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Nice Dry 2025 – Schlaglichter

Es ist Sonntagnachmittag, und ich versuche, noch ein paar kluge Sätze aus mir herauszulocken. Die letzten Tage auf dem Nice Dry Event (Opens in a new window) waren intensiv – und allein das scheint irgendwie untertrieben, ein wenig flach. Was mir durchs Bewusstsein blitzt, sind Schlaglichter, klare Momente, verbunden durch undefiniertes Dazwischen – wie Sterne in einem Äther, bevor der eigene Kopf die Zeit hatte, alles in eine kohärente Erzählung zu bringen.

Schlaglicht eins:

Ausatmen. Ausatmen, denke ich immer wieder. Ich denke es, bevor ich auf die Bühne gehe, während ich an der Theke stehe und Oliver beim Drinks-Mixen (Opens in a new window) zuschaue oder kurz mit Sebastian zwischen zwei Tattoo-Sessions (Opens in a new window) quatsche oder am Hamburger Hauptbahnhof im Kreis laufe, bis meine Bahn fährt. Ausatmen vergesse ich immer – und ich weiß nicht, ob das ein normales physisches Phänomen ist oder ob es daran liegt, dass ich es so schwierig finde, loszulassen. Dass ich die Dinge am liebsten festhalten würde. Dass ich Abschiednehmen hasse. Dass ich Angst vor den Momenten habe, in denen nichts passiert. Und immer, wenn ich es doch tue, das Ausatmen, spüre ich, wie ich mich wieder verdichte.

Schlaglicht zwei:

Elli (Opens in a new window) und Janna (Opens in a new window) stellen auf dem Podiumsgespräch ihre Initiative zur alkoholfreien Supermarktkasse (Opens in a new window) vor und leiten eine Diskussion über Stigma. Sie stellen eine Frage zur Geschichte des Alkoholismus, und ich bin völlig gerührt, weil ich weiß: Diese Frage ist ein Geschenk an mich. Ich gebe mir Mühe, ihr gerecht zu werden. Es gibt Zwischenapplaus, und ich bin beruhigt.

Schlaglicht drei:

Mia und ich liegen am Sonntagmorgen im Bett. Ich sage: »Ich habe geträumt, wir hätten uns gestritten.« Und sie sagt: »What the fuck, ich auch.« Wahrscheinlich sind wir kosmisch verbunden. Wir fragen uns, ob wir uns mal streiten sollten – aber irgendwie fehlt dann doch die Energie dafür. Wir gehen lieber Frühstücken und reden darüber wie ultra lecker das Brot ist.

Schlaglichter ungezählt:

Die Menschen, die uns erzählen, dass unser Podcast ihnen etwas bedeutet. Die sagen, er sei die Basis für ihre Entscheidung gewesen, mit dem Alkohol Schluss zu machen. Die sagen, sie seien mal bei der Suchtberatung gewesen und hätten dort nur Verbote gehört. Die sagen, unsere Gespräche hätten eine Tür geöffnet. Die sagen, sie hätten uns gehört – beim Umzug in eine neue Wohnung, beim Wandstreichen oder in der Bahn nach einer harten Nacht – in einer Zeit also, in der gerade etwas dabei war, sich zu verändern. Der Suchtberater, der erzählt, seine Klient:innen würden Themen aus unseren Folgen mit in die Therapie und Beratung bringen. Leute, die sagen: »Ihr habt mir geholfen, aber das hört ihr bestimmt ständig.« Und wir, die sagen: »Es wird niemals alt.«

Danke für das Foto: @EmilRichardNordpol (Opens in a new window)

Schlaglicht vier:

Ich suche meine Tasche, in der sich alles befindet, was wichtig ist – aber ich habe keine Angst, dass jemand sie klauen könnte. Dabei schmeiße ich einen riesigen Jackenständer um, und sofort sind drei Menschen zur Stelle, die mich davor bewahren, unter ihm begraben zu werden.

Schlaglicht fünf:

In der kleinen Küche stehen und Erdnusssuppe essen.

Schlaglicht sechs:

Mich erinnern: Wie viele Menschen wir jetzt wieder getroffen haben, zwei Jahre später, noch immer nüchtern und wir auch.

Letztes Jahr fühlte sich das noch gefährlicher an: das Nachhausekommen nach dem Wirbel, der soziale Kater und das dringende Bedürfnis, eintausend Jahre lang zu schweigen. Vor zwei Jahren hat mich im Zug noch ein diffuses Gefühl von Gefahr begleitet, als hätte ich etwas Verbotenes getan, als ich auf der Bühne über Alkoholabhängigkeit sprach. Kognitiv wusste ich, dass nichts passieren würde – emotional war ich mir nicht sicher, ob gleich Männer in Uniform kämen, um mich abzuholen. Vielleicht, dachte ich damals, hatte ich mich da übernommen mit der Öffentlichkeit und der Verletzlichkeit.

In diesem Jahr beschäftigt mich das alles nicht. Ich fühle mich nur ein bisschen leer und ausgequatscht, hätte das ein oder andere gern besser gesagt und für alle Menschen mehr Zeit gehabt. Ich habe keine Angst vor dem Crash, sondern bereite mich darauf vor, zu landen. Ich baue eine Landebahn aus Benedict Wells und Kunstmagazinen, aus Hafer-Cappuccino und dem festen Vorsatz, morgen früh schwimmen zu gehen.

Vor allem bin ich voller Dankbarkeit: für die wundervollen Menschen, für das Engagement von Maurice und dem ganzen Team des Nice Dry Vereins (in dem man übrigens Mitglied werden kann), für die klugen und mutigen Menschen, die das Programm mit ihren Geschichten und Perspektiven gefüllt haben, für das Vertrauen, das uns immer wieder entgegengebracht wird – und natürlich für die Erfahrung, dass dieses Leben ohne Alkohol ein besseres ist.

Und: Ausatmen.

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