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»Alkoholiker bleibt man für immer«

Mika fragt sich, wieso der Alkoholiker immer noch so präsent in unseren Köpfen ist und woher diese Idee kommt, dass man es »für immer« bleiben muss.

Grauzone, Symbolbild

Ich behaupte: Der Alkoholiker wurde nicht entdeckt wie die Gravitation oder die Elektrizität. Er wurde erfunden, wie die Abseitsregel oder Geld. Man einigte sich auf ihn. Er ist ein soziales Konstrukt, das so selbstverständlich geworden ist, dass die meisten Menschen keine Sekunde darüber nachdenken würden, woher ihre Vorstellungen über ihn kommen. »Hä? Das weiß man doch,« sagen sie vielleicht, wenn man sie fragt, wieso man zum Beispiel »für immer« Alkoholiker bleibt. »Konstrukt« bedeutet natürlich nicht, dass alles was mit Alkoholabhängigkeit zu tun hat, ausgedacht ist. Das Leid Betroffener und Angehöriger ist real. Alkohol ist real, genauso wie psychische und körperliche Folgen des Trinkens. Weder kann – noch sollte – man sie wegdekonstruieren. 

Doch die Frage, wieso das Bild vom Alkoholiker so tief in unsere Gesellschaft eingeschrieben ist, treibt mich um. Wieso sprechen wir nicht von Kokainikern? Oder besser gesagt: Wieso sprechen wir nicht mehr von Kokainikern? Wieso gibt es trockene Alkoholikerinnen, aber keine gelüfteten Nikotinikerinnen? Was ist anders am Alkohol und den Menschen, die davon abhängig werden? Wieso werden wir sprachlich so sehr mit der Droge verschmolzen und wieso erlaubt man uns nicht, uns davon zu trennen?

Ja, natürlich! Semantik!

Es könnte mit etwas zusammenhängen, was der Sozialwissenschaftler Michael Schabdach Drogen- bzw. Suchtsemantik nennt.¹ Um jetzt nicht zu tief einzusteigen, was zur Hölle eigentlich Semantik ist, formuliere ich das mal ein bisschen anders:

Auch wenn inzwischen anerkannt ist, dass immer mehrere Faktoren zu einer Suchtentwicklung führen, und man natürlich gar nicht erst über Schuld reden sollte, gibt es in der öffentlichen Diskussion – ganz grob gesagt – zwei Lager: Die einen sehen das Problem in der Droge, die anderen in dem Menschen, der sie konsumiert. Je nachdem, welche Sichtweise man vertritt, wird man andere Schlüsse ziehen, wie mit Sucht umzugehen ist.

Liegt’s an der Droge?

Dass Drogen schlecht sind und unweigerlich abhängig machen, entspricht in etwa dem Alltagswissen der meisten Menschen, wenn es um »harte Drogen« wie Heroin oder Meth geht. Es ist dasselbe Deutungsmuster, das dem »Krieg gegen Drogen« des US-Präsidenten Richard Nixon zugrunde lag oder der wahnsinnig klugen Feststellung, Cannabis sei kein Brokkoli.² Wenn die Substanz als Schuldige gilt, ist die logische Konsequenz, sie zu bekämpfen, zu regulieren oder zu verbieten. Die »Süchtigkeit« wird zu einer Eigenschaft, die in der Droge lauert und dann auf jeden Menschen übergeht, der sie konsumiert. Dieses Framing zeigt sich zum Beispiel im Wort »Drogenopfer« (der Mensch wird Opfer der Droge). Bemerkenswert ist auch, dass im abwertenden Begriff »Junkie« (»Junk« = »Müll«), der Mensch, anders als beim »Alkoholiker«, nicht mit der Droge verschmilzt, sondern mit den sozialen Folgen des Konsums.

Interessanterweise entbindet diese Denkweise jedoch die Konsument:innen nicht von der Schuldfrage. Sie hätten diese gefährlichen Drogen schließlich gar nicht erst nehmen sollen! Erstkonsum wird zu so etwas wie einer »Ursünde«, die den Suchtkranken anhaftet. Besonders sichtbar wird die unterschiedliche Bewertung von Schuld bei Medikamentenabhängigkeit. So schreiben Schomerus und Corrigan, eine Studie habe gezeigt, »dass eine Erzählung über eine Person mit Opioidkonsumstörung, die erstmals Opioide auf ärztliche Verschreibung hin einnahm, mit geringerer Stigmatisierung […] einherging als eine ansonsten identische Erzählung, in der die Person die verschreibungspflichtigen Opioide zunächst illegal von einem Freund erhielt.«³

Das Verteufeln von psychoaktiven Substanzen hält sich besonders hartnäckig für illegale Drogen, weil diese im Privaten konsumiert werden (logisch, sie sind ja auch illegal). Sichtbar werden deshalb nur die Konsument:innen, die aufgrund von Schwierigkeiten im Hilfesystem landen oder im Stadtbild auffallen. Es gibt schlicht kein Bild einer »mäßigen« oder »normalen« Heroin-Nutzerin. Das Drogenverbot erzeugt damit seine eigene Legitimation: Weil Drogen verboten sind, sehen wir nur den extremen Teil des Suchtspektrums, und weil der Konsum offensichtlich immer zu dramatischen Folgen führt, müssen wir Drogen verbieten. 

Liegt’s am Menschen?

Diese Erzählung der »schuldigen Droge« gerät ins Wanken, wenn es um Alkohol geht. Er wird von nahezu allen Menschen konsumiert und die meisten von ihnen entwickeln keine handfeste Sucht (viele natürlich schon). Das Bild der genussvollen, gemäßigten Konsumentin, das für illegale Drogen fehlt, haben wir für Alkohol umso mehr: Bouquets, Tannine, Genuss, Bla bla. Die meisten Menschen denken über Alkohol nicht als »Droge« nach. Sie wissen quasi nichts über die Risiken, außer irgendwas mit der Leber, aber die regeneriert sich ja. Wenn es an der Droge nicht liegt, muss es ja am Menschen liegen.

Bisschen Geschichte

Es gab tatsächlich mal eine Zeit, in der sich Alkoholgegner:innen zum Ziel gesetzt hatten, diesen lockeren Umgang mit dem Alkohol zu ändern: Im ausgehenden 19. Jahrhundert galt Alkohol in der Fachwelt als sogenanntes »Keimgift«.⁴ Gemeint war damit, dass er das Erbgut schädigen würde. Die so entstandenen »Degenerationen« würden wiederum an Nachkommen weitergegeben. Und das, so meinten die Alkoholgegner:innen, würde letztlich zum Untergang der Gesellschaft führen. Doch der Versuch, die Bevölkerung mit dieser Argumentation zur Abstinenz zu bekehren, war nicht besonders erfolgreich. Neben den vielen Beispielen von »gemäßigtem Konsum«, hatte die Keimgift-Idee nämlich noch ein weiteres Problem: 

Eine pauschale Kritik am Alkohol bedeutete, dass sich die oberen Schichten nicht von dem »Unterschichtsproblem Alkoholismus« abgrenzen konnten. Die Behauptung, dass ihr kostbarer Wein ihre Nachkommen »degenerieren« würde, war in der gesellschaftlichen Elite nicht gerade konsensfähig. Es war dann doch besser, wenn der oder die Einzelne Schuld hatten – So konnte Alkoholsucht ein Unterschichtenphänomen bleiben. Dafür musste man natürlich ein paar mentale Verrenkungen machen. Und die gingen so:

Alkoholiker, so die Behauptung, wurden nur deshalb von Alkohol abhängig, weil sie sowieso schon »psychisch minderwertig« waren. So sprach beispielsweise der Vater der Sozialhygiene Alfred Grotjahn 1898 von »Trunksucht aus psychopathischer Konstitution«, was für Jahrzehnte synonym mit der Diagnose »schwerer Alkoholismus« sein sollte. Bei diesen Patienten galt das Trinken als »Symptom ihrer geistigen Anomalie« bzw. ihrer »psychopathischen Minderwertigkeit«, wie es die Historikerin Elke Hauschildt in ihrem sehr eindrucksvollen Buch über die Deutsche Trinkerfürsorge beschreibt.⁶

Ein bisschen später, als die deutsche Suchthilfe dem NS-Regime dabei half, alkoholkranke Menschen in Arbeits- und Konzentrationslager zu liefern, erwies sich diese Sichtweise als sehr gelegen. Man konnte wunderbar unterscheiden, zwischen denen, die zwar problematisch tranken, aber nicht im eigentlichen Sinne Alkoholiker waren, weil sie dem Bürgertum oder der NSDAP angehörten, und denen, die »richtige« Alkoholiker waren. Erstere waren nur vorübergehend durch äußere Umstände in die Verlegenheit eines kleinen Suchtproblems geraten, letzteren war die Minderwertigkeit in die Gene geschrieben. Meist waren sie arm oder passten aus anderen Gründen nicht in das Ideal des »gesunden Volkskörpers«. Für die Suchthilfe löste diese Sichtweise ein weiteres Problem: Man musste die knappen Ressourcen nicht mehr auf die als »asozial« gebrandmarkten Fälle verschwenden. Ein Zitat aus dem Jahr 1934 von dem Vorsitzenden der Deutschen Guttempler und dem späteren Vorsitzenden der DHS, Theo Gläß, bringt diese Spaltung in die sogenannte »betreuende und ausmerzende Fürsorge« auf den Punkt:

»Bei einer gründigen Organisation der Trinkerfürsorge-Arbeit müssen unterschieden werden die Asozialen und die Trinker, die nur scheinbar trunksüchtig […] sind. Die erste Gruppe muss hart angefasst werden und gehört ins Arbeitshaus. Die zweite gehört in die Behandlung des Arztes. Selbstverständlich werden wir Guttempler auch für diese beiden Gruppen Hilfsarbeit leisten, wenn es möglich ist. Unser eigentliches Arbeitsgebiet aber sind die, die nach dieser Sichtung übrig bleiben.«⁵

Abgrenzung Abgrenzung Abgrenzung

Natürlich leben wir heute in anderen Zeiten. Wir reden nicht mehr über »degenerierte Idioten« oder schicken Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen ins Arbeitslager. Ich glaube aber schon, dass etwas von dieser Sichtweise weiterlebt – auch, weil wir nie eine gesellschaftliche Debatte darüber hatten. Unter dem Deckmantel von generationalem Schweigen können sich diese schrägen Ideen unhinterfragt verstecken.

So zum Beispiel die Idee, dass die Identität, »ein:e Alkoholiker:in« zu sein, für immer bleibt, und man auf dem besten Weg in den Rückfall ist, wenn man aufhört, sich so zu bezeichnen. Das Trinken gilt nicht als Teil einer komplexen innerpsychischen Dynamik, in der Droge, Lebensumstände und Biologie auf ungünstige Weise zusammenkamen, sondern als Beweis für eine bereits angelegte psychische oder genetische Minderwertigkeit. Natürlich wird man die nicht los.

Und dann ist da noch diese Trennlinie, die zwischen Menschen mit Alkoholproblemen läuft. Ich kenne sie nur zu gut aus meiner eigenen Geschichte. Ich war ebenfalls der Meinung, dass ich da irgendwie reingerutscht war, aber nicht im eigentlichen Sinne Alkoholikerin war. Was genau die »richtige Alkoholikerin« von mir unterschied wusste ich nicht, es war eher ein Gefühl, dass ich das nicht war. Mit dem Blick auf Grotjahn: Ich trank doch nicht aus »psychopathischer Konstitution«. Ich trank, weil es Spaß machte. Ich suchte deshalb nach all den Stellschrauben, die im Außen lagen: Wenn ich nur das richtige Yoga, einen besseren Job oder die glückliche Beziehung fände, würde sich das mit dem Trinken von selbst erledigen.

Ich habe erst viel später verstanden, dass ich damit einer alten Erzählung aufgesessen bin, die gemacht wurde, um das Trinken der Mächtigen zu schützen. Es ist natürlich völlig richtig und wichtig zu sagen, dass diese Idee des minderwertigen Alkoholikers auf uns nicht zutrifft. Wir sollten nur nicht vergessen zu sagen, dass sie auf niemanden zutrifft.

Bisschen Quellen zu den vielen Behauptungen:

¹ Schabdach, Michael: Soziale Konstruktionen des Drogenkonsums und Soziale Arbeit. Historische Dimensionen und aktuelle Entwicklungen, VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2009. S. 83

² Die damalige Drogenbeauftragte des Bundes, Daniela Ludwig (CSU), wurde 2020 mit der Aussage »Nur weil Alkohol gefährlich ist, unbestritten, ist Cannabis kein Brokkoli« zum Running Gag des Internets.

³ Schomerus, Georg; Corrigan, Patrick William. The Stigma of Substance Use Disorders, Kindle Edition. S. 34.
mit Bezug auf: Goodyear, K., & Chavanne, D. (2021). Stigma and policy preference toward individuals who transition from prescription opioids to heroin. Addictive Behaviors, 115, Article 106784.

⁴ Schott, Heinz. Deutsches Ärzteblatt: Serie Alkoholismus: Das Alkoholproblem in der Medizingeschichte. Online verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/archiv/28136/Serie-Alkoholismus-Das-Alkoholproblem-in-der-Medizingeschichte (Opens in a new window)

⁵ »Bericht über die vierte Konferenz für Trinkerfürsorge des Guttempler Ordens.«, Bremen, 21.7.1934, Neuland, Nr. 15/16, August 1934, S.114 (Zitiert nach Hauschildt 1995, S. 119)

⁶ Hauschildt, Elke (1995). Auf den richtigen Weg zwingen: Deutsche Trinkerfürsorge 1922 bis 1945. Lambertus.

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