Eine Person
Vor ein paar Tagen habe ich zum ersten Mal auf einer Bühne vorgelesen. Unter Pseudonym, klar, aber doch so gar nicht anonym. In meinem Wohnort. Und das am Muttertag. Quasi ein Heimspiel, schließlich hat doch das Muttersein mit all seinen meinen Abgründen mein Schreiben wiederbelebt. Und wenn mir nichts einfallen würde, hätte ich mehr als genug Texte in der Schublade - also los!
Die Anmeldung war etwas über einen Monat her, die Worte waren schon einen Tag später aus mir herausgeblubbert, im Grunde erwartungsgemäß, und ebenso erwartungsgemäß dachte ich gleich darauf: Nee, das kann ich nicht bringen. Nicht in diesem Rahmen, nicht Live, nicht so.
Es ist nämlich eine Sache, brutal ehrliche Texte in Word-Dokumente zu bluten, vielleicht sogar in das Fenster eines Instagram- oder Blogbeitrags, und sie in diesem Internet zu teilen - und eine ganz andere, dabei direkt angesehen zu werden. In meinem Kopf gab es dieses Bild, wie ich da stehe, hell erleuchtet, und meine Schichten abschäle, mich verbal ausziehe. Wie sie mich beobachten, wie sie die unvorteilhaftesten Blickwinkel einnehmen, während alles in mir offenliegt. Und mein Herz wollte schon beim Gedanken daran wegrennen, in Deckung gehen, unsichtbar werden.
Also zog ich einen Text aus meiner Sammlung, zwei Jahre alt, der schon ein paarmal gelesen wurde - von mir, von anderen. Einer von der Sorte Geht immer, eine sichere Nummer, ein No-Brainer, nicht flach, aber einfacher. Ich wusste, wie er sich anfühlte: wie etwas, das man schnell mal überwirft, um zum Bäcker zu gehen. Unaufgeregt. Bequem. Bedeckt liest es sich leichter. Und ich denke immer noch, das wäre okay gewesen. Ich hätte es mir leicht machen dürfen und dennoch ein ganz wunderbares erstes Mal erlebt.
Ich hatte nur die Rechnung ohne die Menschen gemacht, mit denen ich auftreten durfte. Kunstmenschen. Textmenschen. Offenherzmenschen. Die sagten: “Lass doch einfach mal hören”, und dann: “Doch. Lies das unbedingt.” Die mich nicht nur neben sich auf die Bühne ließen, sondern mittendrin, als Teil eines gefühlsbunten Ganzen. Sogar das Mikrofon wurde mir richtig eingestellt; ich weiß auch nicht, warum ich mich daran so aufhänge, doch es war der maximale Stressfaktor, der nun plötzlich wegfiel. Stattdessen Dankbarkeit. Ich durfte einfach da sein, ich sein. Also las ich, worauf ich wirklich Lust hatte, und dann …
Dann merkte ich, dass es stimmte: Es war wirklich sehr viel furchteinflößender, live zu lesen, Herzblutworte direkt ins Publikum zu schlagen, Reaktionen wahrzunehmen. Es war auch wirklich sehr viel großartiger, live zu lesen, Herzblutworte direkt ins Publikum zu schlagen, Reaktionen wahrzunehmen. Gesichter, die gebannt nach oben blicken. Ein Schmunzeln hier, ein Lachen dort. Das dezente Wischen mehr als eines Augenwinkels. Und verdammt, ja, es war aufregend, auf jeden Fall zu warm, zu hell, und wenn ich mir die Fotos so anschaue: Doch, der Winkel war unvorteilhaft.
Es war auf jeden Fall sehr, sehr echt.
Es ist jetzt zwei Tage später, aber ich weiß immer noch, wie es sich anfühlte. Weil das kein Rausch war, kein Blitzmoment, wie man mir es prophezeit hatte. Ich las diese zwei Texte, und ich tat es bewusst. Ich war nicht halb hier, halb dort, wie ich es sonst so oft bin. Oder wie ich auf der Bühne sagte: “Ich bin Karla. Das ist nicht mein richtiger Name, aber eigentlich tut das nichts zur Sache.” Die Wahrheit. Denn obwohl ich das schon längst nicht mehr so strikt trenne, war ich doch noch nie so sehr eine Person. Nicht so.
Und ich würde es immer wieder tun. Ich würde immer wieder die unbequeme Variante wählen, weil ich noch nie eine gute Schauspielerin war. Weil es ohnehin unmöglich ist, fünfzig Leuten zu gefallen. Ich kann ihnen nur die Chance geben - und dabei Spaß haben.