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Almancı und die sterblichen Anderen

Hallo Almancı mit Wahlrecht in der Türkei,

diese Ausgabe ist nur für dich. Freust du dich? Ich mich auch. Dann lass uns doch loslegen!

Ich befinde mich seit Dezember 2022 in der Türkei und habe vor, noch ein paar Monate hier zu verbringen. Wie du vielleicht schon weißt, bin ich in Antalya geboren und aufgewachsen und zog nach Deutschland erst 2009, da war ich schon 23 Jahre alt. Elend war schon immer Teil des alltäglichen Lebens in der Türkei – ich weiß, dass du es anders siehst, aber Tatsachen ist es zum Glück egal, wie du zu ihnen stehst. Wie auch immer – Elend war schon immer da, aber doch nicht wie heute. Heute ist es an jeder Ecke. Du kannst nicht wegsehen.

Liebe*r Almancı mit Wahlrecht in der Türkei, wusstest du, dass sich Menschen in der Türkei inzwischen nicht einmal ausreichend Nahrung leisten können? Armut gab es hierzulande schon immer und Ungerechtigkeit auch, aber Armut ist jetzt die Normalität, von Armut betroffen ist inzwischen die Mehrheit. Wusstest du das, oder hat dich dein Bankkonto mit Euro drauf davon abgehalten, diese einfache und schmerzhafte Tatsache wahrzunehmen? Ich finde es lohnt sich, mal darüber nachzudenken, welche Ursachen es haben kann, dass Menschen in einem Land überdurchschnittlich unter der Armutsgrenze leben.

Liebe*r Almancı mit Wahlrecht in der Türkei, letztens hatte ich einen medizinischen Notfall, ein Problem mit der Schulter. Ich bin in ein privates Krankenhaus, und dort musste ich 5.800 Lira für eine Untersuchung von fünf Minuten und ein MRT-Bild zahlen. Der Mindestlohn in der Türkei beträgt 10.000 Lira brutto im Monat für eine Vollzeit-Stelle, im Netto macht das 8.000 Lira. Ich habe innerhalb von wenigen Augenblicken über die Hälfte eines Mindestlohns ausgegeben – für Zugang zu medizinischer Versorgung, Privatkrankenhaus hin oder her. Die Rechnung habe ich da, ich zeige sie dir gerne, wenn du mir nicht glaubst. Du kannst jetzt natürlich denken die dumme Kuh geht ins Privatkrankenhaus und beschwert sich dann über die hohe Rechnung. Warte doch ab, ich bin noch nicht fertig.

Als mein bester Freund im März in einem staatlichen Krankenhaus operiert wurde, Bandscheibenvorfall, wenn du wissen willst, bestand bei seinem Mitpatient im Krankenhauszimmer ein Verdacht auf eine Hirnembolie. Der Mann hatte dafür einen Termin für MRT bekommen –  für Juli. Ein Bekannter von ihm arbeitete in dem Krankenhaus, er lies ihn einliefern, damit ein MRT gleich dort gemacht werden kann, damit er nicht sterben muss, bevor er seinen Termin im Juli in Anspruch nehmen kann. Wie viele ohne Bekannte in Krankenhäusern sterben, ohne dass wir von ihrer Existenz erfahren? Kann ich dir nicht sagen. Ich kann dir aber anderes erzählen: Für rund 30 Patient*innen bei der Neurochirurgie gab es ganze zwei (2) Pflegepersonen, denen man die Erschöpfung und Überforderung klar einsehen konnte, also behielt man die Fragen für sich, anstatt sie zusätzlich zu belasten. Die Toiletten des Krankenhauses hättest du sehen müssen – Türgriffe und Spülungen kaputt, keine Handseife, kein Handtuch. Dreck läuft den Waschbecken hinunter, die Toilettensitze sind dreckiger als in dem Regionalexpress zwischen Köln und Mönchengladbach. Abends wenn es endlich ruhiger wird, kommen dann die Kakerlaken aus ihren Verstecken heraus und laufen in dem Patient*innenzimmer herum, und natürlich können die Kakerlaken nichts dafür, dass sie sich ausgerechnet in einem Krankenhaus wohlfühlen. Unwürdig, einfach menschenunwürdig.

Almancı, du hast keinen blassen Schimmer, was in der Türkei abgeht. Was du aber ganz genau weißt ist, warum du in Deutschland lebst. Weil es sich in Deutschland besser leben lässt, würdevoller, menschenwürdiger, um es mal klar auszudrücken.

Liebe*r Almancı. Wenn du mit Euro auf deinem Bankkonto hierhin kommst und ein paar sonnige Wochen verbringst, dann ist alles so schön, ich weiß. Und wenn deine Verwandte nur Show TV und ATV gucken, die Tag und Nacht erzählen, was für eine großartige Nation wir sind und wie gut es der Türkei doch gehe, dann glaubst du es, weil es mit deiner Erfahrung von den paar sonnigen Wochen mit Euro auf dem Bankkonto übereinstimmt. Frag doch den Millionen Menschen, die hier leben müssen und tagtäglich ums Überleben kämpfen, unter welchen „großartigen“ Bedingungen sie leben und arbeiten. Auf was sie alles verzichten müssen, damit Geld für ihre Grundbedürfnisse bleibt. Wie oft sie im letzten Jahr hungrig ins Bett mussten. Seit wie vielen Jahren sie keinen Urlaub gemacht haben. Frag doch Menschen, die sieben Tage die Woche arbeiten müssen, ja, sieben Tage die Woche, und nicht von neun bis fünf, sondern von morgens bis in die Nacht, denen das Geld trotzdem nicht reicht. Frag sie doch wie großartig es hier abläuft.

Vor ein paar Tagen teilte ich auf Insta paar Fotos. (Opens in a new window) Zwei Käse-Sorten, die ich zuvor im Supermarkt gekauft habe, waren alarmgesichert. Das liegt daran, dass aktuell vermehrt Lebensmittel geklaut wird, weil sich immer mehr Menschen keine Lebensmittel leisten können. Das ist die bittere Realität, die viele offenbar nicht hören wollen. In meinem Post bat ich Almancıs mit Wahlrecht in der Türkei, am 14. Mai je nachdem, welche Partei und welchen Kandidaten sie wählen würden, auf das Wählen zu verzichten. Sich einfach mal rauszuhalten. Menschen, die ertrinken, nicht tiefer ins Wasser zu drücken. Bei mir kamen natürlich auch beleidigte und verleugnende Nachrichten an. Wie zynisch und ungerecht und teilweise auch gewaltvoll Menschen manchmal sein können. Die einen müssen Käse klauen, weil sie es sich nicht leisten können, und dann werden andere beleidigt, dass diese Tatsache sichtbar gemacht wird. Ich verstehe das nicht und ich will das auch nicht verstehen.

Daher wiederhole ich meinen Aufruf: Almancı, es wäre vielleicht besser, diesmal auf dein Wahlrecht in der Türkei zu verzichten, je nachdem, welche Partei du wählen willst. Denn du musst hier nicht leben, aber Millionen anderen, die tagtäglich ums Überleben kämpfen, schon. Lass es, bleib zuhause, halt dich raus. Höre auf, ertrinkende Menschen tiefer ins Wasser zu drücken.

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Die Kolumne des Monats schrieb die Drehbuchautorin Medine Mayıs Akın. Poetisch und schmerzhaft denkt sie in ihrem Text über das Erdbeben als politisches Morden nach und entdeckt Parallele zu den Tötungen von Kurd*innen. Sie schrieb auf Türkisch, ich übersetzte ins Deutsche und veröffentliche hier auf beide Sprachen.

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Die sterblichen Anderen / Wenn der Staatsfehler bricht

Von Medine Mayıs Akın

Jedes Konzept, insbesondere Tod und Leben, das uns hilft, die Welt zu verstehen, wird von der Regierung komplizierter gemacht. Sie können 100 Filme ansehen, bevor Sie sterben, 100 historische Orte besuchen, die Sie besuchen können, bevor Sie sterben, und sterben, sobald Sie nach Hause zurückkehren. Selbst wenn Sie unter Tonnen von Trümmern überleben, können Sie untätig bleiben, indem Sie zwischen den Eingriffen des Staates in „Leben“ und „Tod“ gefangen sind.

Obwohl die Definition eines Erdbebens für Staaten eine „Naturkatastrophe“ oder ein „Schicksalsplan“ ist, kann der Staat – wie ein narzisstischer Ex – niemals akzeptieren, dass das Erdbeben zerstörerischer ist als er selbst, dass die Intensität des Erdbebens überlegen ist. Der Staat ist die Ursache der Wunden, die das Erdbeben öffnet, und er kann sie nicht heilen. Er genießt es zwar, die Toten als Mahnung auf dem Boden zu schleifen, macht sich aber nie die Mühe, sie von unter den Trümmern herauszuziehen. Der Staat will stärker sein als die Illusion des Todes.

Aber wir, die sterblichen Anderen, wissen, dass auf der Erde, auf der der Tod nicht ausreicht, der Staat immer den Tod ersetzt. Leben oder Sterben für den Staat ist oft ähnlich. Solange seine Existenz nicht bedroht wird, solange ihm Menschen vom Kragen fallen. Jede Dynamik, die er nicht beherrschen kann, ist ein Eindringling für ihn, sehr gefährlich; wenn er nicht gehorcht, ist der Mord notwendig.

Wir sitzen am Rand eines frisch abgerissenen „Residans“, und warten auf unsere Zukunft, während wir darum kämpfen, dem Tod einen Sinn zu geben. Eine falsche Zukunft, aufgebaut mit Amnesty für Bausünden, Gentrifizierung, Erdbebensteuern…

Der Tod richtet sein Schicksal über den Menschen und erschafft uns alle zu seinem eigenen Ende. Der Staat hingegen rächt sich und stürzt uns in dieses tiefe Wrack.

Öteki Ölümlüler / Devletin Fayı Kırıldığında

Medine Mayıs Akın

Dünyayı anlamamıza aracı olan -başta ölüm ve yaşam olmak üzere her kavram iktidar tarafından daha da karmaşık hale getiriliyor.  Ölmeden önce izlenecek 100 filmi izleyip, ölmeden önce gidilecek 100 tarihi yeri ziyaret edip evinize döner dönmez ölebilirsiniz. Tonlarca enkazın altından sağ çıksanız bile devletin “yaşama” ve “ölüme” müdahale biçiminin arasında sıkışarak eylemsiz kalabilirsiniz.

Devletler için depremin tanımı “doğal afet” ya da “kader planı” olsa da depremin kendisinden daha yıkıcı olmasını, şiddetinin daha üstün olmasını - narsist bir eski sevgili gibi asla kabul edemez.  Çoğu zaman yaranın kaynağıyken depremin açtığı yaraları saramaz. İbret olsun diye ölüleri yerde sürüklemekten keyif alırken enkazın altından çıkarmakla asla uğraşmaz. Devlet ölümün yanılsamasından bile daha güçlü olmayı diler.

Fakat bizler, öteki ölümlüler olarak billiyoruz ki ölümün yeterli olmadığı yeryüzünde devlet her zaman ölümün yerine geçer. Devlet için yaşamak ya da ölmek çoğu zaman benzerdir. Yeter ki varlığını tehdit etmesin, yeter ki düşsün yakasından insan. Kontrol altına alamadığı her dinamik onun için işgalcidir, çok tehlikelidir; boyun eğmezse katli vaciptir.

Ölümü biraz olsun anlamak için mücadele ederken, taze yıkılmış bir residance’ın kenarına oturmuş geleceğimizi bekliyoruz. İmar affıyla, kentsel dönüşümle, deprem vergileriyle yaratılmış sahte bir gelecek…

Ölüm insan üzerinde yazgısını kuruyor ve kendi sonu için yaratıyor hepimizi. Devlet ise kendi intikamını alıyor ve atıyor bizleri bu derin enkaza.

Medine Mayıs Akın, Drehbuchautorin. Sie wurde 1990 in Antalya geboren und studierte „Dramatisches Schreiben“. Bei verschiedenen Projekten arbeitete sie als Regieassistentin, Drehbuchautorin, Drehbuch- und Theaterpädagogin. Sie schreibt Gedichte und Geschichten.

Diana Ezerex: Gaslight

Diesen Song von Diana Ezerex finde ich großartig und möchte dir sehr empfehlen! Diana könnt ihr auch auf Instagram und Youtube folgen.

https://open.spotify.com/track/1VAsYBxWFEYU9ikOhuCqeG?si=35c244c369904b9c (Opens in a new window)

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