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Die Grenzüberschreiterinnen

Russische Bevölkerung in Estland

Narva ist die wohl russischste Stadt Estlands. Lange gab es nur wenig Berührungspunkte zwischen der dortigen Bevölkerung und dem Rest des Landes. Aber einige Frauen haben diese Grenzen überschritten.

Von Sarah Tekath, Tallinn

Kürzlich machte eine Meldung Schlagzeilen in Estland: „Vastlakuklid in Narva immer beliebter.“ Vastlakuklid sind Teigkugeln, die mit Sahne und Marmelade gefüllt werden. Traditionell estnisch. Im Rest von Estland wäre dieser Umstand keine Meldung wert – in Narva schon. Denn die Stadt liegt zwar in Estland, ist aber Russland zuneigt. Sie befindet sich ganz im Osten, an der Außengrenze der EU.

Über die sogenannte Freudschaftsbrücke sind es nur wenige Meter ins russische Iwangorod. Der freundliche Begriff verzerrt, wie es wirklich aussieht: Kameraüberwachung, Metallzäune, Passkontrollen und Patrouillen. Darunter fließt der Fluss Narva, der genauso heißt wie die Stadt. Russland ist in der estnischen Geschichte sehr präsent.

Ansiedlung durch die Sowjetunion

Mehr als 200 Jahre stand das Land unter russischer Herrschaft: zunächst durch das Zarenreich, anschließend unter sowjetischer Okkupation im Zweiten Weltkrieg – zeitweilig unterbrochen durch die Besatzung von Nazi-Deutschland. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs siedelte die sowjetische Regierung Russ*innen in Narva an, die estnische Bevölkerung wurde gezwungen, in andere Gebiete umzuziehen oder wurde in sibirische Arbeitslager verschleppt. Viele kamen nicht zurück. Erst 1991 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlangte Estland seine Unabhängigkeit.

Vor dem Zweiten Weltkrieg war 65 Prozent der Bevölkerung estnisch, aktuell liegt die Zahl bei nur sechs Prozent. Die Mehrheit der knapp 54.000 heute in Narva lebenden Menschen ist russischstämmig. Sie können kein Estnisch – für nur zwei Prozent der Bevölkerung ist Estnisch die Muttersprache – und haben keinen estnischen Pass.

Allerdings haben sie oftmals auch – und das mag überraschen – keinen russischen. Stattdessen besitzen viele einen sogenannten grauen Pass. Das bedeutet, ihre Staatsangehörigkeit ist nicht bestätigt. Nach Russland können sie visafrei reisen. Die Verbindung zum Nachbarland ist stark: Viele der Bewohner*innen informieren sich auch wegen der Sprachbarriere via Internet und VPN über das russische Staatsfernsehen.

Brücken bauen unter der Brücke

Dieser Ort hat Amie Nga Man Chan inspiriert. Sie ist Keramikkünstlerin aus Hongkong und war im Jahr 2020 in der Narva Art Residency, die seit 2015 internationale Kunstschaffende einlädt. Nga Man Chan hat die Proteste in Hongkong und das brutale Vorgehen der chinesischen Regierung gegen Studierende miterlebt, die unter anderem für Meinungs- und Medienfreiheit demonstrierten. In Narva, so sagt sie, habe sie eine ähnliche Atmosphäre vorgefunden – und da sei ihr eine Idee gekommen.

Sie will töpfern, in einem Boot auf dem Grenzfluss, um mit Kunst eine symbolische Brücke zu schlagen. Aber sie stößt auf Hürden. „Ich hatte Schwierigkeiten, jemanden fürs Fotografieren zu finden“, sagt die Künstlerin. Estnische und russische Fotograf*innen fanden es aus politischen Gründen zu gefährlich.

Außerdem braucht sie die Erlaubnis für ein Boot, die Genehmigung, auf dem Grenzfluss zu fahren und die Zustimmung, dass sie im Grenzgebiet eine Drohne benutzen darf. Allerdings muss sie sich dafür nur mit estnischen Behörden auseinandersetzen, denn solange sie sich auf dem Wasser befindet, ist sie noch in Estland und der EU. Kritisch wäre es, wenn ihr Boot am anderen Ufer anlegen würde.

Bis Nga Man Chan endlich loslegen kann, vergeht ein ganzes Jahr. Der Film zu ihrem Projekt – schließlich findet sie doch noch ein estnisch-ungarisches Team für die Kameraarbeit – wird national und international gezeigt. Est*innen und Russ*innen seien sehr berührt gewesen von der Inszenierung. „Viele haben mir gesagt, dass sie mich sehr mutig finden, denn viele wollen über das Thema gar nicht sprechen“, erklärt sie.

„Wären Sie gerne auf der anderen Seite?“

Während Nga Man Chan unter der Brücke in einem Boot an der Grenze gekratzt hat, überwindet Filmstudentin Anita Kremm diese einige Monate später zu Fuß, indem sie über die Freudschaftsbrücke läuft. Die Estin mit russischen Eltern ist Anfang März 2022 für ein internationales Uni-Projekt in Narva. Eine Woche vorher, zynischerweise genau am estnischen Unabhängigkeitstag, hat Russland die Ukraine überfallen.

Kremm hat Fragen. Sie will wissen, was die Menschen in Iwangorod über den Krieg denken. Da die Studentin beide Pässe besitzt und beide Sprachen spricht, ist der Grenzübertritt für sie kein Problem. Aus Iwangorod gibt es nur anonyme Tonaufnahmen. „Ich dachte mir, dass die Menschen nicht gefilmt werden wollen. Dort kennt jeder jeden und die Menschen haben Angst, in den Medien ihre Meinung zu sagen. Sie fürchten sich vor möglichen Konsequenzen“, erzählt sie. Sie fragt etwa 15 Passant*innen: ‚Wären Sie gerne auf der anderen Seite?‘ Wie sie das meint, lässt sie offen. Einige antworten politisch, andere allgemein.

„Ich erinnere mich an eine Frau, die in Tränen ausgebrochen ist“, sagt die Studentin. „Sie wäre sehr gerne auf der anderen Seite, aber sie wisse, dass dort niemand auf sie warte.“ Heute sieht Kremm das Ergebnis ihrer Aufnahmen mit gemischten Gefühlen. „Für einige Leute habe ich kein Verständnis. So hat mir eine Frau, nachdem ich das Aufnahmegerät abgeschaltet hatte, gesagt, dass Russland einer guten Sache folgt und Nazis bekämpft. Aber für andere wiederum habe ich Mitgefühl. Das sind normale Menschen, die ihr Leben leben wollen und in einer Blase feststecken.“

Die Zusammenschnitte der Tonaufnahmen in Iwangorod veröffentlicht Kremm erst an ihrer Universität, später auch international. In Russland allerdings nicht. Dorthin traut sie sich nicht mehr – zu groß ist die Angst vor einer Verhaftung.

Projekt Narva 100

Eine, die in der russischsprachigen Community von Narva lebt, ist Olesia Luik. Die 43-Jährige ist gebürtige Estin, Kind einer russisch-estnischen Familie. Aufgewachsen in Usbekistan hat sie danach in St. Petersburg und Moskau studiert und in Paris und Mailand als Model gearbeitet. Sie trägt einen estnischen und russischen Pass. Estnisch spricht sie nicht, obwohl sie schon mehrfach versucht hat, es zu lernen. Gescheitert sei es an der Komplexität der Sprache, sagt Luik. Sie wohnt seit mehreren Jahren in Narva; der Job ihres Mannes brachte sie hierher.

Über Bekannte erfährt sie von einer neuen Aktion in der Stadt und nimmt im Herbst 2022 als Darstellerin an dem Theater-Projekt „Narva 100“ teil. Die Idee stammt vom Rimini-Protokoll (Opens in a new window), einer experimentellen Theatergruppe aus Deutschland. Die Crew fährt weltweit in verschiedene Städte. Dort werden 100 Menschen aus einem Pool von Bewerber*innen ausgesucht, die die Stadt repräsentieren sollen. Bei den Aufführungen werden Fragen gestellt und die Teilnehmenden halten Schilder mit ihren Antworten hoch. Auf diesem Wege soll die Stimmung in der jeweiligen Stadt abgebildet werden und Menschen sollen mit Meinungen außerhalb ihrer eigenen Blase konfrontiert werden.

In Narva war das nicht ganz einfach. Luik erinnert sich, dass Teilnehmende drohen, die Proben zu verlassen, sollte es politische Fragen geben. Das Team entscheidet daraufhin, sie wegzulassen. Es geht dabei um das mögliche Entfernen sowjetischer Kriegsmonumente aus Narva und Sanktionen gegen Russland, so Luik. Denn: Die Aufführungen finden nach Kriegsbeginn statt. Das Projekt läuft weiter und erhält sogar die städtische Auszeichnung „Aktion des Jahres“.

Luik vermutet, dass die Menschen kritische Fragen zu Russland und seiner Politik als persönlichen Angriff verstanden haben. „Die meisten sehen sich als Russinnen und Russen, sie lieben Russland und sind stolz auf ihre Wurzeln. Sie sind vielleicht nicht für den Krieg, aber verteidigen Russlands Entscheidung, da sie glauben, dass die Regierung gute Gründe hat.“

Die Kluft in Narva erklärt sie so: „Die Menschen verstehen einander nicht. Die Sprache und die Temperamente sind anders. Es gibt kaum Berührungspunkte.“ In Städten wie Tallinn oder Tartu sei die russische Bevölkerung besser integriert und aufgeschlossener. Aus ihrer Sicht sei Narva eine Insel. „Die Menschen reisen einmal in drei oder fünf Jahren nach Tallinn, ansonsten bleiben sie in ihrer kleinen Welt. Um Estland zu verstehen, müssen sie es sehen und erleben, aber das können sich die meisten finanziell nicht leisten.“

Jeden Tag ein kleiner Schritt

Im Bezirk Ida-Viru mit Narva als größter Stadt bildete das Durchschnittseinkommen 2020 nach Angaben von Statistics Estonia (Opens in a new window) mit 1.088 Euro im Monat das Schlusslicht des Landes, während es in ganz Estland in jenem Jahr bei 1.380 Euro lag. Gelegentlich gibt es vonseiten der Russ*innen Beschwerden über eine Diskriminierung durch den estnischen Staat. Luik erklärt: „Niemandem wird verboten, die russische Kultur zu leben. Aber natürlich unterstützt Estland estnische Traditionen.“

Aktuell versucht die Regierung, Estnisch-Lehrer*innen nach Narva zu bringen, wo die meisten Schulen russischsprachig sind. Die Gehälter sind mit bis zu 3.000 Euro im Monat vergleichsweise hoch. Allerdings ist das Interesse bislang mäßig. Dabei drängt die Zeit: Im Dezember hat die estnische Regierung einen Beschluss verabschiedet, wonach ab 2024 / 2025 Estnisch die Unterrichtssprache in allen Schulen und Kindergärten im Land sein wird.

Zudem entstehen immer mehr Kulturzentren und gerade die jungen Menschen treffen sich bei Konzerten, in Start-ups, an der Universität und in Clubs. Seit Dezember 2020 ist Katri Raik, eine Estin, Bürgermeisterin von Narva und will sich für die Verständigung und Annäherung beider Gruppen einsetzen. Im Gespräch mit dem französischen Fernsehsender Arte (Opens in a new window) erklärt sie: „Integration geht in zwei Richtungen. Wir Esten müssten unsere Russen mehr kennenlernen und mehr verstehen. In so einer kleinen Gesellschaft wie in Estland müssen wir jeden Tag für Integration arbeiten. Jeden Tag ein kleiner Schritt – nur dann können wir es schaffen.“

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