Alle bekloppt?
Zum inflationären Gebrauch psychiatrischer und neurologischer Diagnosen in den sozialen Medien: Hilfreich, Modeerscheinung oder Ausrede?
Passend zum letzten Text über die Kollision der Generationen (Opens in a new window), geht es heute um die zunehmende - ich nenne es mal Psychologisierung menschlicher Erfahrungen und Verhaltensweisen, die in den sozialen Medien um sich greift und bei vielen Menschen eher Verstörung auslöst. Alles ist plötzlich Trauma oder Heilung, ADHS oder Asperger, Angststörung oder Depression, Narzissmus oder Neurodivergenz. Eine bange Frage geistert durch den Raum: Ist es hip, eine psychologische oder psychiatrische Diagnose zu haben?
Ich bin wie so oft ein Mischgetränk aus beiden Welten, weil ich einerseits in einem vollkommen “unpsychologischen” Umfeld groß geworden bin, gleichzeitig aber seit meiner Pubertät unter wiederkehrenden Depressionen und von etwa 2010 bis 2020 unter einer Angststörung gelitten habe und daher gezwungen war, mich ab meinen frühen Zwanzigern mit meiner Psyche auseinanderzusetzen. Darüber hinaus habe ich mich mein Leben lang wie eine Außerirdische unter den Menschen gefühlt, Verständnislosigkeit und kognitive Überforderung meiner Gegenüber waren ebenso lebenslange Begleiter wie die Isolationsgefühle, die daraus resultierten. Jahrzehnte habe ich mich gefragt, was mit mir nicht stimmt. Bis ich im Netz über bestimmte “Psycho”-Begriffe stolperte, die mir mein ganzes Leben erklärten, in erster Linie waren es Begriffe aus dem Bereich der Neurodivergenz. Ich kenne mich also mit beiden Welten weidlich aus.
Vorab: Neurodivergenz will ich als eine von der Norm (= dem empirisch häufigsten Fall) abweichende Verdrahtung von Nervenzellen im Gehirn verstanden wissen, die beispielsweise die Aufnahme und Verarbeitung von sensorischen Reizen oder Informationen beeinflusst. Unter Neurodivergenz fallen meines Erachtens AD(H)S, Asperger/Autismus, Hochbegabung und eingeschränkt auch Hochsensibilität.
Wieso braucht man für alles ein Label?
Zum Einen, weil das die Quintessenz menschlicher Intelligenz ist. Phänomene zu benennen. Und weil Menschen zwar unbedingt die gleichen Rechte haben sollten, aber nicht alle gleich sind. Unterschieden einen Namen zu geben, hilft bei der Kommunikation und dem Verstehen. Neurodivergente Menschen nehmen aufgrund ihrer abweichenden Verdrahtung oft anders wahr, denken anders, reagieren anders, verhalten sich in Alltagssituationen anders. Und es ist gut und richtig, dass Bezeichnungen helfen können, unangenehme Situationen oder Missverständnisse auszuräumen.
Zum Anderen und das ist vielleicht der viel gewichtigere Grund, weil es für das Selbstverständnis und damit die eigene Identitätsfindung von Betroffenen extrem wichtig ist. Die Selbstzweifel, die empfundene Isolation, das Gefühl, nicht “richtig” zu sein, die Verwirrung darüber, warum man in der Gesellschaft nicht “funktioniert” - all das lastet oft Jahrzehnte auf den Schultern solcher Menschen, macht sie mitunter psychisch krank. Einen Namen zu finden, kann für solche Menschen ungeheuer befreiend (Opens in a new window) sein. Ich habe selbst mehrere neurodivergent diagnostizierte Menschen in meinem sozialen Umfeld, die den Moment, als sie einen Namen und also eine Erklärung für ihre Erfahrungen, ihre Probleme, ihr ganzes Anderssein fanden, als lebensveränderndes Ereignis erlebt haben. Und auch ich hatte einen solchen Moment mit Anfang dreißig, als ein Leser meines damaligen Blogs mir die Tür zu dem großen Komplex der Neurodivergenz öffnete. Ich bin ihm bis heute unendlich dankbar dafür.
Weil eine Erklärung gleichzeitig auch ein Anfang sein kann. Konstruktiv damit umzugehen, das eigene Leben neu zu bewerten, sich selbst nicht mehr als Totalausfall zu zerfleischen, sondern eine Möglichkeit sehen, dem Leben eine andere Richtung zu geben.
Psyche am Revers
Womöglich ist es aber auch nicht die Vergabe von “Labels”, sondern mehr die offene, bisweilen auch offensive Kommunikation Betroffener. Muss man das so raushängen lassen? Oooh, seht mich aaaan, ich bin sooo besonders!
Und die Antwort ist: ja.
Betroffene, die nicht das Glück haben, in einem Umfeld aufzuwachsen, das das Thema Neurodivergenz auf dem Schirm hat und somit frühzeitig unterstützen kann, irren wie erwähnt oft jahrelang im Dunklen herum. In meinem völlig unwissenden familiären, ärztlichen und teilweise schulischen Umfeld brauchte ich einen irren Zufall, um das Ende eines roten Fadens in die Hand zu bekommen. Andere recherchieren jahrelang, um sich Antworten zu erarbeiten.
Den Namen oder die Diagnose danach offen zu kommunizieren, ist kein Kokettieren, sondern eher ein Ausdruck dafür, dass man sich selbst - womöglich zum ersten Mal in seinem Leben - begreifen kann. Auch erhöht man durch diese Offenheit die Chance, a) andere Betroffene zu finden, b) dass Betroffene, die noch nicht wissen, was mit ihnen los ist, schneller Antworten finden. Es ist eine Chance, sich aus Isolation, Selbstverleugnung und dem jahrelangen kräftezehrenden Versuch, sich irgendwie an unpassende Strukturen anzupassen, zu befreien.
Doch eine Bezeichnung zu finden oder eine Diagnose zu bekommen, ist nur der erste Schritt. Das Leben als neurountypische Person in einer neurotypischen Gesellschaft bleibt (zunächst) wahnsinnig schwierig. Die Autistin und Autorin Louise Chandler (@neurodivergent_lou (Opens in a new window)) hat kürzlich in einem Instagram-Post (Opens in a new window) den engen Zusammenhang von Autismus und Suizidalität aufgezeigt. Untersuchungen deuten darauf hin, dass autistische Menschen ein höheres Risiko für suizidale Gedanken und selbstschädigendes Verhalten haben. Als Gründe werden unter anderem mangelnde Unterstützung des Umfeldes, kontinuierlich Unterdrückung des eigenen “Selbst”, sowie Ausgrenzung und Mobbing durch andere angeführt.
Äpfel oder Birnen?
Der Elefant im Raum, um den ich bis hierher herumgeschrieben habe, ist natürlich die Gefahr, sich bei der ganzen Recherche falsch zu diagnostizieren. Wenn man den oben erwähnten Augenblick der Erkenntnis als so tröstlich und befreiend empfindet, dann trennt man sich nur ungern von der Erkenntnis. Dann kommt es vor, dass Menschen zwar ärztliches und oder psychologisches Fachpersonal aufsuchen, aber ihre “fixe” Diagnose bereits im Gepäck (Opens in a new window) haben und sie nur bestätigt haben wollen.
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