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Über Brugnaro und unser inneres Missionsfest

Ehrlich gesagt, konnten wir es erst kaum glauben, als wir am Morgen des 17. Juli lasen, dass Renato Boraso, der venezianische Stadtrat für Mobilität, verhaftet wurde und gegen Bürgermeister Brugnaro wegen des Verdachts auf Beihilfe zur Bestechung ermittelt wird. Kneif mich einer, dachte ich, denn auf diesen Moment warten wir seit Jahren. Sofort beschloss ich, eine Kerze in der Salutekirche anzuzünden.

“Tritt zurück Brugnaro!” steht auf dem Transparent an der Brücke der Giudecca - unweit davon befindet sich die schwimmende Brücke, über die Brugnaro an der Seite des Patriarchen von Venedig zur Redentore-Kirche wandelte - und dabei von den Venezianern ausgepfiffen wurde, die lautstark seinen Rücktritt forderten.

https://video.corrieredelveneto.corriere.it/venezia-aperto-il-ponte-votivo-per-il-redentore-contestato-il-sindaco-brugnaro/854c104e-d89b-4dbf-af99-fbdfb1225xlk (Opens in a new window)

Bislang wird gegen 32 Personen wegen Korruption und Amtsmissbrauch ermittelt, einige von ihnen befinden sich in Hausarrest. Es ist nach dem Mose-Skandal von 2014 der größte Bestechungsskandal, der in Venedig je aufgedeckt wurde. Und was sagt Brugnaro: „Ich bin entsetzt. In meinem Herzen und in meinem Gewissen weiß ich, dass ich das Amt des Bürgermeisters immer unentgeltlich als Dienst an der Gemeinschaft ausgeübt habe und auch weiterhin ausüben werde, wobei das öffentliche Interesse immer an erster Stelle steht.” Und nicht nur das, er sieht sich bereits als Jesus, der seinen Leidensweg antritt, hier auf der Sitzung der Metropolstadt Venedig (der ehemaligen Provinz Venedig, dessen Präsident Brugnaro zu allem Übel auch noch ist):

https://www.youtube.com/watch?v=pndAttSh4FQ (Opens in a new window)

Die Tatsache, dass Brugnaro jetzt nicht nur so dreist ist, die klärende Stadtratssitzung auf September zu verschieben, sondern auch noch die Schamlosigkeit besaß, gestern am Redentore-Fest teilzunehmen, sagt viel darüber aus, was er von seinem Amt hält: Dass es niemand anderem nutzen soll, als ihm und seinen Geschäften - weshalb alle entscheidenden Stellen der Stadtverwaltung von seinen Vertrauensleuten besetzt sind, die zuvor für ihn und seine Unternehmensgruppe gearbeitet haben: darunter der Stadtdirektor und sein Stellvertreter, gegen beide wird ermittelt.

Dass sich Brugnaros “Blind Trust” als sehr weitsichtig erwiesen hat, ist uns seit langem bekannt. Etliche Investigativ-Journalisten haben sich bereits die Finger an Brugnaros Geschäften wundgeschrieben - ohne dass etwas passierte. Ehrlich gesagt hatten wir die Hoffnung bereits aufgegeben, dass die Staatsanwaltschaft von Venedig sich bewegen würde. Zuletzt hatte die Investigativsendung “Report” im Dezember 2023 (zum zweiten Mal) über Brugnaros krumme Geschäfte berichtet, in der Sendung mit dem schönen Titel “Es war einmal ein Chinese in Venedig” (Opens in a new window) - was Sie, verehrte Leser von Reskis Republik natürlich längst wissen. (Opens in a new window)

Jetzt steht das, was in Report berichtet wurde, im Mittelpunkt der Ermittlungen: Darunter Brugnaros wiederholter Versuch, sein 41 Hektar großes Grundstück in Marghera an den chinesischen Investor Ching Chiat Kwong zu verkaufen, wovon wir in Venedig seit 2018 wussten. Report enthüllte aber noch mehr: Nicht nur, dass dem Chinesen gewissermaßen als Appetithappen auch zwei Palazzi aus städtischem Besitz verkauft wurden (Mister Kwong bekam Palazzo Donà und Palazzo Papadopoli für einen Freundschaftspreis: Bei der öffentlichen Ausschreibung war der Chinese auf wundersame Weise der einzige Bieter und bekam den Zuschlag, nachdem ihm sein Vertrauensmann geschrieben hatte: "Es wird kein Problem sein, ihn [den Palazzo] an Sie zu vergeben. Ich habe die rechte Hand des Bürgermeisters getroffen, und er hat mir das bestätigt."), sondern auch, dass Brugnaro den Verkauf seines Grundstücks in Marghera tatsächlich selbst mit dem Chinesen verhandelt hat, obwohl er ja geschworen hatte, seine Geschäfte einem “Blind Trust” überlassen zu haben, um Interessenkonflikte zu vermeiden. Report zeigte, wie Brugnaro sich mit dem Chinesen in Venedigs Spielcasino traf, um dort sein Grundstück anzupreisen - auf dem eine gigantische Waterfront entstehen sollte. Man werde sich bei den Sitzungen im Gemeinderat dafür einsetzen, "dass das autorisierte Bauvolumen auf dem Grundstück verdoppelt wird." Außerdem sollten Gewerbebauten entstehen und Straßenumleitungen vorgenommen werden. Boraso soll dafür Schmiergelder in Höhe von 73.200 Euro kassiert haben - offiziell als Rechnung für Beratungstätigkeiten seiner Firma Stella Consulting wie Journalisten von Report zeigten - eine Dienstleistung, die es aber laut Ermittlungen nie gegeben hat. Dies alles wurde von Report berichtet, woraufhin Bürgermeister Brugnaro die Journalisten als „Der Abschaum Italiens“ bezeichnete. Lang lebe der Abschaum!

Der venezianische Stadtrat Marco Gasparinetti der oppositionellen Bürgerinitiative “Terra e Acqua2020 (Opens in a new window)” (Disclaimer: Für die ich mich im Bürgermeisterwahlkampf 2020 engagiert habe) prangert die krummen Geschäfte des Bürgermeisters seit Jahren an. Unter anderem mit einem

satirischen Kartenspiel, einem Alphabet der Korruption (Opens in a new window), in dem man die Geschäfte des Bürgermeisters von A bis Z nachlesen kann: unter A wie Alilaguna, wie das Transportunternehmen die Basketballmannschaft des Bürgermeisters sponsert, unter R von Reyer, dem Basketballteam des Bürgermeisters, dass Reyer ein Stück Agrarland zu einem niedrigen Preis kaufte - wunderbarerweise drei Tage bevor der Stadtrat eine Änderung genehmigte, die es bebaubar machte. Und so geht es weiter, unter P wie “Pili” wird das Grundstück des Bürgermeisters beschrieben, das er dem chinesischen Investor verkaufen wollte. Und bei A wie Alilaguna (Opens in a new window) steht, dass es vielleicht kein Zufall ist, wie Alilaguna als Sponsor von Reyer unter anderem in den Genuss des profitablen Monopols des Linienverkehrs zum und vom Flughafen (wirtschaftlicher Wert: 20 Millionen Euro pro Jahr) kam. Prompt wurde Marco Gasparinetti von Alilaguna-Präsident Fabio Sacco wegen Diffamierung auf 150 000 Euro verklagt (Opens in a new window).

Was einen Interessenkonflikt betrifft, so sind wir „in Venedig bereits darüber hinaus“, unterstreicht Terra e Acqua 2020 (Opens in a new window): „Ein Konflikt setzt eine moralische Spannung zwischen öffentlichem Interesse und privaten Interessen voraus, in unserem Fall ist die Situation viel einfacher. Venedig wird als Schaufenster und Sprungbrett für eine nationale politische Karriere benutzt, Venedig wird als Geldautomat benutzt, um die Gewinn- und Verlustrechnung zu verbessern und/oder das Nettovermögen privater Subjekte zu erhöhen.”

Jetzt wird nicht nur gegen den Bürgermeister, den chinesischen Investor, den Chef des Spielcasinos, den Stadtdirektor und seinen Stellvertreter (beide enge Vertraute und ehemalige Mitarbeiter von Brugnaros Unternehmensgruppe), sondern auch gegen etliche Unternehmer ermittelt.

Als der Stadtrat Marco Gasparinetti von Terra e Acqua 2020 auf der ersten Stadtratssitzung nach Bekanntwerden der Ermittlungen - zu der Bürgermeister Brugnaro nicht erschien - über manipulierte Ausschreibungen sprach, wurde ihm das Mikrofon abgeschaltet.

Hier lachen Brugnaro und Boraso noch, denn es lief ja lange glatt. Anfangs dachten sie noch, dass es reichen würde, die Telefone zu wechseln, weil ein, wie es in den Ermittlungsakten so schön heißt, “untreuer” Finanzbeamter dem Bürgermeister gesteckt hatte, dass man gegen ihn ermittelt. Brugnaro versuchte das Boraso („Du hörst mir nicht zu, du kapierst gar nichts... man fragt mich, ob du Geld nimmst, du begreifst nicht, dass du zu viel riskierst... Wenn ich dir sage, dass du vorsichtig sein sollst, musst du dich beherrschen“ - “Denk nach, bevor du sprichst, vor allem am Telefon! Ernsthafte Menschen, wie ich: pssst!”) und seinen treuen Mitarbeitern, darunter dem stellvertretenden Stadtdirektor, klarzumachen: “Wenn du dein Hirn einschaltest, so wie ich, wachen wir dann vielleicht endlich mal einen Moment lang auf? Du darfst es nicht so sagen, komm einfach her!”

Boraso wurde sofort verhaftet, weil die Gefahr bestand, dass er versuchen würde, Beweise zu vernichten. Unter anderem verbrannte er Dokumente im Ofen seiner Mutter. Und da kriegt man schon fast Mitleid, angesichts von so viel Blödheit.

Jetzt wird endlich auch gegen die Sponsoren von Reyer ermittelt. Darunter natürlich auch Alilaguna.

Was soll ich sagen: Für uns in Venedig ist das alles ein inneres Missionsfest. Und eigentlich, eigentlich, bliebe Brugnaro nur der Rücktritt. Zumal ihm auch die Gründung einer eigenen Partei “Coraggio Italia” kein Glück brachte, die er zusammen mit dem Präsidenten der Region Ligurien Giovanni Toti gegründet hat: Der steht seit dem 7. Mai unter Hausarrest - wegen Korruptionsverdachts.

Die treuen Leser von Reskis Republik wissen natürlich schon alles, was man zu Brugnaros Parteigründung wissen muss (Opens in a new window): Sein Wahlkampf begann in Kalabrien, wo auch anders. Und stürzte bei den Wahlen 2022 spektakulär ab.

Ja, eigentlich bleibt Brugnaro nur der Rücktritt. Aber wir befinden uns in einem Land, das sich seit dreißig Jahren, nach dem Eintritt von Berlusconi in die Politik in einem ethisch-moralischen Niedergang ohnegleichen befindet. Und das über kein Schmerzempfinden mehr verfügt.

Vor zwei Tagen wurde in Palermo der Ermordung von Paolo Borsellino und seinen fünf Leibwächtern gedacht. Er war es auch, der 1989 auf einer Konferenz unweit von Venedig prophetische Worte aussprach (Opens in a new window): Dass ein Politiker nicht deshalb als ehrlich anzusehen ist, nur weil er von den Gerichten noch nicht verurteilt wurde: Es gibt neben dem juristischen auch noch ein moralisches Urteil. Und, klar, einer, der so etwas sagte, musste beseitigt werden. In Palermo, Via D'Amelio am 19. Juli 1992, um 16.58 Uhr.

Jeder weiß das, aber wenige sprechen es aus. Einer, der es aussprach, ist der ehemalige Antimafia-Staatsanwalt und jetzige Senator der Fünfsterne, Roberto Scarpinato, am 19. Juli in Palermo (Opens in a new window): “Die Massaker von '92 und '93 wurden organisiert, um den Zusammenbruch der Ersten Republik zu beschleunigen“, schloss Scarpinato, “und um Platz für neue politische Subjekte zu schaffen, die ihren Platz einnehmen sollten. Und wer waren diese politischen Subjekte, wenn nicht Forza Italia? Wenn nicht die derzeitigen Regierungsparteien? So wird klar, dass diese politischen Kräfte den Elefanten im Raum nicht sehen können“.

Aber wo bleibt das Positive? Deshalb hier noch ein Hinweis auf ein Radiofeature, das ich zusammen mit dem jungen Kollegen Christopher Weingart über Venedigs jüdisches Ghetto gemacht habe:

https://www.deutschlandfunk.de/juedischer-schicksalsort-verschwindet-vendigs-ghetto-dlf-87016c4c-100.html (Opens in a new window)

Und noch eine Buchempfehlung: “Endlose Tage am Point Zero”, die Erzählungen der sudanesischen Schriftstellerin Stella Gaitano,

die in Kamen lebt, der kleinen Stadt im Ruhrgebiet, in der ich aufgewachsen bin. Stella lebt dort als Stipendiatin des Writers-in-Exile-Programms (Opens in a new window) des deutschen PEN. Über Stella und ihr Buch habe ich hier geschrieben:

https://www.petrareski.com/2024/07/19/stella-gaitano/ (Opens in a new window)

Einen schönen Sonntag wünscht Ihnen Ihre Petra Reski

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