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Gesunde Ernährung – und was Cem Özdemir damit zu tun hat

Hier geht es um unser Ernährungssystem. Um das, was wir essen und warum. ess.sozial ist ein Newsletter. Für alle, die über den Tellerrand schauen und Ernährung in ihrem gesellschaftlichen Kontext sehen wollen. Hier bekommst du jeden Monat frische Perspektiven – direkt in dein Mailpostfach.

Ich konzipiere, recherchiere und schreibe ess.sozial als freies Projekt – aus Leidenschaft für das Thema und mit dem Anliegen, dass alle eine faire Chance auf eine gesunde Ernährung bekommen.

Das hier ist die erste Ausgabe – oder besser gesagt, der erste Teil davon. Es geht darum, was Cem Özdemir mit deiner Ernährung zu tun hat. Es geht um unsere Ernährungsumgebung und darum, wie sie gestaltet ist. Darüber habe ich mit Dr. med. Peter von Philipsborn gesprochen. Er leitet das Public Health Nutrition Team am Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung der LMU München.

Und zum Auftakt des Newsletters gibt es diesen Monat noch einen zweiten Text. Da ist die Frage, ob es ein klares Bild davon gibt, wie eine gesunde Ernährung aussieht.

Ernährung soll „gesundheitsfördernd, nachhaltig, sozial gerecht und dabei (wirtschaftlich) resilient sein“ – so steht es in der Ernährungsstrategie der Bundesregierung. Ziemlich hohe Anforderungen, die zu erreichen nicht allein in der Verantwortung jedes Einzelnen liegt. Die Politik will die Wahl für eine gesunde Ernährung einfach machen.

Vor dem Supermarktregal. Zwischen zig Sorten Naturjogurt wählen, nachts um halb 11, die Tüte Chips kommt auch noch mit weil gerade im Angebot, aber lieber keine Pfirsiche – 1 Euro das Stück. Welche Lebensmittel wir konsumieren hängt von unserer Ernährungsumgebung ab.

Und die legt uns in Deutschland die Entscheidung für eine gesunde Ernährung nicht gerade nahe – sondern eher die Chips-Packung in den Einkaufswagen: Ungesunde Lebensmittel sind in Deutschland zeitlich und räumlich leichter erhältlich, erschwinglicher und stärker beworben. Das zeigt eine Studie der WHO aus dem Jahr 2022.

Gesund zu essen, ist natürlich dennoch möglich, „wenn man sozial gut gestellt ist, die finanziellen Ressourcen hat, aber auch die Zeit und das Wissen“, sagt Dr. Peter von Philipsborn, „aber selbst dann wird es einem nicht leicht gemacht.“ Und die deutsche Politik tat bisher wenig, um die Bedingungen zu verbessern – so das Ergebnis des Forschungsprojekts „Food Environment Policy Index 2021“, dessen Leitung Philipsborn innehatte.

Die Forscher schaffen 13 Kategorien, anhand derer sie Maßnahmen der Politik für die Förderung einer gesunden Ernährungsumgebung in Deutschland beurteilen. Gut schneidet Deutschland in keiner ab, in zweien wird eine mittlere Bewertung erzielt: in „Datengenerierung- und nutzung“ sowie „Ernährungsempfehlungen“.  In drei Bereichen werden die bisherigen Maßnahmen als unzureichend bewertet: beim Lebensmittelangebot, der Regulierung von Werbung und der Preisgestaltung. Das sind die Bereiche, die unseren Alltag ausmachen: was es im Supermarkt zu kaufen gibt, welche Produkte wir aus der Werbung kennen, was wir an der Kasse für den Einkauf zahlen.

Um dem zu begegnen, erarbeiten die Autoren fünf Handlungsempfehlungen für die deutsche Politik – einfach umzusetzen, das ist ihnen besonders wichtig:

  • Gesundes und kostenloses Essen in Kitas und an Schulen: Der Anteil an Gemüse sei noch immer zu niedrig, dagegen werde zu viel Fleisch angeboten.

  • Eine Verbesserung der Verpflegung in öffentlichen Einrichtungen (wie Behörden, Hochschulen, Kliniken und Senioreneinrichtungen), orientiert an den Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung.

  • Lebensmittelwerbung einschränken, die sich an Kinder richtet.

  • Eine gesundheitsförderliche Mehrwertsteuerreform: Der vergünstigte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent gilt bereits für Obst und Gemüse, wie für Nüsse und Samen. 7 statt 19 Prozent gibt es aber auch auf Zucker, Schokolade oder Gänseschmalz.

  • Eine nach Zuckergehalt gestaffelte Steuer für Softdrinks einführen, wie es sie unter anderem in Großbritannien gibt.

Und die Politik will handeln – das hält die Bundesregierung unter anderem in der Anfang des Jahres erschienenen Ernährungsstrategie fest. „Da werden wirklich sinnvolle, ehrgeizige und gute Ziele ausgegeben“, meint Philipsborn. Ein großer Fortschritt sei, dass die Politik die Probleme sehe und sich gewillt zeige, sie zu lösen. Weniger erfreulich: „Wenn man sich ansieht, was tatsächlich an Maßnahmen umgesetzt wird, reichen diese nicht aus, um die Ziele zu erreichen“.

Wenn Wissenschaft und Politik sich über Ziele und Maßnahmen weitestgehend einig sind, wieso wird dann nicht mehr für eine gute Ernährungsumgebung getan?

Das komme auf die Maßnahme an, sagt Philipsborn. Bei der Kita- und Schulverpflegung liege es vor allem am Geld – für gesundes und kostenfreies Essen in Kitas und Schulen müsse man in einem ersten Schritt zwei Milliarden Euro in Schulküchen und Speisesäle investieren. Das hat der wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft errechnet. Eine beitragsfreie, qualitativ hochwertige Kita- und Schulverpflegung in ganz Deutschland würde gut 5 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Was zunächst nach sehr viel Geld klingt, sei ins Verhältnis zu den Folgekosten einer ungesunden Ernährung zu setzen: Allein bei Adipositas und Übergewicht werde geschätzt, dass die Folgekosten in Deutschland bei etwa 60 Milliarden Euro pro Jahr liegen.

Außerdem würden in der Gemeinschaftsverpflegung oftmals falsche Prioritäten gesetzt: So werde große Aufmerksamkeit darauf gelegt, den Anteil an Bio-Lebensmitteln zu erhöhen – die nicht grundsätzlich gesünder seien, als konventionell hergestellte Lebensmittel. „Viel wichtiger als die Frage ‚Bio oder nicht Bio?‘ ist der Anteil an frischen, pflanzlichen Lebensmitteln versus dem Anteil an tierischen Lebensmitteln“, so Philipsborn.

Zur Regulierung der Lebensmittelwerbung für mehr Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung sei ein Gesetzesentwurf in Umlauf, dessen Umsetzung „einen Quantensprung“ für die deutsche Ernährungspolitik bedeuten würde. Dass es bislang noch zu keinem Quantensprung gekommen ist, liege an dem Widerstand aus Lebensmittel- und Werbeindustrie: „Es wird viel Lobbyarbeit betrieben, um das Gesetz zu stoppen.“

So behauptet der Verband für Lebensmittelindustrie in einer im März 2023 veröffentlichten Stellungnahme, dass es sich bei dem Gesetzesentwurf um „ein nahezu vollständiges Werbe- und Sponsoringverbot“ handele. Dabei geht es eigentlich nur um Werbung für Lebensmittel, die erzährungsphysiologisch unausgewogen sind – das heißt einen negativen Einfluss auf die biochemischen Körperfunktionen haben. Gut die Hälfte aller Lebensmittel auf dem deutschen Markt dürfe weiter uneingeschränkt beworben werden, wie eine Studie von Philipsborn und seinem Team zeigt. Dass der übermäßige Verzehr hochverarbeiteter Lebensmittel mit zu viel Zucker, Fett oder Salz zur Entstehung von Übergewicht und ernährungsbedingten Krankheiten beitrage, bezeichnet der Verband als „irreführend[e]“ Behauptung. Dabei sei die wissenschaftliche Erkenntnislage in dieser Hinsicht eindeutig, so Philipsborn. Weiter spiele eine Rolle, dass die Bundesregierung nicht geschlossen hinter dem Gesetzesentwurf stehe – vor allem in der FDP, aber auch in der SPD fehle es am politischen Rückhalt.

Eine Reform der Mehrwertsteuer wird weder im Koalitionsvertrag, noch in der Ernährungsstrategie erwähnt. Und das, obwohl neben der Wissenschaft auch der Bundesrechnungshof schon lange eine Reform fordert.

Auch Pläne für eine nach Zuckergehalt gestaffelte Steuer auf Softdrinks gibt es bisher nicht. Großbritannien hat 2018 die „Soft Drinks Industry Levy“ eingeführt – mit Erfolg, die Hersteller haben den Zuckergehalt in Softdrinks seitdem deutlich reduziert. In Deutschland gilt stattdessen eine freiwillige Selbstverpflichtung der Hersteller. Sie ist Teil der „Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten“. Die NRI sieht vor, dass der Zuckergehalt in Softdrinks bis 2025 um 15 Prozent reduziert werden soll. Der im April veröffentlichte Zwischenbericht zeigt jedoch, dass es zwar bis 2022 zu einer Reduktion des Zuckergehalts um fünf Prozent kam, seitdem aber keine Fortschritte mehr erkennbar sind. Auch in anderen verarbeiteten Lebensmitteln ist der Gehalt an Zucker, Salz und Fett weiter zu hoch.

Gesunde und nachhaltige Ernährung kann durch eine gute Ernährungsumgebung gefördert werden. Das würde auch helfen, den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Faktoren wie Einkommen oder Bildung und einer guten Ernährung abzuschwächen – und damit für fairere Lebenschancen zu sorgen. Ungesunde Ernährung ist damit nicht (nur) ein privates Problem, sondern eins, das politisch angegangen werden muss.

Danke fürs Lesen!

Teil zwei der ersten Ausgabe dieses Newsletters erscheint Mitte Mai. Wenn dir der Newsletter gefällt, freue ich mich, wenn du ihn weiterempfiehlst! Zum Beispiel über Instagram.

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