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Liebe Leserin, lieber Leser,

was ist eine christliche Familie und wer gehört ihr an? Diese Frage beantworten wir allzu häufig mit großer Gewissheit. Einer Gewissheit, die wiederum meistens unseren privaten Bedürfnissen und nicht einer auf Schrift oder Tradition abstellenden Darlegung beruht. Das heutige Evangelium ermöglicht uns eine Antwort, die ihren Ausgang von Jesu Worten nimmt.

II)

Am Beginn des Markusevangeliums, kurz nach der Wahl der zwölf Jünger findet sich Jesus in einem nicht weiter spezifizierten Haus ein und erregt das Aufsehen einer großen Menschenmenge. Allerdings alarmiert diese Begeisterung auch die Verwandtschaft des Heilands - Joseph ist wahrscheinlich bereits verstorben - und die lokale Priesterschaft:

„Als seine Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um ihn mit Gewalt zurückzuholen; denn sie sagten: Er ist von Sinnen. Die Schriftgelehrten, die von Jerusalem herabgekommen waren, sagten: Er ist von Beelzebul besessen; mit Hilfe des Herrschers der Dämonen treibt er die Dämonen aus.“ (Mk 3,22-23)

Während die Familie Jesus aufgrund seiner durch das Predigeramt gewachsenen Distanz zum traditionellen Familienverbund für verrückt erklärt, glauben die Priester gar an seine Komplizenschaft mit dämonischen Mächten. Jesu verteidigt sich gegen diese Vorwürfe mit einer gleichnishaften Rede, die in eindringlichen Worten die Frage nach der Wahrheit des Geistes stellt:

„Wie kann der Satan den Satan austreiben? Wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann es keinen Bestand haben. Wenn eine Familie in sich gespalten ist, kann sie keinen Bestand haben. Und wenn sich der Satan gegen sich selbst erhebt und gespalten ist, kann er keinen Bestand haben, sondern es ist um ihn geschehen. Es kann aber auch keiner in das Haus des Starken eindringen und ihm den Hausrat rauben, wenn er nicht zuerst den Starken fesselt; erst dann kann er sein Haus plündern. Amen, ich sage euch: Alle Vergehen und Lästerungen werden den Menschen vergeben werden, so viel sie auch lästern mögen; wer aber den Heiligen Geist lästert, der findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern seine Sünde wird ewig an ihm haften. Sie hatten nämlich gesagt: Er hat einen unreinen Geist.“ (Mk 3,23-30)

Nur eine korrekte Unterscheidung der Geister, die das gute Pneuma vom schlechten Pneuma zu trennen versteht und sich nicht in Widersprüche verstrickt, kann Auskunft über das Wesen des von Jesus betriebenen Kampfes geben. Allerdings kann diese gelehrte Erörterung weder die Familie des Messias noch die Priesterschaft beruhigen. Jesus soll ergriffen werden:

„Da kamen seine Mutter und seine Brüder; sie blieben draußen stehen und ließen ihn herausrufen. Es saßen viele Leute um ihn herum und man sagte zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen dich.“ (Mk 3,31-32)

Angesichts dieser bedrohlichen Situation muss sich Jesus zum wiederholten Mal erklären. Aber anstatt seine Verwandten zu beschwichtigen, greift er zu einem ungewöhnlichen Mittel:

„Er erwiderte: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ (Mk 3,33-35)

(Raffael, Die Heilige Familie mit dem Lamm, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:TheHolyFamilyWithTheLamb.jpg)

Jesus affirmiert damit die bereits angedeutete Distanz zu seiner Familie und lehnt die bedingungslose Identifikation mit dieser ab. Überdies wagt er sich auf diese Weise an eine Neudefinition des Familienbegriffs, der jenseits der Blutsbande auf die gemeinsame Teilhabe am Geist rekurriert. Teil der christlichen Familie ist, wer am guten Pneuma Anteil hat, wer im guten Geist gute Werke tut. Es lässt sich gar vermuten, dass Jesus an dieser Stelle gewissermaßen die vierte Wand der Schrift durchbricht und sich direkt an die Leserin, den Leser wendet: Auch du bist durch die gewissenhafte und ins Handeln übergehende Lektüre dieses Textes Teil der christlichen Familie, hast ein - wie es im ebenfalls für heute vorgesehenen zweiten Brief des Apostels Paulus an die Korinther heißt - „Wohnung von Gott, ein nicht von Menschenhand errichtetes ewiges Haus im Himmel“ (2 Kor 5,1). Die Schrift wird so ethopoetisch wirksam, das Lesen soll eine andere Haltung, ein anderes Leben bewirken.

Ähnlich äußert sich Jesus an einer Stelle, die zu meinen Lieblingspassagen zählt und häufig nur verkürzt wiedergegeben wird:

„Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein.“ (Mt 10,34-36)

Weder möchte uns Jesus hier zur Gewalt gegen unsere Mitmenschen anstiften noch unsere Familie in Gänze als Hort des Unheils denunzieren. Vielmehr geht es ihm darum, ein adäquates Verständnis christlicher Familie zu entwickeln. Sie findet ihre Erfüllung nicht in der durch Blut und möglicherweise Zwang gestifteten Gemeinschaft, sondern in der die Einzelnen zueinander führenden Vereinigung durch den Geist.

III)

Wie ein christliches Leben mit Menschen, die ebenfalls christliche Werte teilen,  aussehen könnte, scheint offensichtlich. Kann dieses auf Geist beruhende Konzept der Gemeinschaft auf Nicht-Christen, auf nicht-menschliche Akteure wie Tiere oder sogar Pflanzen ausgedehnt werden? Die prononciert katholisch argumentierende Biologin, Philosophin und Feministin Donna J. Haraway hat diese Frage in ihrem Companion Species Manifesto (2003), das sich in der Hauptsache um ein Leben mit Hunden dreht, aufgeworfen.

Sie kann damit nicht als eine Gemeinschaft im traditionellen Sinne, als Gemeinschaft mit unmittelbar geteilten Vergangenheiten oder Erinnerungen, gedacht werden. Vielmehr müssen die verschiedensten Glieder, sogar die Leserin, der Leser der Schrift, in ihrer Differenz aufeinander bezogen werden, um eine gemeinsame Zukunft möglich zu machen. Diese Verweisungsstruktur bezeichnet Haraway als „significant otherness.“ So könnten wir auf Jesu Frage „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ antworten: Es ist der jeweils Andere, der mit uns in Gemeinschaft tritt.

Zuletzt gilt mein besonderer Dank wieder denjenigen Mitgliedern, die diesen Newsletter nun seit knapp einem Monat finanziell mit Scherflein, Gabe oder Geschenk unterstützen, sowie allen interessierten Leserinnen und Lesern oder Kommentatorinnen und Kommentatoren auf Twitter.

Herzlichst

Louis Berger

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