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Mein erstes Vorwort

Am 11. April 2022 erscheinen im Aufbau Verlag zwei Werke der großartigen italienischen Autorin Goliarda Sapienza (wieder oder überhaupt erstmals) auf Deutsch:

Ihr großer Roman „Die Kunst der Freude“, aus dem Italienischen von Esther Hansen und Constanze Neumann, erzählt auf 735 Seiten das Zwanzigste Jahrhundert aus der Perspektive einer absolut außergewöhnlichen Heldin und erscheint mit einem wunderbaren Vorwort von Antonia Baum erstmals in einer vollständigen Ausgabe.

Um das Schreiben an diesem Roman finanzieren zu können, hat Goliarda Sapienza einen Diebstahl begangen, für den sie ins römische Frauengefängnis Rebibbia gebracht wurde. Aus dieser Zeit stammt ihr literarisches Gefängnistagebuch „L'università di Rebibbia“, das nun in Verena von Koskulls Übersetzung erstmals auf Deutsch vorliegt. Für „Tage in Rebibbia“ durfte ich das Vorwort schreiben, was mir immer noch wie eine unfassbare Ehre und ein unwirkliches Glück erscheint. Nachfolgend darf ich es hier mit euch teilen und hoffe, dass es ganz viele von euch dazu inspiriert, Goliarda Sapienza zu lesen und diese Wiederentdeckung mit uns zu feiern.


Das Vorwort:

FREIHEIT UND FRAUSEIN: GOLIARDA SAPIENZAS GEFÄNGNISTAGEBUCH

Neulich stand mir in der Buchhandlung, in der ich arbeite, ein freundliches Paar gegenüber. Der Mann trug sichtlich stolz einen großen Stapel Bücher an die Theke: Wirklich schöne Ausgaben von James Joyce, Thomas Mann, Albert Camus und anderen bestens Bekannten türmten sich an der Kasse zwischen uns auf. Nein, sie wollten die Bücher nicht als Geschenk verpacken lassen, sagte die Frau, schließlich seien sie viel zu schön, um sie nicht behalten zu wollen. Nach langen Arbeitsjahren seien sie nun in Rente gegangen und hätten endlich Zeit, sich eine schöne Bibliothek zu erlesen. Den Anspruch an gut gestaltete Bücher konnte ich verstehen, und wir lachten im Einvernehmen über bibliophile Grundsätze. Während wir vor dem Kassieren andächtig den kunstvollen Einband der »Buddenbrooks« streichelten, den knallroten Farbschnitt von »Ulysses« und das goldfarben geprägte Cover von F. Scott Fitzgeralds Erzählungen bestaunten, schaute der Mann mich an: »Das ist doch der Grund, weshalb man im Buchhandel arbeiten will, oder? So schöne Bücher!« Darüber musste ich einen Moment nachdenken.

Ja, ich bin Buchhändlerin geworden, um möglichst viel mit Büchern zu tun haben zu können. Ich wollte viel lesen und jeden Tag über das reden, was ich gelesen hatte – umso besser, wenn diese Bücher auch noch schön gestaltet waren. Aber das ist schon lange nicht mehr der Grund, weshalb ich Buchhändlerin geblieben bin. War das Lesen anfangs mein Ziel, ist es in den letzten Jahren zunehmend zu meinem Treibstoff geworden und ermöglicht nun mein Engagement in ganz verschiedene Richtungen, immer mit dem Wunsch, auch andere Menschen von großartiger Literatur begeistern zu können. Wenn mich jemand fragt, wie man so viel lesen könne, verstehe ich hingegen schlicht nicht, wie denn ein Leben ohne Literatur zu bewältigen sei. Mit jedem gelese- nen Buch steigt mein Instinkt für die Texte, die nicht nur mein Lesen, sondern mein ganzes Leben bereichern. Immer häufiger sind das Texte von Frauen und immer häufiger sind es keine neuen Werke, sondern Bücher, die unter anderen Umständen längst zu Klassikern geworden wären und eigentlich mit auf den Stapel der schön gestalteten Weltliteratur gehörten. Diese literarischen (Wieder)Entdeckungen der jüngeren Zeit sind ein großes Glück, doch sie zeigen auch, was uns bislang entgangen ist, wofür die Literaturwelt vielleicht noch nicht bereit war, und sie zeigen uns gleichzeitig, was alles noch unentdeckt im Verborgenen wartet. So viele Stimmen von Autorinnen, die ihr Erleben, ihr Be- obachten, ihre Gedanken, Gefühle und ihr Verständnis von der Welt zu Literatur gemacht haben, sind noch ungehört. So viele Bücher von Frauen sind ungelesen, weil ihnen in einem männlich dominierten Literaturbetrieb kein Platz und keine Aufmerksamkeit eingeräumt wurde, weil ihre Arbeit von Männern als weiblich und somit als nicht bedeutsam und nicht literarisch eingestuft wurde. Auch wenn sich schon vieles bewegt hat, ist der Preis, den Autorinnen für ihre Kunst zahlen, immer noch enorm hoch. Nicht nur das Schreiben findet unter erschwerten Bedingungen statt – dazu empfehle ich (offenbar kann ich die Buchhändlerin in mir schlicht nicht aus diesem Text verbannen) die von Ilka Piepgras herausgegebene Anthologie »Schreibtisch mit Aussicht«. Auch die Veröffentlichungen und die Rezeption der Texte von Frauen sind großen Widrigkeiten ausgesetzt – dazu erschien zuletzt Nicole Seiferts erhellendes Buch »Frauen Literatur«.

Für beides ist die Autorin dieses Buches ein beeindruckendes Beispiel: Goliarda Sapienza. Sprechen Sie ihn doch bitte noch einmal laut, liebe Leser*innen, denn dieser Name ist viel zu lange ungenannt geblieben: GOLIARDA SAPIENZA.

Goliarda Sapienza wurde 1924 in Catania auf Sizilien geboren. Ihre Mutter war eine feministische Aktivistin, sozialistische Gewerkschafterin und stand im Kontakt mit den intellektuellen Linken Europas, ihr Vater vertrat als Anwalt Hilfesuchende der Arbeiterklasse, beide waren überzeugte Antifaschisten. Sie waren nicht miteinander verheiratet und hatten ein für diese Zeiten geradezu fortschrittliches Verständnis von Patchwork. In der Offenheit, Sensibilität und Kompromisslosigkeit dieses hochpolitischen, antifaschistischen und freigeistigen Haushalts aufgewachsen, ging Goliarda Sapienza 1941 mit 16 Jahren zum Schauspielstudium nach Rom. Sie schloss sich den Partisanen im Widerstand an und wurde, wie auch ihre Eltern, von den Faschisten verfolgt. Nach Kriegsende feierte sie Erfolge am Theater und beim Film und verkehrte in den Kreisen der Boheme um die Künstler*innen des italienischen Neorea- lismus wie Luchino Visconti. Nach dem Tod ihrer Mutter begann Goliarda Sapienza Mitte der fünfziger Jahre zu schreiben: Zuerst waren es Gedichte und kürzere autobiografische Texte über ihre Kindheit und die Behandlungsver- suche ihrer psychischen Erkrankung (sie litt unter schweren Depressionen und unternahm zwei Suizidversuche), die in den späten sechziger Jahren mit mäßigem Erfolg veröffent- licht wurden. Ihre langjährige Beziehung zu Francesco Maselli ging zu Ende, und Goliarda war zunehmend auf sich selbst zurückgeworfen. Mit über vierzig wagte sie die größte künstlerische Unternehmung ihres Lebens: Von 1967 bis 1976 arbeitete sie völlig rückhaltlos an ihrem großen Werk »L’arte della gioia«, ihrem Jahrhundertroman mit der eigensinnigen und freiheitsliebenden sizilianischen Protagonistin Modesta, der in der deutschen Übersetzung von Esther Hansen und Constanze Neumann als »Die Kunst der Freude« nun zeitgleich mit dem hier vorliegenden Buch er- scheint ... Die Arbeit an ihrem Romanprojekt kostete sie alles: Goliarda Sapienza gab Engagements, Aufträge und Freundschaften auf, um sich ganz und gar ihrem Schreiben widmen zu können. Dieses Schreiben war keine Option, es war kein Bedürfnis, es war ein alles bestimmender Drang, es war Goliarda Sapienzas Bestimmung, diesen großen Roman zu schreiben, eine Bestimmung, der sie alles unterordnete. Doch kein italienischer Verlag wollte ihn veröffentlichen: zu unkonventionell, ja geradezu skandalös, und mit über 700 Seiten natürlich viel zu umfangreich – für eine Frau selbstverständlich nur. Völlig verarmt sah Goliarda Sapienza keine andere Möglichkeit, als einer Bekannten Schmuck zu steh- len, um sich irgendwie über Wasser zu halten und weiter schreiben zu können, denn das war nach wie vor alles, was sie wollte, das war es, was sie tun musste.

Ich sitze hier, heute über vierzig Jahre später, in einer anderen Hauptstadt, in einer Welt, die sich einerseits gar nicht so sehr und andererseits doch völlig verändert hat, und beneide sie fast um diese beeindruckende Kompromisslosig- keit, um diesen Ruf zu den Schreibwerkzeugen, der so deutlich war, dass er jede moralische Glocke verstummen ließ. 1980 wurde Goliarda Sapienza für den Diebstahl zu einigen Monaten Haft im römischen Frauengefängnis Rebibbia verurteilt. Wie ganz und gar durchdrungen ihr Sein vom Schreiben war, sieht man nun auch an dem hier vorliegenden Buch, denn aus dieser wieder einmal sehr ungewöhnlichen Erfahrung macht Goliarda Sapienza eine literarische Beobachtung, die, in der wunderbaren Übersetzung von Verena von Koskull einer der außergewöhnlichsten Texte geworden ist, die ich je lesen durfte: »Tage in Rebibbia« ist das bewegende Memoir dieses Gefängnisaufenthaltes.

Auf nicht einmal 200 Seiten nimmt uns Goliarda Sapienza mit hinter die dicksten Mauern des römischen Stadtteils Trastevere und eröffnet uns dort eine ganz eigene Welt. Im Präsens, in der ersten Person, untrennbar eng gebunden an ihren Blick und an das, was ihr begegnet, sind wir von Beginn an hautnah bei ihr, während sie von wütenden Männern abgeführt und inhaftiert wird, eingesperrt in das, was zu ihrer »L’Università di Rebibbia« wird. Nicht nur eine Schule des Lebens, das Gefängnis wurde Goliarda zur Universität. So, wie mir ihr Tagebuch zu einer ganz besonders intensiven Lektion wurde, denn ich habe kaum eine Seite umblättern können, ohne mir zuvor besondere Sätze oder literarische Bilder angestrichen zu haben. Es ist einer dieser schwungvollen, lebendigen, unmittelbaren Texte, auf dessen erster Seite sich bereits eine Komplizin offenbart, deren wacher Geist und klare Stimme keine Angst davor haben, die Wahrheit über die Ungerechtigkeiten in unseren Frauenleben laut auszusprechen. Wenn Goliarda Sapienza die Ohnmacht beschreibt, die sich angesichts der körperlichen Überlegenheit der sie ins Gefängnis abtransportierenden Carabinieri einstellt, dann erkennen wir alle, die wir auf dem nächtlichen Heimweg von der U-Bahn-Station unseren Hausschlüssel umklammern, sofort eine Verbündete, dazu müssen wir nicht von Uniformierten abgeführt worden sein. Für mich wären die Aufseherinnen, denen die Gefangene danach überantwortet wird, nicht unbedingt vertrauenserweckender, aber hier greift bereits Goliarda Sapienzas lenkender Blick, der uns betont erleichtert, nun unter Frauen zu sein, der uns das Menschliche in ihnen zeigt und uns fortan durch dieses Buch führen wird. Denn auch wenn die ersten Tage in Einzelhaft ein so entsetzlich erzwungenes Alleinsein bedeuten, wie ich es mir nicht einmal vorstellen kann, lotst uns die Gefangene selbst sicher durch diese Erfahrung und erlangt ihre größte innere Freiheit gerade in ihrer Fähigkeit, auch inmitten schlimmster äußerer Zwänge nicht ihre Beobachtungsgabe als Autorin zu verlieren. Was wir mit ihr dann auf den folgenden Seiten erleben, ist so warmherzig und grauenhaft, so erschreckend und liebevoll und in seiner räumlichen Begrenzung so beeindruckend welthaltig, dass ich sicher bin, jetzt, da dieser Text endlich auf Deutsch vorliegt, werden wir Goliarda Sapienza nie wieder vergessen. Ein Frauengefängnis im Rom der frühen achtziger Jahre: Goliarda Sapienza offenbart uns einen Ort, der laut ist, lebendig und roh, einen Ort, der zart ist und weich und der überraschende Behutsamkeit zulässt. Die Zeit wird hier völlig neu bemessen, Klassenunterschiede weichen hier genauso auf wie Konventionen, und es finden sich verschiedene Generationen von Frauen in völlig überraschenden Konstellationen zusammen, verbunden von neuen Ritualen und Rhythmen, von neuen Hierarchien und weiblicher Solidarität. Goliarda Sapienza beschreibt ihr eigenes Empfinden und die Mitgefangenen, die sie beobachtet, mit einer Offenheit und einer Sensibilität, dass ich sie lebendig vor mir sehe, sie rieche, sie höre und ihre Leiden spüren kann. Gemeinsam mit der neu angekommenen Goliarda erlerne ich die Codes und Gesten, mit denen hier kommuniziert wird, erlebe die Einsamkeit einer fensterlosen Zelle und die fast unerträgliche Fremdheit der Geräusche der ersten Nacht in Gefangenschaft.

Dieses Buch handelt von Stolz und Verderben, von Loyalität und Verbundenheit, vom gesellschaftlichen Abgleiten und vom Überleben. Vor allem handelt es von der Freiheit und vom Frausein – diesseits und jenseits der Gefängnismauern, damals in Italien und vielleicht überall zu jeder Zeit. Vom Wert des eigenen Lebens und vom unverhofften Glück einer gemeinsamen Mahlzeit.

Im Gegensatz zu Albertine Sarrazin, einer französischen Autorin, die bereits zwanzig Jahre zuvor über ihre Gefängniserfahrungen geschrieben hat – »Astragalus« aus dem Jahr 1964, erschien 2013 in der Neuübersetzung von Claudia Steinitz –, bleibt Goliarda Sapienza in ihrem Memoir ganz im Kammerspielmodus des Gefängnisses von Rebibbia. Sie schreibt anfangs mit kurzzeitig geschnorrten Stiften auf zu- sammengeklaubten Papierschnipseln. Dieser intensive Bericht entzieht sich jedem Klischee von Frauengefängnis und er übertrifft jedes Klischee von Frauengefängnis. Ich werde nie wieder einen Strauß Gladiolen in meine Wohnung stellen oder einen Film von Buñuel schauen, ohne an Goliarda Sapienza im Gefängnis von Rebibbia zu denken.

Die Autorin hat leider nicht mehr erlebt, wie ihr großer Jahrhundertroman in Gänze veröffentlicht und bewundert wurde. Und auch wenn ihr Gefängnistagebuch noch zu ihren Lebzeiten erschien, war die Resonanz des italienischen Literaturbetriebs verhalten und würdigte weder ihren per- sönlichen Einsatz noch ihr außergewöhnliches literarisches Talent. Nun liegt dieses Tagebuch erstmals auf Deutsch vor – fast vierzig Jahre nach der italienischen Erstveröffentlichung. Wir kennen das auch von anderen großen Autorinnen, die autofiktional schreiben. Auch Annie Ernaux hat hierzulande mehrere Anläufe gebraucht, bis sie in der Übersetzung von Sonja Finck und auf dem richtigen Programmplatz im richtigen Verlag landete. Ebenso erging es Tove Ditlevsen, die erst in Ursel Allensteins Übersetzung und vor allem der überzeugten und auch gestalterisch überzeugenden Herausgabe aller drei Bände der Kopenhagen-Trilogie die Aufmerksamkeit zuteil werden konnte, die ihr in unserem literarischen Kosmos längst hätte gehören sollen.

Beide Autorinnen landeten umgehend mit meinen herzenswärmsten Empfehlungen auf dem Stapel des buchkaufenden Pärchens vom Anfang dieses Textes. Diese Autorinnen sind ganz sicher ein Grund, weshalb ich als Buchhändlerin arbeiten möchte. Ich legte den beiden auch noch »Die drei Sommer« von Margarita Liberaki in der Übersetzung von Michaela Prinzinger dazu, Banines »Kaukasische Tage«, übersetzt von Bettina Bach. Und natürlich die ebenfalls von Verena von Koskull wunderbar übersetzte Wiederentdeckung von Alba de Céspedes. Und die autobiografischen Werke von Maya Angelou, übersetzt von Harry Oberländer, Melanie Walz und Gesine Schröder. Und die wunderschöne Gesamtausgabe der Erzählungen von Adelheid Duvanel. Wir verbrachten noch fast eine Stunde im angeregten Gespräch über dominierende Männlichkeit im Bücherregal und zu Unrecht vergessene Schriftstellerinnen.

Zum Schluss schwärmte ich den beiden ganz im Vertrauen schon einmal von der grandiosen italienischen Auto- rin Goliarda Sapienza vor, die ich gerade vorab lesen durfte und deren bewegte Biografie, deren beispielhafter Mut und deren überragendes literarisches Können nun sehr bald endlich von allen (wieder)entdeckt werden könnten. Ob ich ihnen das bitte aufschreiben würde, sie wollten sich den Namen und das Erscheinungsdatum gern im Kalender no- tieren, fragte der Herr. Aber mit dem größten Vergnügen, entgegnete ich, mit dem allergrößten Vergnügen!

Maria-Christina Piwowarski

Berlin, im Dezember 2021

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