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MCP Der Literatur-Newsletter #6 im Januar 2022

Liebe Leser*innen,

ich freue mich sehr, dass mein Newsletter euch auch im neuen Jahr begleiten darf und hoffe auf überraschende Buchentdeckungen, große und kleine Literaturlieben, beglückende und bewegende Lesestunden und ganz viel Inspiration, die ich hier mit euch teilen darf. Schön, dass ihr da seid!

Im letzten Newsletter (Opens in a new window) habe ich ja meine liebsten Bücher des vergangenen Jahres mit euch geteilt. Ein Gedanke, der mich beim Blick auf meine Leseliste beschäftigt hat, ist bei aller Freude die geografische Einseitigkeit meines Lesens. Ich lese vor allem deutschsprachige Autor*innen und aus dem Englischen, aus dem amerikanischen Englisch und aus dem Französischen Übersetztes. Wieviele unbekannte Flecken habe ich auf meiner literarischen Landkarte, weil ich von einem omnipräsenten Sprachraum des deutschen Literaturbetriebs in den nächsten gleite und dabei häufig in eurozentrischen, in westlichen und weißen Kulturräumen unterwegs bin. Was mir da alles entgeht! Als ich überlegte, wie ich das ändern kann, fiel mir Robin Detjes grandiose Laudatio zur Verleihung des Internationalen Literaturpreises an Fenanda Melchor und ihre Übersetzerin Angelica Ammar für „Saison der Wirbelstürme“ ein, die man glücklicherweise auf Zeit.de (Opens in a new window) nachlesen kann. Online kann man beim Haus der Kulturen der Welt (Opens in a new window) auch noch die Verleihung und die Rede als Film sehen. Es war ein wunderbarer Sommerabend vor drei Jahren, wir standen selig auf der Dachterasse des HKW,  Ludwig und ich im schönsten Sonnenuntergang bei kühlem Weißwein – ich erinnere mich aus vielen Gründen so gern an diesen Abend zurück, aber die Laudatio war das Highlight und gehört zum Tollsten, was ich je über Literatur gehört habe. Weil man nach dieser flammenden Rede sofort viel mehr von Robin Detjes klugen und pointierten Gedanken zu allem Möglichen lesen möchte, empfehle ich euch an der Stelle direkt seinen Newsletter (Opens in a new window). Mir macht der gerade sehr viel Freude, oft macht er mich auch klüger. Doch zurück zu seinem Lob auf Fernanda Melchor und Angelica Ammar: Diesen großartigen Text zu lesen, lässt die Literaturliebe Funken schlagen. Er macht nämlich nicht nur Lust darauf, sich der unersättlich herausfordernden Prosa der mexikanischen Autorin direkt in den Rachen zu werfen, er zeigt auch die Notwendigkeit und das zu erwartende Glück, wenn wir weiter abseits der Bestsellerlisten nach besonders guter Literatur aus anderen Sprachen und Kulturkreisen suchen. Und mich persönlich hat er jetzt wieder daran erinnert, dass im letzten August ein neues Werk von Fernanda Melchor in der Übersetzung von Angelica Ammar im Wagenbach Verlag erschienen ist: Und „Paradais“ (Opens in a new window) ist sofort zu meinem Liebling des Monats Januar geworden.

Liebling des Monats

Fernanda Melchor „Paradais“, aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar, Wagenbach Verlag.

Die mexikanische Wohnanlage Paradise ist denen vorbehalten, die sich den Luxus von Sicherheitsleuten und Swimmingpools leisten können. Hier wohnt der blonde, übergewichtige Franco, der seinen Großeltern immer wieder Schnaps und Zigaretten klaut und sich damit zum Wasser am Rande der Gated Community zurückzieht. Der junge Gärtner Polo hängt nur in seiner Nähe ab, um von beidem immer mal wieder etwas abzubekommen. Als Preis muss er sich die zunehmend perversen Fantasien von Franco anzuhören, die allesamt um die Nachbarin Señora Marián kreisen, von der Franco geradezu besessen scheint. Doch Polo, der die Schule abgebrochen hat und in seinem Job nun ausgebeutet wird, wenn er nicht wie alle in seinem Dorf für das Drogenkartell arbeiten will, ist nicht einfach das unschuldige Gegenstück zu Franco. Und die unvermeidliche Entladung dieser Treffen in einer Nacht voller Gewalt, kommt zwar nicht überraschend, aber erwischt uns Leser*innen trotz mexikanischer Hitze eiskalt.

Eine Lektüre, die keinen unversehrt lässt, auch uns Lesende nicht. Ein Buch voller Misogynie und Verachtung, voller drastischer Worte und Szenen – ich weiß noch, dass ich mich davor gescheut habe, wie ein Reh, deshalb lag es auch relativ lange ungelesen bei mir. Trotzdem bin ich hingerissen von Fernanda Melchors konsequenter Bildführung und der Präzsision, mit der sie Erwartungen an das Menschliche einstürzen lässt und und eine fast unhaltbare Spannung aufbaut. Obwohl das Buch nur hundertvierzig Seiten umfasst, gelingt ihr eine enorme Tiefenschärfe der Figuren. Ich finde dieses Buch noch reduzierter und vielleicht auch etwas besser fassbar als „Saison der Wirbelstürme“, aber bewundere erneut Angelica Ammars grandiose übersetzerische Leistung, wenn sie die atemlosen, bildreichen Langsatzkonstruktionen so geschickt ins Deutsche überträgt, dass kein Fitzelchen der Grundspannung verlorengeht. 

Und all die schönen Sätze

... entlehne ich deshalb genau aus diesem Buch. Denn das ist der Grund, weshalb man die sicherlich herausfordernde Lektüre eben unbedingt wagen sollte. Es folgt ein (!) Beispiel, ein Satz aus „Paradais“, der sich fast über eine Doppelseite erstreckt, Fernanda Melchor in der Übersetzung von Angelica Ammar:

„Er schlüpfte durch die Küchentür hinein, um keinen Lärm zu machen, zog sich leise aus und streckte sich auf der rauen Bastmatte in dem dunklen Wohnraum aus, wo es drückend heiß war, weil die Sonne den ganzen Tag auf das Wellblechdach gebrannt hatte, er schloss die Augen, legte einen Arm übers Gesicht und sah den schwarzen Fluss unter der Brücke vor sich, das unaufhaltsame, stinkende, hypnotisierende Wasser, und roch die frische Brise, die den sanften Duft der vor sich hin treibenden Seeroseninseln mit sich trug, und unversehens verwandelte sich der im Schwindel des Suffs schwankende Boden in das sanfte Schaukeln des Flusses, der unter seinem Körper sang, in das sich unablässig verändernde, gedächtnislose Strömen des dunklen Gewässers, auf dem er dahinglitt bis zum Meer, in dem Boot, das sein Großvater und er hätten bauen können, wenn der Alte nicht vorher gestorben wäre, in dem einfachen Kahn, der gerade groß genug war, dass Polo sich darin ausstrecken und in den Nachthimmel schauen konnte, über den dahinziehenden Baldachin aus Zweigen und Geißblatt, zum Zirpen Tausender Grillen und dem melodischen Schnarren des Ungeziefers, das einander begattete und verschlang, alles übertönt von der durchdringenden Stimme des Flusses, seinem kalten, unermüdlichen Gesang, der nachts eindringlicher war als in jedem anderen Moment des Tages, zumindest hatte sein Großvater das gesagt, wenn sie im Morgengrauen unter der Brücke angelten, in Gummistiefeln bis zum Knöchel in dem zähflüssigen, mit Glasscherben, spitzen Knochen und rostigen Dosen gemischten Schlick stehend, den Blick auf die Leine geheftet, die schräg inmitten des beschlagenen Spiegels versank, zu dem das angestaute Wasser frühmorgens wurde; silbergrau in der Mitte, tiefgrün an den Ufern, wo die Vegetation gnadenlos wucherte, sich selbst erstickte in hemmungslos ausschweifenden Tentakeln und dichten Netzen von Schlingpflanzen, Blüten und Dornen, die jungen Bäume in lebende, mit Stechäpfeln und blauen Glockenblumen behangene Mumien verwandelten, vor allem Anfang Juni, wenn die Regenzeit mit vereinzelten jähen Schauern einsetzte, die den Nachmittag nur noch schwüler machten, und überall, wohin man sah, Pflanzen aller Arten und Formen hervorschossen: Sträucher und Lianen und Efeu mit holzigen Stielen, die strotzend grün plötzlich am Wegrand auftauchten, selbst mitten in den stolzen Gärten von Paradais, aus unsichtbaren Sporen sprießend, denen es gelungen war, sich in den gepflegten englischen Rasen zu stehlen und über Nacht ihre prachtvollen, aber derben und gewöhnlichen Blätter zu entfalten, bis Polo mit der Machete kam, denn weder der röchelnde Rasenmäher der Anlage noch der Rasentrimmer konnten es mit dem zähen Unkraut aufnehmen, das Blumenbeete und Grünstreifen überfiel, Begonien und Hibiskus den Krieg erklärte.“

Verlage

Es ist immer wieder eine Freude, sie zu entdecken: Kleine Verlage mit einem ganz besonderen Fokus und einem sehr konsequenten Programm. Und passend zum Wunsch, meine Lesliste etwas abwechslungsreicher zu gestalten, nutze ich die Gelegenheit, um euch den Leipziger akono Verlag (Opens in a new window) vorzustellen.

„Zeitgenössische Schriftsteller:innen aus afrikanischen Ländern und der Diaspora haben ihre eigene Stimme, ihre eigene Sprache und ihre eigene, sachkundige Perspektive beim Erzählen von Geschichten, die sich auf Afrika beziehen. Der akono Verlag möchte diese Erzähler:innen zu Wort kommen lassen und ihre Geschichten in Deutschland verbreiten.“

Im letzten Herbst erschienen hier Texte, deren Handlungsorte Liberia, Südafrika und Nigeria ganz sicher in all unseren Regalen und To-be-read-Stapeln unterrepräsentiert sind:

Wayétu Moore „Sie wäre König“ (Opens in a new window), aus dem Englischen von Thomas Brückner.

Bronwyn Law-Viljoen „Der Nachlass des Grafikers“ (Opens in a new window), aus dem Englischen von Cathrin Neufeldt. 

Und der zweisprachige Gedichtband von Samuel Osaze „Der falsche Mond von Yenagoa“ (Opens in a new window), aus dem Englischen übersetzt von Andrea Jeska.

Liebend gern gehört 

In dieser Kategorie muss ich euch vermutlich enttäuschen, denn ich kann von keinem schönen Hörbuch schwärmen, das mir im Januar literarisch in den Ohren lag. Aber mich haben zwei Podcasts begleitet, die unterschiedlicher vielleicht nicht sein könnten. Ich habe einige innere Widerstände überwunden, um sie hier gemeinsam auf ein Bild zu bannen, aber dieser Newsletter bildet nun mal mein (Lese-)Leben ab und soll daher vor allem inspirierend ehrlich sein.

Ich hab mir dieses Jahr fest vorgenommen, so kurz vor Vierzig und als Mutter zweier Kinder, die mir jeweils locker und nahezu auf den Kopf spucken können, endlich mal ein paar dezidiert erwachsene Dinge zu tun. Zum Beipiel mich um meine Altersvorsorge zu kümmern. Als Mensch ohne wirkliche finanzielle Bildung (den Ausdruck hab ich neu, er ist noch ziemlich ungewohnt), als enorm früh Ausgezogene, der nie jemand ein Sparbuch zugesteckt hat und in deren Unterlagen sich nie ein Bausparvertrag offenbarte (mimimi), musste ich ziemlich früh für mich selbst sorgen und war ziemlich früh chronisch pleite. Den Führerschein, den ich heute nie nutze, habe ich von Geld bezahlt, dass ich eigentlich nicht hatte, um dann ein Auto zu Schrott zu fahren, das ich in den folgenden Jahren mühsam abzahlen musste. Diverse Abhängigkeiten von diversen Männern, mit denen ich zusammen lebte und/oder für die ich arbeitete, haben mich jahrelang in dem Glauben gelassen, es reicht, wenn wir gemeinsam an seinen Erfolgen oder für (s)eine große Idee arbeiten. Eine eher desaströse Beziehung zu einem sogenannten unabhängigen Vermögensberater hat mich alles, was auch nur im Ansatz mit Geld oder Vorsorge zu tun hat, wie ein rotes Tuch sehen lassen. Das erste Kind habe ich bekommen, während ich in einem 450€-Job angestellt war, das zweite am Ende der Ausbildung, und immer bot die Sparkasse mir ungefragt an, den Überziehungsrahmen meines quasi eingangslosen Kontos zu erhöhen, ich weiß also wie ein bis an die Grenze belasteter, jaulender Dispo klingt. Dazu kam eine Prise störrischer Kapitalismuskritik, ein grundsolider (in diesem Ausnahmefall leider saudämlicher, protestantischer) Optimismus und die Gewissheit, dass ich tatsächlich arbeiten kann, bis ich umfalle ... den Rest kann man sich denken. Egal was war, jetzt ist die beste Zeit um Dinge in Ordnung zu bringen. Ich höre jetzt bis mir sprichwörtlich die Ohren klingeln, den Podcast von Natascha Wegelin, die sich als Madame Moneypenny (Opens in a new window) das Thema „Finanzielle Unabhängigkeit für Frauen“ auf die Fahnen geschrieben hat. Ich überlege noch ein wenig ob und wie ich ein wenig darüber berichten kann, aber tatsächlich ist der Januar bisher ein Monat, der mich diesbezüglich vom Kopf her so weit gebracht hat, wie ich nie zuvor war.

Aber weil ich eben manchmal wirklich eine regelrechte Sucht nach einem poetischen Ausgleich, nach einer warmen und doch luftigen Stimme, nach Kunst für die Ohren hatte, habe ich im Januar auch wieder besonders gern den wunderschönen Podcast von Simone Scharbert (Opens in a new window) gehört. NAHAUFNAHME (Opens in a new window) heißt ihre wöchentliche kurze Lesung und wirkt wie Balsam aufs wunde, von Lautem und Unbedachtem gereizte Gemüt. Ich liebe Simones Stimme, ihre klugen, zarten, kraftvollen Gedanken, oft schreibt sie Lyrik oder Prosa zu Gelesenem und mir begegnen in ihren Worten die Texte wieder, die sie inspiriert haben und wirken über sie direkt in mir weiter. Fünfundvierzig wohltuende Folgen gibt es nun seit einem Jahr davon schon. Viele nur so um die sechs bis zehn Minuten lang und trotzdem wirken sie lange nach, sind für mich wundersamerweise immer genau die richtigen Inseln der geistigen Zuflucht oder Intensität, wenn alles überhand nimmt oder aber zu lau ist. Ein gutes Mittel für mich, um heile und offen und wach zu bleiben in dieser Zeit.

Was sonst noch las war im Januar

Auf nichts habe ich so sehr hingefiebert, wie auf den neuen Roman von Hanya Yanagihara. In der Übersetzung von Stephan Kleiner ist „Zum Paradies“ (Opens in a new window) am 11. Januar im Claassen Verlag erschienen. 

Dieser Roman erzählt auf 985 Seiten drei Geschichten, die einzeln für sich stehen könnten und doch in ihren Tiefen unglaublich gekonnt rhizomartig miteinander verbunden sind. Ein Buch, das sich Zeit und Raum nimmt, eine große Geschichte des Menschlichen ganz neu zu erzählen. Das begeistert, das überfordert, das berührt, das erstaunt, das öffnet Welten – wenn man sich einzulassen bereit ist. Es ist (mal wieder) ein Roman, der dazu führt, dass man über ihn reden will und ich bin froh und dankbar, dass ich das mit dem allerbesten Gesprächspartner tun durfte, der mir (nicht nur dafür) einfällt: mit dem wunderbaren, klugen, belesenen, empathischen, begeisterungsfähigen und charmanten Daniel Schreiber (Opens in a new window). Wir bezeichnen uns beide als größte Hanya-Yanagihara-Fans des Planeten, wobei es eigentlich komplett außer Frage steht, dass ihm dieser Titel gehören muss, weil er diese großartige Autorin schon lange vor mir gelesen hat, aber was sie jetzt auch mit ihrem dritten Roman in meinem Leseleben aufgewühlt, entfacht und neu gemischt hat, lässt mich zweifelsfrei den absolut gesicherten zweiten Platz einnehmen. Unser Gespräch war mein absoluter Lieblingsmoment im Januar. Es fand als öffentlicher Instagram-Livestream statt und ist hier (Opens in a new window) für euch weiterhin gespeichert. 

Dazu passt:

Worauf Hanya Yanagihara mir überraschenderweise auch riesengroße Leselust gemacht hat, ist wieder in mit großem Schwung erzählten, ausufernden Geschichten zu versinken. Im letzten Jahr habe ich viele schmale, oft autofiktionale Bücher gelesen. Es waren Bücher, die oft wohltuend akzentuiert und auf den Punkt gebracht waren. Hanya Yanagihara habe ich am Silvestertag begonnen. Ich habe mich auf dem Sofa verschanzt und an einem Tag rauschhafte vierhundert Seiten gelesen. Ich bin in dieses Buch förmlich hineingefallen und habe es an vier Lesetagen verschlungen, oder hat es mich verschlungen? Zuerst dachte ich, dass ich jetzt bald wieder nach Knappem Ausschau halten würde, aber zudem – siehe Fernanda Melchor ganz oben, ich las aber auch Hanne Ørstavik, aus dem Norwegischen übersetzt von Andreas Donat und Erzählungen von Rumena Bužarovska, aus dem Mazedonischen von Benjamin Langer; alle drei Bücher habe ich ausführlich in unserem blauschwarzberlin Podcast Letzte Lektüren (Opens in a new window) besprochen, wenn es jemand nachhören möchte – habe ich bewusst dicke Wälzer gesucht. Einen Roman mit 820 Seiten werde ich auf jeden Fall im nächsten Newsletter ausführlich vorstellen, denn er erscheint Mitte Februar. Ich habe aber endlich auch einen Anreiz gefunden, die lange hier vor sich hinstapelnden „Effingers“ (Opens in a new window) von Gabriele Tergit zu lesen. Sie wurden nämlich für die 19. Leserunde in meinem Instagram-Lesekreis (Opens in a new window) ausgewählt und da das Expermiment 898 Seiten für ganz viele Mitlesende glücken soll, biete ich sozusagen von Februar bis April dort ein betreutes Lesen dieses Klassikers an. 

Kleinod im Kinderbuch

Einen Kinderbuchklassiker neu zu illustrieren ist heikel und es gibt unzählige Beispiele dafür, wo es nicht geglückt ist. Und obwohl Ilon Wikland eine Ikone in meinem Kinderbuchregal war, bin ich doch schwer begeistert von Johan Egerkrans außerordentlich schönen Bildern in der Neuausgabe von Astrid Lindgrens „Mio, mein Mio“ (Opens in a new window)(die Übersetzung von Karl Kurt Peters wurde beibehalten), die jetzt im Januar bei Oetinger erschienen ist.

Dieses Kleinod hat mich an einen ebenso geglückten Fall erinnert: Vor drei Jahren erschien im Thienemann Verlag die Schmuckausgabe von Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ (Opens in a new window) illustriert von Sebastian Meschenmoser.

Beides Bücher, die man für immer behalten möchte, gerade mit diesen zauberhaften Bildern und in dieser schönen Gestaltung. Und diese Überlegung, ein Buch nie wieder hergeben zu wollen, bringt mit zu einer neuen Kategorie, denn ab sofort stelle ich euch in jedem Newsletter ein zufällig ausgewähltes Buch aus meinem Lebensbuchregal vor:

Aus meinem Lebensbuchregal

Meine Lebensbücher sammle ich auf einem Regalbrett, das nicht einmal besonders groß ist. Sie sind nie sortiert, sie sind oft in Bewegung, aber hier stehen, stapeln, türmen sich Bücher, auf die ich nie im Leben verzichten möchte. Hier ist der Platz für lebenslange literarische Lieben, hier stehen Bücher, ohne die ich mich weniger ich, weniger zuhause fühlen würde. Hier steht mein gedruckter Trost, meine gebundene Horizonterweiterung. Diese Bücher in den Blick zu nehmen ist wie Balsam, in diesen Büchern schlage ich immer wieder Sätze nach, manchmal streichele ich nur ihre Rücken, während sie meinen aufrichten. Bücher, die mich tiefer berührt oder höher herausgefordert haben; Bücher, die mich in ihrer sprachlichen oder gestalterischen Schönheit berauscht und beglückt haben stehen hier in manchmal sehr wilden, aber für mich genau den richtigen Kompositionen zusammen. Beginnen wir mit einem davon:

Wer erfahren möchte, welche Macht die Sprache der Gegenwartsliteratur hat, der begebe sich vertrauensvoll in Judith Schalanskys literarischen Kosmos. So viel Präzision, so viel Genaues, Besonderes, Überraschendes ist in „Verzeichnis einiger Verluste“ (Opens in a new window), erschienen im Suhrkamp Verlag, zu finden. Ein Buch zum Staunen und Bewundern. Ich lese nur wenige Sätze und bin knallverliebt in Grammatik, in Schalanskys Stil, ihre Wortwahl, ihr Sprachgefühl.
Und dabei habe ich noch nicht einmal die schwarz auf schwarz gedruckten Illustrationen erwähnt, die diese zwölf Erzählungen über Flüchtiges und Verlorenes eröffnen und sich nur je nach Lichteinfall preisgeben wollen, oft auf falsche Fährten führen, ähnlich viel Aufmerksamkeit und Einlassen erfordern, wie Schalanskys oft anspruchsvolle Gedankengänge. Sie dekliniert verschiedene Genres durch, schreibt enzyklopädisch und poetisch und hat vom Ton bis zum Umfang jeder Erzählung einen exakten Maßstab des Durchdachten, der angenehmen Perfektion, der Freude an Genauigkeit So, wie sie auch dieses Buch gestaltet hat: Ein regelrechtes Sonntagsbuch, das ein Vorwort UND eine Vorbemerkung der Autorin hat (und beides benötigt und verdient). Ein wunderbares Langsamlesebuch, das uns auf knappem Raum und auf eine erstaunlich bescheidene Art die ganze Fülle von sprachlicher und gestalterischer Präsenz schenkt.

Vorfreude auf den Februar

Der Februar steht im Zeichen des Black History Month. Das ist sicherlich nicht der einzige Grund, aber ein sehr guter Anlass, um gezielt und verstärkt Schwarze Autor*innen zu lesen, sich mit der Arbeit und mit dem Werk Schwarzer Künstler*innen auseinanderzusetzen, und ein guter Grund,  um zu lernen.

Ich zeige euch nochmal meine liebsten drei Sachbücher:

„exit RACISM rassismuskritisch denken lernen" (Opens in a new window) von Tupoka Ogette beim Unrast Verlag erschien 2016 und ist ein kurzes und eindrückliches Übungsbuch, das weiße Menschen für Rassismus sensibilisiert, darüber aufklärt und vor allem hilft, eigene Rassismen zu reflektieren. Ich freue mich schon sehr auf das neue Buch von Tupoka Ogette: „Und jetzt du. Rassismuskritisch leben“ (Opens in a new window), das am 8. März bei Penguin erscheint.

Alice Hasters hat mit „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ (Opens in a new window) für mich eine weitere Intensivierung dieses Themas geschrieben. Sehr persönlich und beeindruckend geduldig, erklärt sie allen weißen Menschen, wo das Problem liegt, gerade wenn sie von sich behaupten, vor Rassismen gefreit zu sein und sie zeigt sehr deutlich, dass Rassismus nicht erst da anfängt, wo Neonazis aufmarschieren.

Audre Lorde „ Ein strahlendes Licht“ (Opens in a new window) ist eine wunderbare Sammlung von Schriften, Reden und Gesprächen beim aki Verlag. Dieses Buch eignet sich auch ganz hervorragend, um in das Werk dieser beeindruckenden Künstlerin einzusteigen. „Ich bin Schwarz, lesbisch, Feministin, Kriegerin, Dichterin, Mutter.“ So beschrieb sich Audre Lorde, in ihrer Arbeit zum Kampf gegen Rassismus, gegen die Unterdrückung der Frauen und für die gesellschaftliche Anerkennung nicht-heterosexueller Beziehungs- und Familienstrukturen war sie eine Vorreiterin, von der wir nicht genug lernen können. Das Buch wurde übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné, Marion Kraft, Mirjam Nuenning und Pasquale Virginie Rotter. Zudem wurde es mit einem Vorwort von Alexis Pauline Gumbs und einem Nachwort von Cheryl Clarke versehen.

Und hier sind noch meine drei liebsten literarischen Werke von Schwarzen Autorinnen:

„Heimkehren“ (Opens in a new window) von Yaa Gyasi, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Anette Grube bei DuMont gehört zu einem meiner allzeit liebsten Bücher. Die Geschichte beginnt im 18. Jahrhundert in Ghana, die Schwestern Effia und Esi werden getrennt, bevor sie sich je begegnen konnten. Die eine heiratet einen Sklavenhändler, die andere wird als Sklavin nach Amerika verkauft. Mit unvergleichlichem Sog folgt der Roman dann in kurzen Kapiteln den Nachkommen dieser beiden Schwestern quer durch die Zeiten bis ins Harlem der Sechziger. 

Bernardine Evaristo „Mädchen, Frau, etc.“ (Opens in a new window), aus dem Englischen von Tanja Handels, verwebt in zwölf Geschichten eine furiose Erzählung darüber, was es heißt, anders zu sein: Schwarz, eine Frau, queer – die Protagonistinnen eint ein Kampf gegen eine Mehrheitsgesellschaft und doch erzählen sie alle für sich Geschichten von denen jede einen eigenen Roman umfassen dürfte. Wie Evaristo diese Figuren und Erzählungen miteinander verwebt und zu einem vielschichtigen, kaleidoskopartigen Zusammenspiel inszeniert, ist genauso grandios wie Tanja Handels Übersetzung, die die einzelnen Stimmen glasklar herausarbeitet. 

Magischer Realismus, sprechende Gegenstände und Adas, die zu vier verschiedenen Zeiten darum kämpfen müssen, nicht an der Unbarmherzigkeit dieser Welt zugrunde zu gehen. Davon erzählt „Adas Raum“ (Opens in a new window) der Bachmannpreisträgerin Sharon Dodua Otoo beim S. Fischer Verlag.  Ich habe das Buch bereits im letzten Newsletter als eines meiner Lieblingsbücher aus dem letzten Jahr ausführlich besprochen, daher halte ich mich jetzt kurz und sage nur: Bitte lest es!

Worauf ich mich natürlich auch noch freue, sind die literarischen Neuerscheinungen, die uns im Februar erwarten:

Da ist zum einen Tove Ditlevsens Roman „Gesichter“ (Opens in a new window), der in der Neuübersetzung von Ursel Allenstein am 14. Februar bei Aufbau erscheint.

Ich freue mich sehr darauf, dass ich am Abend des 1. März wieder ein Gespräch zum #tovelesen als Instagram-Livestream mit Ursel Allenstein haben darf, bei dem wir uns intensiv mit diesem Roman der dänischen Autorin beschäftigen, so wie wir es letztes Jahr anlässlich der Kopenhagentrilogie getan haben. Das Gespräch könnt ihr hier (Opens in a new window) noch nachschauen.

Ebenfalls am 14.2. erscheint „Ein simpler Eingriff“ (Opens in a new window) von Yael Inokai bei Hanser Berlin. Moderiert von der wunderbaren Isabelle Lehn, deren Roman „Frühlingserwachen“ (Opens in a new window) einen festen Platz auf meinem Regal der Lebensbücher hat, wird Yael Inokai ihren Roman, dem ich ganz optimistisch bereits einen Platz in diesem Regal reserviert habe, ihr neues Buch am 17.2. um 20 Uhr im ocelot vorstellen. Die Buchpremiere ist leider restlos ausverkauft, aber ich streame die Veranstaltung höchstpersönlich auf dem Instagramkanal ocelotberlin (Opens in a new window).

Und ein Buch, auf das ich mich ebenfalls unfassbar freue, ist der Familienroman „Dschinns“ (Opens in a new window) von Fatma Aydemir, der ebenfalls am Valentinstag bei Hanser erscheinen wird. 

Ha, die aufmerksamen Leser*innen haben es natürlich gemerkt: Um meinen Gedanken vom Beginn dieses Newsletters entsprechend den literarischen Blick zu weiten, muss ich meine Vorfreude nochmal um einige Sprachräume erweitern:

„Unser Teil der Nacht“ (Opens in a new window) von Mariana Enriquez hatte ich ja weiter oben als 820-Seiter bereits etwas kryptisch eingeflochten, als es um dicke Bücher ging, auf die ich urplötzlich so große Lust habe. Aus dem argentinischen Spanisch wurde es übersetzt von Silke Kleemann und Inka Marter und erscheint am 19.02. im Tropen Verlag.

„Eine Nebensache“ (Opens in a new window) von Adania Shibli wurde aus dem Arabischen von Günther Orth übersetzt und erscheint am 22. Februar im Berenberg Verlag.

„Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder Die Dritte Heloise“ (Opens in a new window) von Viktor Schklowski (aus dem Jahr 1923) erscheint in der Übersetzung aus dem Russischen von Olga Radetzkaja am 28. Februar im Guggolz Verlag.

So, das ist schon ganz schön viel Februarvorfreude, das muss ich zugeben. Wovon in der kommenden Ausgabe dieses Newsletters zweifelsfrei auch die Rede sein wird, sind die Romane von Nino Haratischwili, Stine Pilgaard, übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, und Nadire Biskin, die auch für den Februar erwartet werden. Sehnsüchtig wie der Frühling, der dann vielleicht schon zart anklopft, wenn euch am letzten Februarsonntag die nächste Ausgabe dieses Newsletters erreicht. Ich freue mich sehr drauf, wenn wir uns dann an dieser Stelle wieder begegnen. 

Alles Liebe und ein gutes Lesen

Maria

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