Skip to main content

Liebe Leserin, lieber Leser,

die Apokalypse des Johannes inszeniert das Weltende als großes Spektakel, als von großem Pomp begleitetes Gericht. Dieser Lesart folgend ist das kommende Gottesreich eine strahlende Gewalttat, die ohne unser Zutun vollstreckt wird. Wo bleibt hier der ,kleine Mensch,‘ die kleine Tat? Das heutige Evangelium eröffnet die Möglichkeit, diese Frage differenzierter und mit besonderem Augenmerk auf Einzelnen zu beantworten.

II)

Im Kontext einer Rede, die verschiedene Gleichnisse zum Reich Gottes versammelt, führt Jesus ein auch aus den anderen synoptischen Evangelien in unterschiedlichen Varianten bekanntes Gleichnis an:

„Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinem Acker sät, dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, und dann das volle Korn in der Ähre. Sobald aber die Frucht reif ist, legt er die Sichel an; denn die Zeit der Ernte ist da.“ (Mk 4,26-29)

Wie so häufig ruft der Heiland in seinen Worten ein landwirtschaftliches, geradezu bukolisches Szenario auf. Das vom Sämann ausgebrachte Saatgut muss lange Zeit reifen, Wandel ertragen, Licht und Schatten überstehen, um reiche Frucht hervorbringen zu können. Gleichwohl ist damit keine prognostizierbare Sicherheit gegeben. Der Same muss ohne das Zutun des Bauern reifen und ist damit in gewisser Weise sich selbst überlassen. Nur die Sorge um sich, das Herausarbeiten aus der Erde, realisiert das ihm auferlegte Ziel. Jesus verschränkt in dieser Passage in unnachahmlich konzentrierter Weise verschiedene Postulate christlicher Anthropologie, die häufig nur verkürzt wiedergegeben werden: Weder predigt das Christentum absolute Freiheit noch absolute Determination. Vielmehr muss christliche Freiheit als Freiheit im Kontext des Gegebenen, als Erfüllung einer individuellen Bestimmung durch beständige Arbeit am Selbst gedacht werden. Ferner ist sie zwar immer auf den Sämann, den Schöpfer, bezogen, vollzieht sich aber unabhängig von diesem. Sie bleibt daher prekär. Der Bauer greift erst wieder ein, wenn die Erntezeit angebrochen ist. Auf diese Weise erfährt das Gleichnis eine apokalyptische Wendung, die in anderen biblischen Texten weitergeführt wird. So heißt es gewohnt drastisch in der Apokalypse des Johannes:

„Dann sah ich und siehe, eine weiße Wolke. Auf der Wolke thronte einer, der wie ein Menschensohn aussah. Er trug einen goldenen Kranz auf dem Haupt und eine scharfe Sichel in der Hand. Und ein anderer Engel kam aus dem Tempel und rief dem, der auf der Wolke saß, mit lauter Stimme zu: Schick deine Sichel aus und ernte! Denn die Zeit zu ernten ist gekommen: Die Frucht der Erde ist reif geworden. Und der auf der Wolke saß, schleuderte seine Sichel über die Erde und die Erde wurde abgeerntet.“ (Off 14,14-16)

Jacobello Alberegno, Die himmlische Ernte, 1360-1390 (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jacobello_Alberegno_-_The_Harvest_of_the_World_-_WGA00116.jpg)

Die von einer dem Heiland ähnelnden Figur geführte Sichel wird zum Werkzeug, das in der Zeit der Reife den Bruch mit den zuvor geschilderten Zeiten herbeiführt und den Einzelnen in seiner Freiheit diesen Zeiten enthebt. Damit stellt sich eine ungeahnte Kooperation zwischen Schöpfer und Geschöpf ein. Während das Geschöpf durch Selbstbildung zum Schöpfer aufsteigt, kommt er diesem durch die apokalyptische Entscheidung entgegen. Die Ernte wird zur Aufhebung, zur Erfüllung der individuellen Praxis. Worin diese Aufhebung im göttlichen Reich besteht, macht Jesus in einem weiteren anschließenden Gleichnis deutlich:

„Womit sollen wir das Reich Gottes vergleichen, mit welchem Gleichnis sollen wir es beschreiben? Es gleicht einem Senfkorn. Dieses ist das kleinste von den Samenkörnern, die man in die Erde sät. Ist es aber gesät, dann geht es auf und wird größer als alle anderen Gewächse und treibt große Zweige, sodass in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.“ (Mk 4,30-32)

Dem Samen im vorherigen Gleichnis ähnlich ist das Reich Gottes Saatgut, das verstreut werden und aufgehen muss. Der Heiland wählt hier zum Vergleich sogar einen verschwindend kleinen Samen, das Senfkorn; einen Samen, der leicht verloren gehen, sich aber bei entsprechender Pflege zu einem stattlichen und sogar Schutz für andere Lebewesen bietenden Kraut auswachsen kann. Jesus weist uns mit diesen Worten auf eine Lebenszeit und Heilszeit vermittelnde Perspektive auf das Weltende hin. Trotz aller Erntemetaphorik, trotz aller durch die Sichel symbolisierten Gewalt lässt sich dieses auch als Hinüberwachsen in ein Anderes deuten, das sich in der beständigen Praxis ankündigt. Die Apokalypse ist so gleichsam Bruch und Nicht-Bruch, Ende und Fortsetzung.

III)

Simone Weil warnt uns in einem vermutlich 1941 verfassten Gedicht mit dem programmatischen Titel La Porte hingegen vor einer aktivistischen Überschätzung dieser apokalyptischen Hoffnung:

Während die versammelten Einzelnen verwirrt und ausgezehrt warten, nach Einlass und Erfüllung ihrer paradiesischen Wünsche gieren, bleibt die Pforte verschlossen. Zwar erscheint die gewaltsame Öffnung der Pforte oder gar ihre völlige Demontage als Option, aber die Pforte widersteht. Die Zeit wird so zur zermürbenden „Last,“ die ihre Versprechen nicht zur erwarteten Stunde erfüllt. Könnte es sein, dass Selbstbildung zwar notwendig, aber immer auf Kairos, den ,glücklichen Zeitpunkt,‘ angewiesen ist? Der Einzelne kann sich auf die Pforte zubewegen, aber: „Nützt es uns, zu wollen“ wie Weil schreibt? Erst in Kraft- und Erwartungslosigkeit öffnet sich die Pforte von göttlicher Hand. Dahinter warten allerdings wiederum kein Garten, kein Wasser und keine Blumen. Vielmehr öffnet sich ein die Grenzen der endlichen Welt sprengender Raum, der nicht nur das von Begehren entleerte Herz, sondern auch die von der endlichen Welt verirrten Augen reinigt.

Wenn wir mit Weil auf die hier ausgelegten Gleichnisse blicken, bleibt ein klärendes, aber auch beunruhigendes Fazit: Der ,kleine Mensch‘ ist in seiner Bewegung auf Gott frei, er kann und muss seine ,kleine Tat‘ vollbringen, über die Zeiten sprießen. Gleichzeitig darf er aber immer nur im Verzicht auf konkrete Hoffnung darauf hoffen, von der Gnade zum Zeitpunkt der Ernte empfangen zu werden.

Zuletzt gilt mein besonderer Dank wieder denjenigen Mitgliedern, die diesen Newsletter nun seit knapp einem Monat finanziell mit Scherflein, Gabe oder Geschenk unterstützen, sowie allen interessierten Leserinnen und Lesern oder Kommentatorinnen und Kommentatoren auf Twitter.

Herzlichst

Louis Berger

0 comments

Would you like to be the first to write a comment?
Become a member of curasui and start the conversation.
Become a member