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Verkehrte Welt

CN Gewalt, Sexismus, Rassismus
Diese Ausgabe handelt von Gewalt gegen Sexarbeiter*innen und rassistischen Slurs gegen geflüchtete Menschen

Wir sitzen am Strand. Meine Freundin, ebenso kurdisch ist und ebenso Autorin, und ein Freund von ihr, ein sunnitischer Türke. "Er war mal Mitglied bei der Türkischen Arbeiterpartei, ist da aber ausgetreten", sagt sie mir über ihn vor unserem Treffen am Telefon. "Kannst ihn ja selber fragen, warum."

TIP, also die Türkische Arbeiterpartei, ist eine linke politische Partei, deren Zielgruppe Menschen sind, die von ihren Familien CHP-Werte geerbt haben, allerdings linker sind als ihre Familien und die CHP nicht mehr wählen möchten, aber doch nicht so weit links, dass sie Kurd*innen nicht hassen würden, deshalb kommt für sie zB. die HDP nicht infrage, daher brauchen sie eine weißtürkische linke Partei, also TIP.

Ich will nicht wissen, warum der Mann aus der TIP ausgetreten sein soll, mich interessiert das alles nicht, also frage ich ihn nicht.

Wir treffen uns, es ist der kostenlose Teil des Strandes, also gibt es weder Liegen noch Sonnenschirme. Unter dieser Sonne kann man aber nicht lange sitzen, wenn man keinen Sonnenstich bekommen möchte, und das möchte ich definitiv nicht, ich nehme die Sonne ernst. Wir liegen zuerst am Wasser, springen kurz rein, schwimmen rum, aber das Wasser ist heute seltsam. Ist irgendwie grünlich, sieht dreckig aus, ist einfach anders. Auf Instagram kursieren gerade Hai-Videos, zum einen das aus Hurghada, das ich bisher erfolgreich vermeiden konnte, zum anderen eins aus Antalya, in dem zwar niemand getötet wird, man die großen Fische aber klar sieht. Ich habe in meiner Jugend zu viel "Jaws" geguckt, ich schwimme nie sehr weit hinaus. Auch heute nicht. Gerade heute nicht.

Wir gehen aus dem Wasser raus, ich dusche mich kurz ab, wir liegen in der Sonne, sie prallt aber zu sehr, es ist nicht auszuhalten. Circa 100 Meter von uns entfernt liegt ein Kaffeehaus, es ist eine super Idee, da hinzugehen. Wir trinken Eis-Latte, sitzen draußen, meine Freundin sagt "OnlyFans wurde in der Türkei gesperrt". "Ein peinliches Urteil", antworte ich. "Ich weiß nicht", sagt der linke Mann. "Ich finds nicht schlimm. Türkei ist ein armes Land. Es sollte nicht so leicht sein, so viel Geld zu verdienen. Einmal Arsch zeigen und Tausende Dollar verdienen. Das ist nicht gerecht."

Es ist natürlich nicht gerecht, dass es Menschen gibt, die viel, viel mehr Geld machen als andere. Es ist natürlich nicht gerecht, dass es Armut gibt. Es ist nicht gerecht, dass es reiche Menschen gibt, die in erster Linie reich geworden sind, weil sie andere systematisch enteignen. Es ist alles andere als gerecht, dass Menschen in der Türkei auf ein Grundbedürfnis verzichten müssen, um ein anderes erfüllen zu können (Opens in a new window). Es zeugt allerdings von einem tiefen und unreflektierten Hass gegenüber Frauen, das Geld, das man mit Sexarbeit verdient, für leicht verdientes Geld zu erklären, während man noch nie diese Arbeit gemacht hat und daher nicht imstande ist zu urteilen, ob sie leicht oder schwierig ist. Es zeugt von einem tiefen und unreflektierten Hass gegenüber Frauen, nicht über die Ursachen nachzudenken, die sie dazu bringen, sich für die Sexarbeit zu entscheiden, und stattdessen so zu tun, als ob die eine Plattform zu schließen, auch diese Ursachen vernichten würde. Es zeugt von einem tiefen und unreflektierten Hass gegenüber Frauen, so missgünstig ihnen gegenüber zu sein, dass man gleich an arme Menschen denken muss, weil es andere gibt, die Sexarbeit treiben, um nicht arm zu sein. Es fühlt sich fast schon so an, als würde man Armut zu einer Tugend erklären, und die Sexarbeiterin zum Kontrahenten: Die Unmoralische, die Schlechte, die mit dem zu Unrecht verdienten Geld. Sie wird zum Symbolbild des kapitalistischen Ausbeuters, dämonisiert.

Das Verbot einer Online-Plattform für Sexarbeit mit ungerechter Verteilung zu rechtfertigen ist purer Zynismus, denn Nutten die sicheren Arbeitsorte zu verbieten stellt keine Gerechtigkeit her. Ganz viele Menschen, die bisher einigermaßen sicher auf OnlyFans arbeiten konnten, werden jetzt auf die Straße gehen müssen. Denn sie müssen arbeiten, und die Arbeit lohnt sich hier kaum noch. In diesem Land sind auch Bordelle verboten, wo Sexarbeiter*innen nicht alleine arbeiten müssten und sich organisieren und gegebenenfalls gegenseitig unterstützen könnten. Vielleicht nicht alle, aber viele, die jetzt keinen Zugang zu OnlyFans haben, werden Straßenarbeit machen müssen. Das wird ihnen das Leben und ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit gefährden. Währenddessen ändert sich absolut nichts für reiche Menschen, sie schlafen weiterhin sicher in ihren teuren Häusern und Wohnungen, in ihren sauberen Betten. Sie werden weiterhin klauen, enteignen und Gerechtigkeit kaufen können.

Das ist auch häufig das Problem mit moralistischer Symbolpolitik: Man tut so, als ob die Schließung einer Online-Plattform, die man als unmoralisch betrachtet, nur positive Konsequenzen haben könnte, aber hinter diesem "Symbol" werden sehr reale Menschen vergewaltigt, geschlagen und getötet.

Das alles sage ich dem linken Mann, der frisch aus der TIP ausgetreten sein und seine eigene sozialistische Stiftung gegründet haben soll. Das löst eine Diskussion über Feminismus aus, und es ist volles Programm bei ihm. Feminismus spalte, diskriminiere Männer, habe eine zu harte Sprache. So würde der Feminismus Männer nie für sich gewinnen, aber er bräuchte Männer, denn Frauen alleine kriegen das doch nicht hin. Die Männlichkeit sei nicht das Problem, aber die Männlichkeit zum Problem zu erklären, definitiv. Patriarchat sei schließlich nur natürlich, das sei doch früher auch so, als wir jagten und sammelten. Und das Ende des Gesprächs: Feminismus ist gegen die Natur.

Wir kehren zurück zum Strand. Eine Frau schreit: "So viele tote Fische! So viele tote Fische dort drüben!" Er und ich, wie verabredet, stehen auf und laufen dorthin, wo die toten Fische liegen sollen. Ein ganzer Bereich im Meer, abgedeckt mit kleinen, winzigen, silbernen Fischen an der Wasseroberfläche, die leblos herumschweben. Wir richten unseren Blick gegen das Horizont und sehen einen gelben Strich weiter im Meer. Es muss irgendetwas ins Meer abgepumpt oder durchsickert worden sein, das Gelbe sieht aus wie eine Straße. Wir setzen uns wieder hin, viele Menschen bleiben im Wasser, Kinder wie Erwachsene.

Politische Diskussionen scheinen heute kein Ende zu haben, es ist echt anstrengend, denn dieser Mann hält sich für links, er ist jedenfalls oppositionell, und ich schätze er glaubt, dass diese einfache Tatsache, gegen die Regierung zu sein, ihn zu einer linken Person machen muss. Jedenfalls argumentiert er wie Rechte. Er sagt, dass er so sehr nachvollziehen kann, was die AfD so meint mit der rechtsextremen Politik. Weil die Oma ja seit vierzig Jahren in Deutschland lebt, aber immer noch kein Deutsch spricht. Wie soll man da noch kein Nazi werden? Diese ganzen Syrer, diese ganzen Afghanen, diese ganzen X, diese ganzen Ypsilon, heißt das dann weiter, mit Fokus auf die Türkei. Die Türkei ist doch kein reiches Land, die Möglichkeiten der Türkei reichen doch nicht einmal für die eigenen Bürger, sagt er. Jetzt auch noch diese ganzen Flüchtlinge. Und die ––––– die sind ja nicht mal integrierbar. Die wollen ja nur Terror und Vergewaltigung. Und was, wenn sie irgendwann nicht mehr zurück in ihre eigenen Länder wollen und uns den Krieg erklären? Das sind doch so viele. Und wir müssen ja unsere Frauen und Kinder davor schützen. Und unsere Fahne und unseren Staat...

Ich bleibe ruhig, höre ihm zu, antworte auf jede seiner Aussagen. Ich wundere mich, wie schnell Frauenrechte jetzt zum Mittelpunkt wurden, während Sexarbeiter*innen doch lieber in dunklen Gassen getötet werden sollen, damit ihr Geld "hart verdient" ist, und der Feminismus noch gerade eben gegen die Natur war. Ich sage ihm das, er gibt ein leises "Ich habe doch nie behauptet, dass Frauenrechte unwichtig seien" von sich. Ich muss los, sage ich, und fahre los. Ich laufe zur Bushaltestelle, schwitze durch meine Kleidung durch. Mein Hut wurde heute geliefert, aber ich war nicht da, also hat der Laden unten im Haus angenommen. Ich muss das Päckchen abholen, bevor sie schließen. Ab heute habe ich wenigstens einen Hut, denke ich. Die Sonne knallt ja auch so richtig.

Was für ein Glück muss eine rechte Regierungspartei in einem Land haben, in dem die gesellschaftliche Opposition nicht links ist, sondern genauso rechts wie die Regierungspartei, und es nicht einmal weiß? Wie kann eine rechte Regierungspartei in einem Land, in dem selbst die Opposition rechts ist, jemals eine Wahl verlieren?

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Sibel Schick

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