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Verfassungs....schutz ?

Als am 6. April 2006 der 21-jährige Halit Yozgat in einem Internetcafé in Kassel aus nächster Nähe erschossen wurde saß der Verfassungsschutzmann Andreas Temme nur wenige Meter entfernt im selben Raum und meldete sich als einziger Kunde nicht als Zeuge. Es war einer der vielen Morde des lange Zeit unerkannten NSU. Temme galt als tatverdächtig, behauptet aber bis heute, nichts von dem Mord mitbekommen zu haben. Er, der in seinem Heimatdorf als Jugendlicher unter dem Spitznamen „Klein Adolf“ bekannt war, habe den verblutenden Halit beim Verlassen des Cafés nicht bemerkt.

Fälle wie die des V-Mann Temme seien niemandem so unangenehm wie den Verfassungsschützern selbst, meint Ronen Steinke und erzählt gleichzeitig von der rechtslastigen Geschichte dieser Behörde. Die Alliierten erlaubten 1949 eine Dienststelle neben der Polizei, die ohne Pistolen und Handschellen Informationen über Feinde der Demokratie sammeln sollte: den Verfassungsschutz. Nur wer ist der Feind und wie findet die Überwachung statt? Das war und ist nicht immer klar.

Viele ehemalige Nazis arbeiteten dort. Dass die eher gegen Kommunisten vorgingen, als gegen Rechtsradikale, war kaum zu vermeiden. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz hieß in jüngster Zeit lange Jahre Hans-Georg Maaßen. Er ist derjenige der die heutige Migrationspolitik als „Ausdruck einer grün-roten Rassenlehre, nach der Weiße als minderwertige Rasse angesehen werden und man deshalb arabische und afrikanische Männer ins Land holen müsse“ bezeichnet und für den Reisen nach Ungarn erholsam sind, weil er dort „als weißer deutscher Mann nicht diskriminiert und diffamiert werde.“

Steinkes Kritik am Verfassungsschutz ist die Tatsache, dass dort Politik gemacht wird und juristisch nicht dagegen vorgegangen werden kann. Agenten dürfen Telefonate abhören, sich in Handys einhacken und mit V-Männern in das Privatleben eindringen, ohne dass zuvor strafbare Handlungen begangen worden waren. Während die Polizei Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte von Verdächtigen vor einem Richter rechtfertigen muss, kann der Verfassungsschutz ganz ohne Gerichtsentscheid spionieren. Die Behörde darf im Gegensatz zur Polizei Personen und Gruppierungen beobachten, die sich völlig legal verhalten. Das schade der Demokratie, kritisiert Steinke. Die Kontrolle der Verfassungsschützer erfolgt lediglich durch ein kleines Gremium, das sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit trifft.

In den verschiedenen Bundesländern werden je nach Regierung unterschiedliche Objekte ausspioniert. Auch im Bund gibt es Einfluss durch die jeweilige Bundesregierung. Als der Verfassungsschutz 2021 eine mehr als 800 Seiten starke Einschätzung der AfD im Innenministerium zur Freigabe vorlegte, war der damalige Innenminister Horst Seehofer mit seinen Fachleuten nicht zufrieden. Slogans wie „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ wurden darin als extremistisch erwähnt, was Seehofer, der denselben Satz auch schon sagte, nicht so gut fand. Das Papier wurde daraufhin mehr als einen Monat lang umgeschrieben. Geändert wurden dann Passagen zu Positionen, die auch Politiker der Union schon zum Besten gegeben hatten.

Der Verfassungsschutz ist die Behörde, die den „Radikalenerlass“ in den 70er Jahren umgesetzt hat, der tausende Menschen um den Job brachte. Die Verfassungsschutz ist die Behörde, die so viele Informanten in der Führung der rechtsextremen NPD abschöpften, dass am Ende nicht mehr klar war, ob die Partei von der staatlichen Behörde mitgelenkt wurde.

Insgesamt sechs Jahre lang recherchierte Ronen Steinke für sein Buch und fragt sich nun: Weshalb gibt es das nicht in anderen Ländern? Gibt es überhaupt gute Gründe für die Arbeit des Verfassungsschutzes?

 

 

Ernst Reuß

 

 

Ronen Steinke: Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht. Berlin Verlag 2023. 224 S., 24 Euro.

Topic BRD und DDR

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