extreme emotionale Reaktionen und haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu kontrollieren. Dies kann zu Problemen in der Schule und im sozialen Umfeld führen.
Soziale Schwierigkeiten: Diese Kinder haben häufig Schwierigkeiten, sich in soziale Gruppen einzufügen und stabile Freundschaften zu pflegen. Sie können als unberechenbar oder schwierig wahrgenommen werden.
DYMERS und spätere Diagnosen
Die Dysregulation, die in der frühen Kindheit beginnt, kann sich im Laufe der Zeit manifestieren und zu verschiedenen psychischen Störungen führen. Menschen mit einer Geschichte der Dysregulation könnten aufgrund ihrer anhaltenden Schwierigkeiten mit biologischen, emotionalen und sozialen Rhythmen unterschiedliche Diagnosen erhalten, abhängig von den dominierenden Symptomen und dem Kontext, in dem sie leben.
ADHS: Diese Diagnose wird oft gestellt, wenn Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität im Vordergrund stehen. Die zugrunde liegende Dysregulation zeigt sich in unregelmäßigen Tagesabläufen, Schlafproblemen und emotionaler Instabilität.
Bipolarstörung: Bei dieser Störung stehen extreme Stimmungsschwankungen im Vordergrund. Die zugrunde liegende Dysregulation könnte erklären, warum diese Menschen sowohl depressive als auch manische Episoden erleben.
Panikstörungen: Hier sind plötzliche und intensive Angstattacken charakteristisch. Die zugrunde liegende Dysregulation könnte zu einer erhöhten Empfindlichkeit gegenüber Stress und zu unvorhersehbaren emotionalen Reaktionen führen.
Ein integratives Störungsmodell
Das Verständnis von DYMERS als grundlegende Dysregulation, die zu verschiedenen Diagnosen führen kann, bietet eine integrative Perspektive auf neurodivergente Zustände. Ein solches Modell könnte die unterschiedlichen Manifestationen von Dysregulation in biologischen, emotionalen und sozialen Bereichen zusammenfassen und erklären, wie sie zu den beobachteten Symptomen führen.
Biologische Ebene
Schlaf-Wach-Rhythmus: Schwierigkeiten beim Aufrechterhalten eines regelmäßigen Schlaf-Wach-Zyklus können zu chronischer Müdigkeit und kognitiven Beeinträchtigungen führen.
Hormonelle Schwankungen: Unregelmäßige Muster bei der Ausschüttung von Hormonen wie Cortisol können das Stressniveau und die emotionale Reaktivität beeinflussen.
Emotionale Ebene
Stimmungsschwankungen: Extreme und plötzliche Wechsel in der Stimmung können zu emotionaler Instabilität und Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen führen.
Impulsivität: Die Unfähigkeit, Impulse zu kontrollieren, kann zu riskantem Verhalten und Problemen in verschiedenen Lebensbereichen führen.
Soziale Ebene
Unregelmäßige soziale Muster: Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung konsistenter sozialer Interaktionen können zu Isolation und Missverständnissen führen.
Probleme mit sozialen Signalen: Schwierigkeiten, soziale Hinweise zu interpretieren und angemessen darauf zu reagieren, können zu Konflikten und sozialem Rückzug führen.
Implikationen für die Behandlung
Ein integratives Verständnis von DYMERS kann auch die Behandlung neurodivergenter Zustände revolutionieren. Anstatt sich ausschließlich auf die symptomatische Behandlung einzelner Diagnosen zu konzentrieren, könnte ein Ansatz, der die zugrunde liegende Dysregulation adressiert, umfassendere und nachhaltigere Verbesserungen bewirken.
Schlafhygiene: Maßnahmen zur Verbesserung der Schlafqualität und -regelmäßigkeit könnten einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung biologischer Rhythmen leisten.
Emotionale Regulation: Techniken zur Förderung der emotionalen Stabilität, wie Achtsamkeit und kognitive Verhaltenstherapie, könnten helfen, emotionale Schwankungen zu reduzieren.
Soziale Unterstützung: Programme zur Förderung konsistenter sozialer Interaktionen und zur Verbesserung der sozialen Fähigkeiten könnten helfen, interaktionelle Dysregulation zu mindern.
Die soziale Rhythmusdysregulation (DYMERS) bietet eine umfassende Perspektive auf die Herausforderungen, denen sich neurodivergente Menschen gegenübersehen. Insbesondere für Erwachsene mit ADHS kann die Dysregulation sozialer Rhythmen erheblich zu den täglichen Schwierigkeiten und der psychischen Belastung beitragen. Weitere Forschung ist notwendig, um die genauen Mechanismen und effektive Interventionen zu verstehen. Bis dahin könnten Strategien zur Stabilisierung sozialer Rhythmen einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden und die Lebensqualität von Menschen mit ADHS und anderen neurodivergenten Zuständen haben. Ein integratives Störungsmodell, das Dysregulation in biologischen, emotionalen und sozialen Bereichen berücksichtigt, bietet eine vielversprechende Grundlage für zukünftige Forschung und Therapieansätze.
Quellen
Primavera D, Cossu G, Marchegiani S, Preti A, Nardi A. Does the Dysregulation of Social Rhythms Syndrome (DYMERS) be Considered an Essential Component of Panic Disorders? Clin Pract Epidemiol Ment Health. 2024;20:e17450179293272. DOI: 10.2174/0117450179293272240328053722
Glosse: Im Dschungel der „Stinos“ – Ein ADHS-Erwachsener berichtet
Ach, die neurotypischen „Stinos“ (langweilig-Standard-„Normalos“) – ein faszinierendes Völkchen. Man könnte meinen, sie leben in einer Welt voller Unsichtbarkeitstarnkappen und werden von Nachfahren der Heinzelmännchen gesteuert. Sie bewegen sich inmitten von To-Do-Listen und Zeitplänen, die sie tatsächlich einhalten. Ja, richtig gehört. Für einen ADHS-Erwachsenen wie mich klingt das nach purer Science-Fiction.
Schon das erste Aufeinandertreffen mit einem Stino kann zu einem unvergesslichen Erlebnis werden. „Wollen wir uns morgen um 14:30 Uhr treffen?“ – Klar, warum nicht? Doch während der Stino schon längst wieder in seine geregelte Bahn zurückgekehrt ist, bin ich gerade dabei, meine dritte Erinnerung in mein Handy zu tippen. Spoiler: Ich werde trotzdem zu spät kommen.
Die Welt der Stinos ist durchzogen von Normen, Regeln und Erwartungen. Jeder Anflug von Spontaneität wird als Störung im System empfunden. Eine typische Szene: Das Meeting ist vorbei, alle packen konzentriert ihre Sachen. Alle, außer mir. Ich finde plötzlich das Muster des Teppichbodens faszinierend oder überlege, wie viele Deckenplatten es wohl in diesem Raum gibt. Der Stino daneben: „Hast du noch eine Frage?“ – Nein, ich denke nur gerade darüber nach, ob man aus den Platten ein cooles Mosaik legen könnte.
Und dann die Smalltalk-Falle. Oh, die Königsdisziplin der Stinos. Während sie locker und eloquent über das Wetter oder den neuesten Trend plaudern, blitzt in meinem Kopf ein Feuerwerk aus Gedanken auf. „Warum reden wir über das Wetter? Können wir nicht gleich über die möglichen Auswirkungen des Klimawandels auf die Biodiversität diskutieren?“ Doch anstatt das laut auszusprechen, nicke ich höflich und sage: „Ja, echt warm heute.“ Bravo, Oscar-reife Leistung.
Besonders charmant wird es, wenn es um Multitasking geht. Stinos behaupten gerne, Multitasking wäre eine ihrer Kernkompetenzen. Während sie stolz zwei Aufgaben gleichzeitig erledigen, jongliere ich zehn – und vergesse dabei neun. Das Ergebnis? Ein Stino wird fertig und geht pünktlich nach Hause, während ich immer noch versuche, mich zu erinnern, womit ich eigentlich angefangen habe.
Doch es gibt Hoffnung. Manchmal finde ich den einen Stino, der meine Welt der chaotischen Brillanz und sprunghaften Ideen schätzt. Der mir hilft, meinen Kalender zu pflegen und trotzdem über Mosaikdecken spricht. Denn, so scheint es, kann die Cross-Neurotype Interaction auch fruchtbar sein – ein buntes Kaleidoskop aus Strukturiertheit und Kreativität.
Am Ende des Tages bleiben wir doch alle Menschen mit unseren Eigenheiten. Und vielleicht, nur vielleicht, lernen die Stinos von uns ADHSler, dass das Leben mehr ist als nur ein geordnetes Chaos – manchmal ist es auch ein chaotisches Wunder.