Skip to main content

Liebe Leserin, lieber Leser,

die Rede von Wundern in religiösen Zusammenhängen ist riskant oder gar gefährlich. Ob die kleinen Wunder des Alltags, die Wunder großer Heiliger oder gar die von Jesus selbst bewerkstelligten Wunder - viele stehen ihnen skeptisch gegenüber. Können wir in Bezug auf Wunder wirklich ,unseren Augen trauen‘? Warum gibt es Wunder, wenn Gott eigentlich allmächtig ist? Durchbricht der Herr auf diese Weise nicht die Vernunft, die Naturgesetze, die er selbst der Welt auferlegt hat? Das heutige Evangelium beantwortet diese Fragen in einer radikalen Art und Weise.

II)

Als Jesus mit den Jüngern wieder am anderen Ufer des Sees Genezareth angekommen ist, wird seine Aufmerksamkeit vom Synagogenvorsteher Jaïrus erbeten:

„Als er Jesus sah, fiel er ihm zu Füßen und flehte ihn um Hilfe an; er sagte: Meine Tochter liegt im Sterben. Komm und leg ihr die Hände auf, damit sie geheilt wird und am Leben bleibt! Da ging Jesus mit ihm. Viele Menschen folgten ihm und drängten sich um ihn.“ (Mk 5,22-24)

Gleichwohl berichtet uns der Evangelist zunächst nicht von den Begebenheiten im Haus des Synagogenvorstehers, sondern lässt andere Figuren, eine von Krankheit geplagte Frau, zu Wort kommen:

„Darunter war eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutfluss litt. Sie war von vielen Ärzten behandelt worden und hatte dabei sehr zu leiden; ihr ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben, aber es hatte ihr nichts genutzt, sondern ihr Zustand war immer schlimmer geworden. Sie hatte von Jesus gehört. Nun drängte sie sich in der Menge von hinten heran und berührte sein Gewand. Denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt. Und sofort versiegte die Quelle des Blutes und sie spürte in ihrem Leib, dass sie von ihrem Leiden geheilt war.“ (Mk 5,25-29)

Auf den ersten Blick stellt sich hier das für ,aufgeklärte‘ Ohren befremdliche Kontaktwunder ein. Die Berührung mit dem von Heiligkeit durchdrungenen Gegenstand bewirkt geradezu magisch die Heilung von einer Krankheit, die wohl als chronische Monatsblutung interpretiert werden kann. Allerdings endet unsere Szene nicht an dieser Stelle, vielmehr verkompliziert die Reaktion des Heilands das augenscheinlich so klare Wunder:

„Im selben Augenblick fühlte Jesus, dass eine Kraft von ihm ausströmte, und er wandte sich in dem Gedränge um und fragte: Wer hat mein Gewand berührt? Seine Jünger sagten zu ihm: Du siehst doch, wie sich die Leute um dich drängen, und da fragst du: Wer hat mich berührt? Er blickte umher, um zu sehen, wer es getan hatte. Da kam die Frau, zitternd vor Furcht, weil sie wusste, was mit ihr geschehen war; sie fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. Er aber sagte zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein.“ (Mk 5,30-34)

Die hier geschilderte Heilkraft ist keine magische Kraft, die im Sinne eines Fetischs unerklärlicherweise von Jesus ausströmt und durch Berührung übertragen werden kann. Vielmehr drückt sich in der Berührung ein unhintergehbares Glaubensverhältnis aus. Nur im Glauben an die Wirksamkeit der Berührung, nur im Vertrauen auf ihre Kraft kann sie heilende Wirkung entfalten. Christus macht so auf einen häufig missverstandenen Zug christlicher Heilung durch heilige Personen oder Gegenstände aufmerksam: Diese besteht nicht primär in der magischen Qualität der jeweiligen Entitäten, sondern in der Begegnung von Heiligkeit und Glaube im Moment der Berührung. Das Wunder ist kein Wunder. Es ist der Moment, in dem Transzendenz und Immanenz zueinander finden.

„Während Jesus noch redete, kamen Leute, die zum Haus des Synagogenvorstehers gehörten, und sagten: Deine Tochter ist gestorben. Warum bemühst du den Meister noch länger? Jesus, der diese Worte gehört hatte, sagte zu dem Synagogenvorsteher: Fürchte dich nicht! Glaube nur! Und er ließ keinen mitkommen außer Petrus, Jakobus und Johannes, den Bruder des Jakobus. Sie gingen zum Haus des Synagogenvorstehers. Als Jesus den Tumult sah und wie sie heftig weinten und klagten, trat er ein und sagte zu ihnen: Warum schreit und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur. Da lachten sie ihn aus. Er aber warf alle hinaus und nahm den Vater des Kindes und die Mutter und die, die mit ihm waren, und ging in den Raum, in dem das Kind lag.Er fasste das Kind an der Hand und sagte zu ihm: Talita kum!, das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf! Sofort stand das Mädchen auf und ging umher. Es war zwölf Jahre alt. Die Leute waren ganz fassungslos vor Entsetzen. Doch er schärfte ihnen ein, niemand dürfe etwas davon erfahren; dann sagte er, man solle dem Mädchen etwas zu essen geben.“ (Mk 5,35-43)

Ilja Jefimowitsch Repin, Die Wiedererweckung der Tochter des Jaïrus, 1871 (Quelle: Wikipedia)

Auch hier ist das Wunder kein Einbruch der Magie ins Leben. Nur in der einer Mahnung Jesu folgenden Besinnung des Jaïrus auf den Glauben kann sich die lebenspendende Heilstat ereignen. Ferner heilt hier ebenfalls nur die Berührung zwischen heiliger und profaner Hand. Zwar werden durch das Wunder an dieser Stelle Naturgesetze außer Kraft, aber dennoch kein voluntaristischer Eingriff Gottes ins Werk gesetzt. Vielmehr antwortet Gott als Jesus auf die Forderungen der Immanenz. Eine Antwort, die nur auf eine durch die jeweiligen Menschen - ob kranke Frau oder verzweifelter Vater - gestellte Frage gegeben werden kann.

III) 

Der selig und wohl bald heilig gesprochene Charles de Foucauld (1858-1916), der selbst in der Einsamkeit der Wüste nach dem Wunder suchte, ruft uns in seinen Aufzeichnungen die Notwendigkeit einer solchen ,Frage‘ ins Gedächtnis:

Wie die Hand ausstrecken, die eine Berührung mit dem Heiligen, die Überwindung des Gegensatzes von Transzendenz und Immanenz ermöglicht?

Der hier eingeführte Begriff der „Selbstheiligung“ führt die zuvor sorgsam gesponnenen Fäden zusammen: Das Wunder ist nicht so sehr Resultat einer göttlichen Intervention, sondern einer Sorge um sich, eines Strebens nach Umkehr, eines das Profane ins Heilige übersteigenden Glaubens. In der Berührung zwischen Werk und Gnade ereignet es sich – immer wieder, wenn es nur gewollt wird.

Zuletzt gilt mein besonderer Dank wieder denjenigen Mitgliedern, die diesen Newsletter nun seit knapp einem Monat finanziell mit Scherflein, Gabe oder Geschenk unterstützen, sowie allen interessierten Leserinnen und Lesern oder Kommentatorinnen und Kommentatoren auf Twitter.

Herzlichst

Louis Berger

0 comments

Would you like to be the first to write a comment?
Become a member of curasui and start the conversation.
Become a member