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share it 'til it's over

Gibt es überhaupt etwas, das man an der Pandemie mögen kann, fragte eine Bekannte vor ein paar Tagen auf Facebook. Ich antwortete, für mich sei es die Möglichkeit, länger zu schlafen. Sogar meine sechsjährig Tochter schläft mittlerweile länger als vor der Pandemie – bis acht liegen wir meistens gemeinsam morgens im Bett. Dass wir, sobald sie im Sommer eingeschult wird, rund zwei Stunden früher aufstehen müssen, kommt mir schon jetzt absurd vor. Ich schlafe in der Pandemie trotzdem noch immer zu wenig, da ich es selten vor Mitternacht ins Bett schaffe, seit Wochen ohnehin oft lange wach liege und das Baby meistens noch einmal Hunger hat, wenn ich mich neben es lege. Aber mein Schlafpensum vor der Pandemie war noch ungesünder, viel zu wenig – genau wie das von vielen anderen Menschen. Die meisten, auf die morgens Aufgaben wie Erwerbsarbeit, Ausbildung oder Schule warten, bekommen in der Realität, die wir mittlerweile als ,alte Normalität‘ bezeichnen, zu wenig Schlaf. An dieser Stelle ist der Ausnahmezustand für einige tatsächlich ein wenig besser.

Etwa acht Stunden werden von Wissenschaftler_innen als ideal erachtet, doch wenn ich mich daran halten würde, dürfte ich an den meisten Abenden nicht einmal mehr abends die Spülmaschine anstellen, keine Serie schauen und keine Nachrichtensendung, die erst nach 22 Uhr endet, da ich mich etwa um die Uhrzeit ins Bett legen müsste.

Warum akzeptieren wir, dass so viele Menschen an chronischem Schlafmangel leiden? Denn weder das Wochenende noch Urlaub sind geeignet, den fehlenden Schlaf nachzuholen. Unser Körper speichert die Erholung des Ausschlafens an einem Sonntag nicht ab, um sie an den Tagen abzurufen, an denen nach fünf oder sechs Stunden der Wecker klingelt.

Meine Vermutung ist, dass wir zurückkehren zum alten Schlafmangel, wenn die Pandemie irgendwann ausläuft und mehr Menschen vom Homeoffice wieder in ihre Büros wechseln, abends ausgehen und das Verpasste nachholgen und wieder alle Kinder zur Kita und Schule gebracht werden müssen. Die Gesundheit ist eben doch nicht so wichtig, wie gerade behauptet wird. Über sie wird nicht mehr gesprochen, wenn das gesunde Leben dem Ziel im Weg steht, dass Menschen möglichst viel erwerbsarbeiten sowie gesunde Umgebungen, gesündere Städte den Staat mehr Geld kosten würden.

Der Journalist Michael Hobbes hat in seinem Artikel „Everything You Know About Obesity Is Wrong“ (Opens in a new window)eine ähliche Analyse dazu formuliert, dass Politiker_innen oft besorgt kommentieren, dass immer mehr Menschen an Gewicht zulegten, politisch aber wenig dafür getan werde, dass möglichst viele von uns sich gesund ernähren und regelmäßig bewegen können.

„For 40 years, as politicians have told us to eat more vegetables and take the stairs instead of the elevator, they have presided over a country where daily exercise has become a luxury and eating well has become extortionate.“

Die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und weitere Politiker_innen haben in Deutschland zuletzt die Gewichtszunahme von Kindern, seitdem sie nicht mehr zur Schule gehen können und mehr Zuhause herumsitzen, als Argument für Öffnungen herangeführt. Aber setzt das deutsche Schulsystem auf tägliche Bewegung? Ist der Sportunterricht so gestaltet, dass alle Kinder es genießen können, sich körperlich auszuprobieren?

Die Schule wird in der Corona-Krise plötzlich als idealer Ort beschrieben, der die vielfältigen Bedürfnisse von ganz unterschiedlichen Schüler_innen mühelos erfüllen könne, was zu Recht bei Eltern und Kindern auf Unverständnis trifft, wenn sie ihre Erfahrungen mit Schule damit abgleichen. Es gibt Kinder, denen geht es gerade ohne Schule besser. Auch das gehört zur Diskussion dazu. Ein 14-jährige schreibt bei „der Freitag“ (Opens in a new window):

„Während des Lockdowns sah ich nur die Leute, die mir guttun. Für Leute, die sonst in der Schule gemobbt werden, war das echt das Beste. Von allen, die ich kenne, wollte fast niemand mehr zurück in die Schule. Weil die Schule so toxisch ist.“

Zwar gehen seit dieser Woche wieder mehr Kinder in die Schulen und Kindergärten, aber die Trainings in Kinder-Sportvereinen befinden sich weiterhin im Lockdown. Sollen sie doch durch Baumärkte rennen!

So viel dazu, dass Kinder dieses Mal WIRKLICH zuerst dran sind. Dass es so kommt, habe ich ohnehin nicht geglaubt. Ich finde mich manchmal zu zynisch, ja. Aber die Einschätzungen dazu, welche politische Priorität Kinder in Deutschland haben, sind nicht zynisch. Sie sind realistisch.

Mehr zu diesem Thema schreibe ich in der nächsten Kolumne fürs SZ-Magazin (Opens in a new window), die am Dienstag erscheint. Für den neuen Text habe ich unter anderem mit Sue Reindke gesprochen, die Lehrerin ist und nun außerdem als Beraterin für Remote-Work und Leadership arbeitet. Sie schreibt einen neuen Newsletter, der Work in Progress (Opens in a new window) heißt, und da ich Sues Texte schon lange liebe, wird auch diese Idee von ihr sicherlich ganz toll.

Es gibt noch eine zweite Veränderung, die von der Pandemie angestoßen wurde und die von mir aus bleiben kann: Oversharing is over. Der Begriff wurde in den letzten Jahren benutzt um zu beschreiben, dass andere Menschen – meist auf Berichte in sozialen Netzwerken bezogen – zu viele private Details aus ihrem Leben mitteilen.

Kannst du dich erinnern, wann du das letzte Mal einen Post von jemandem auf Instagram, Twitter, Facebook oder wo auch immer gelesen und gedacht hast: „Das ist mir too much? Muss die Person das von sich teilen?“

Wenn man an dieser Stelle einmal in sich geht und darüber nachdenkt, bei welchen Themen man das so genannte Oversharing wahrgenommen hat, werden Muster deutlich. Oft sind die Erfahrungen, die sogar in Räumen kleinerer Öffentlichkeiten als zu intim erachtet werden, bereits gesellschaft tabuisiert oder über eine soziale Norm zu einer Sache erklärt worden, über die man nur mit einem kleinen Personenkreis sprechen soll.

Warum gibt es bei Facebook eigentlich nicht den Gefühlszustand „PMS”?

Naja, wir wissen, warum.

Dass man sich gerade beim Zwiebelschneiden in den Finger geschnitten hat, kann man problemlos in den Büro-Chat schreiben, dass man begonnen hat an anderer Stelle zu bluten und die Tamponschachtel leer ist, nur in den wenigstens Teams.

In Erinnerung geblieben ist mir ein Tweet von der US-Amerikaerin Penelope Trunk (und ich bin ein bisschen baff, dass ich mit meinem Pandemie-Brain etwas von 2009 erinnern kann), die damals erleichtert darüber schrieb, eine Fehlgeburt zu haben, während sie in einem Vorstandsmeeting saß:

„I'm in a board meeting. Having a miscarriage. Thank goodness, because there's a fucked-up three-week hoop-jump to have an abortion in Wisconsin.“

Der Tweet löste eine Welle der Berichterstattung darüber aus, wie es eine Frau wagen könnte, derart offen über ihre Fehlgeburt zu schreiben und dann auch noch einräume, diese habe ihr eine Abtreibung erspart. Hier schreibt sie im Guardian (Opens in a new window) darüber, warum sie darüber twitterte.

Hätte ich mich vor zehn Jahren getraut, das zu twittern?

Ich hoffe jedenfalls, ich würde es heute tun. Darauf, dass ich beim Bloggen und Twittern vermeintlich „overshare“, bin ich vor vielen Jahren sogar schon einmal in einem Bewerbungsgespräch angesprochen worden, kritisiert worden. Es könnte dieser Tweet hier gewesen sein. Ich wurde jedenfalls gefragt – von einer Chefredaktion – warum ich darüber twittern würde, jemanden zu küssen.

https://twitter.com/teresabuecker/status/20907830345203712 (Opens in a new window)

Vielleicht verfasse ich morgen einen Tweet darüber, wie gern ich mal wieder eine Nacht in einem Club durchknutschen würde. Auf Vorrat knutschen ist in etwas genauso schwer, wie vorzuschlafen.

Und es sind ja nicht nur kleine Social-Media-Postings, die vermeintlich zu viel erzählen. Ich finde es schade, dass „Personal Essays“ im deutschsprachigen Raum nach wie vor weniger verbreitet sind als in englischsprachigen Medien und Essay-Sammlungen. Wir tun uns hier schwerer mit Verletzlichkeit, Gefühlen, Ambivalenzen und unfertigen Gedanken und tun so, als könnten Autor*innen im eigenen Text abwesend sein, nur weil sie das Ich vermeiden.

Es gibt diese Essays auch hier, manche schaffen es sogar, für Journalismus-Preise nominiert zu werden, bei denen ich als Jury-Mitglied ab und an mitdiskutiere über die besten Texte. Auch wenn der Begriff Oversharing für persönliche Essays so nicht gefallen ist, stützt sich die Kritik an ihnen meist auf das Unbehangen, dass dort jemand ein Thema bespricht anhand der eigenen Erfahrung, das die gesellschaftliche Norm doch mit so viel Kraft versucht aus einer breiteren Öffentlichkeit herauszuhalten.

Ich hingegen bin der Überzeugung, dass die Vermittlung von bestimmten Themen sogar am besten über einen Personal-Essay gelingen kann. Auch Journalismus darf so intim sein.

Ja, aber doch nicht so. – Doch, so.

Sich nur in Internet-Foren und Facebook-Gruppen über bestimmte Themen austauschen zu können, ist doch ein wenig traurig.

Aber es bewegt sich etwas. 2019 hat die Jury des Reporterpreises, zu der ich gehöre, den Essay von Else Buschheuer „Kriegerin“ (Opens in a new window) ausgezeichnet, der eine sehr persönliche, intime Erfahrung des Findens ihrer Geschlechtsidentität beschrieb.

„Ich fühle mich befreit, seit mein gesellschaftliches Korsett gesprengt ist. Seitdem ich atmen kann, so weit der Brustkorb es zulässt. Mein Herz hat mehr Platz. Ich kann und will nicht mehr in den klassischen Mann-Frau-Schienen fahren. Heute definiere ich mich als lesbisch und genderfluid – wobei sich das stündlich ändern kann.“

Oversharing wird auch häufig dann diagnostiziert, wenn Menschen die Relevanz eines Themas nicht erfassen können, weil diese Erfahrung in ihren Leben keine Bedeutung hat oder sie zu wenig darüber wissen. Daher finde ich es toll, dass der Autor und Buchhändler Linus Giese (Opens in a new window) viele Einblicke in seine Transition gibt und kürzlich auch Fotos von seinem Körper nach einer Mastektomie teilte – und seine Gefühle dazu.

Etwas als Oversharing zu bezeichnen ist der Versuch, Erfahrungen stumm zu schalten, den Zugang zu Wissen zu begrenzen, Empathie zu erschweren.

Ohnehin sollte man nicht den Fehler zu machen, zu glauben, dass Menschen, die in Texten viel von sich erzählen, all ihre Gefühle, Gedanken und Erlebnisse offenlegen würden.

Meine Wahrnehmung jedenfalls ist, dass Menschen seit Beginn der Pandemie offener mit ihren Ängsten und Gefühlen umgehen und sie dafür nicht gleich der Vorwurf trifft, sie teilten zu viel von sich. Da sich im Alltag der allermeisten Menschen viel verändert hat, gibt es eine größere Offenheit dafür, sich erzählen zu lassen, wie es anderen geht. Es ist leichter geworden, über psychische Belastungen zu sprechen, weil mehr von uns diese gerade erleben. Es ist gerade kein Stigma, einsam zu sein, traurig und erschöpft.

In der New York Times schrieb Jessica Grose in dieser Woche den Artikel „Why Your Brain Feels Broken“ (Opens in a new window), in dem sie über die Effekte der psychischen Belastung der Pandemie auf unser Gehirn und das Erinnerungsvermögen schreibt und erklärt, wie diese zustande kommen. Es geht dabei auch um ihre eigenge kognitive Leistungsfähigkeit, die sie als wesentlich schlechter als vor der Pandemie beschreibt. Sie habe Schwierigkeiten die Begriffe zu erinnern, die sie benutzen will, kann Gesprächen mit ihrem Mann nicht mehr folgen und vergisst, was er kurz vorher gefragt habe.

In anderen Zeiten wäre es für eine Journalistin ein Desaster, dass ihr wichtigstes berufliches Werkzeug nicht mehr richtig funktioniert – jetzt kann sie es einfach zugeben und sogar zum Thema eines Textes machen.

Eine andere Form der Offenheit las ich vor einigen Wochen in der Abwesenheitsnotiz von Lena Rogl (Opens in a new window), die als Digital-Managerin arbeitet, und war so begeistert davon, dass ich gleich eine zweite Mail hinterherschickte.

In der automatischen Antwort stand:

Dear Sender,
I'm working from home.
"Home" in my case means: a house full of pubescent children who alternately have a life crisis. If, for once, they don't have a life crisis, their parents have a life crisis.
"Working" in my case means: I have to read mails three times until I understand the content. Then I need three attempts to reply to a mail.
I am very grateful for your patience!

Please keep oversharing.

Ein Veranstaltungstipp zum Weltfrauentag am 8. März. „Brot für die Welt“ zeigt den Dokumentarfilm „Woman“ (Opens in a new window), für den die Filmemacher*innen Anastasia Mikova und Yann Arthus-Bertrand 2000 Frauen in der ganzen Welt interviewt haben und damit in einem Film viele unterschiedlichen Lebenserfahrungen abbilden: sowohl Schönes, Aufregendes, Ermutigendes als auch Berichte über sexualisierte und häusliche Gewalt, Genitalverstümmlung, Kriegserfahrungen. Hier ist ein kurzer ttt-Beitrag (Opens in a new window) über den Film.

https://www.youtube.com/watch?v=UzmUXJ1fqBI (Opens in a new window)

Den Film kann man sich nach Anmeldung bei der Veranstaltung (Opens in a new window) das Wochenende vor dem Weltfrauentag ansehen. Bei der Veranstaltung sprechen Carsta Neuenroth, Genderbeauftragte Brot für die Welt und Dr. Silke Pfeiffer, Leitung Referat Menschenrechte und Frieden Brot für die Welt, Elisa May, Geschäftsführerin der Agentur für Filmkommunikation Kern des Ganzen, die Anwältin für Familienrecht und Gewaltschutz Asha Hedayati (Opens in a new window)und ich über Themen des Films und Gleichberechtigung in Deutschland und der ganzen Welt.

Die Moderation hat Ursula Ott, Chefredakteurin von chrismon und evangelisch.de.

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