APRIKOSENCOCKTAILS UND TIKTOK
FÜR EINE JEAN-PAUL SARTRE FOLGENDE PHÄNOMENOLOGIE DES MEDIALEN
Die Story im Zitat aus dem "Café der Existentialisten" von Sarah Blackwell erlangte Berühmtheit. Die Autorin dieses lesenswerten Buches baute das Getränk auch in dessen Titel ein. Die Szene, in der dieser Aprikosencocktail auf dem Caféhaustisch - wer trinkt eigentlich gerne Aprikosencocktails? - lockt begab sich aber zu der Zeit, da die Nationalsozialisten in Deutschland die Machtergreifung anvisierten Sie fand statt im Café Bec, Rue Montparnasse, Paris.
Dort saßen Raymond Aron, Philosoph und später, viel später Gallionsfigur der "Liberalo-Konservativen", Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre zusammen und plauschten. "Phänomenologie", jene "Schule", die Edmund Husserl begründete und Martin Heidegger weiterentwickelte, eigneten sie sich gerade an. Husserls Parole "Zu den Sachen selbst" verschob das Erkenntnisinteresse von einer Reflektion auf die Erkenntnisvermögen im Gefolge Kants auf das Bewusstsein, das immer ein Bewusstsein von etwas ist. Es ist immer schon auf die Welt bezogen, in der es sich situiert. Heidegger fügte dem noch das "In-der-Welt-Sein" hinzu, dass also nicht hier das Subjekt, da das Objekt ist, sondern beides im Praktischen miteinander verwoben im Sein west, nicht nur im in intelligible, transzendentale Welten verlagerten Denken.
DAS SEIN UND DAS NICHTS
Für Jean-Paul Sartre bildeten diese Ansätze die Initialzündung eigenen Philosophierens. Durch produktive Missverständnisse, die sich auch der mit teils falschen Begriffen operierenden französischen Übersetzung Heideggers verdankten - dieser ist im Original schon für der deutschen Sprache Mächtigen oft schwer verständlich - wendete er jedoch dieses Denken auf die Subjekt/Objekt-Dialektik Hegels zurück. Das Subjekt, er übernahm hierfür Hegels Begriff des "Für-Sich-Seins", befindet sich in Situation und bleibt auf sie bezogen. Medium dieses Bezogenseins ist Präreflexive - es nimmt wahr, woraufhin es sich handelnd entwirft. Z.B. den Aprikosencocktail. Es sieht ihn, empfindet Lust, warum auch immer, ihn zu trinken, ergreift ihn, dem Getränk körperlich zugewandt, führt ihn zum Mund und nippt. Es konstituiert nicht erst im Durchgang durch allerlei a priori das Denken bestimmende Kategorien diesen Gegenstand. Der ist da und kann gegriffen und getrunken werden. Für in Philosophie nicht allzu Informierte mag das recht selbstverständlich sein. In der Tradition war es dies keineswegs. Philosophie in Konkurrenz zu den Einzel- und Naturwissenschaften wandte sich dem Alltag zu, der ganz konkret als Vollzug des individuellen Lebens gedacht wurde.
Zum "Präreflexiven", diesem sinnlich bestimmten Alltagsvollzug, tritt bei Sartre als sekundär das "setzende Bewusstsein" hinzu, die Reflektion. Ich kann zu mir und dem Verhältnis zum Aprikosencocktail eine Haltung einnehmen, die es explizit thematisiert als Verhältnis und dadurch versucht, den Prozess zu objektivieren. Wie es Naturwissenschaften machen, die darüber rätseln, ob nun der Impuls, nach dem Glas zu greifen, ein willentlicher sei oder er nicht vor einer bewussten Entscheidung liegt und das anhand neurologischer Muster nachzuweisen versuchen. Mittels der medialen Repräsentation des Hirns in Messtechniken verneinen sie so die Willensfreiheit.
Sartre weist dieses zurück, lange bevor die Experimente durchgeführt wurden. Handeln ist immer Wählen, von Minute zu Minute neu. Aus der Perspektive der 1.Person, so hätte man es später formuliert, zählen diese Messmethoden nicht. Für Teilnehmende ist Handeln immer, so Sartre, ein Nichten des Bisherigen - der Bezug auf die Gesprächspartner weicht dem Bezug auf den Aprikosencocktail. Die Anderen am Tisch können dann z.B. behaupten, dass es typisch sei, schon Mittags Aprikosencocktail zu trinken - wenn man Alkoholiker sei. Der Bezug wandelt sich wiederum - zu dem Bild, das Andere sich von mir machen. Auf einmal ist da deren Blick, der mich objektiviert und auf den ich keinerlei Zugriff habe, der mich unterwirft unter ihre Sicht auf mich. Sie nötigen mich so, mich zu dieser Sicht zu verhalten. Ich kann dann den Gegenangriff starten - "Du bist halt ein kontrollierender Mensch, der die Freiheit hasst und musst deshalb alles mit pathologisierenden Zuschreibungen wie "Alkoholiker" belegen. Ist das nicht selbst ein wenig pathologisch?"
OBEKTIVIERUNG IN SOZIALEN MEDIEN
Viel Kommunikation in sozialen Medien folgt solchen Prinzipien - bei Twitter z.B.. "Du als Linker bist immer so und so in Deinem Elfenbeinturm", "Merz zeigt in jedem Tweet, was für ein arroganter Typ er ist" usw.. Diese Spiele wechselseitiger Objektivierung prägen Kommunikationen und werden auf Kollektive bezogen. Sie dringen ein in den Vollzug des Präreflexiven, des wahrnehmenden Handelns. Ich scrolle durch die Timeline, es bombardieren mich solche Zuschreibungen zu allerlei gesellschaftlichen Gruppen und wie sie seien. Sie fließen in meinen Bewusstseinsstrom.
Sartre lebte zunächst noch in einer Zeit, in der es Kino, Radio, Zeitungen, Bücher, politische Veranstaltungen gab - aber noch nicht einmal Fernsehen, geschweige denn Facebook, TikTok, Telegram oder Instagram. Er wandte selbst brillant in einem Essay über Antisemitismus diese Muster auf soziale Konstellationen und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit an. Wenn es den Juden nicht gäbe, würde der Antisemit ihn erfinden - weil er ihn für seine Selbstbilder braucht. Ein ziemlich aktueller Gedanke.
Ohne sich mutmaßlich je auf Sartre bezogen zu haben, formuliert Simon Strick in einem Interview der taz Folgendes:
Diese Schwarmtätigkeit situiert sich meines Erachtens in der Relation von Präreflexivem, "setzendem Bewusstsein" und wechselseitiger Objektivierung. Es hängen nicht alle den ganzen Tag in ihren Whatsapp-Gruppen fest oder scrollen durch ihre Facebook-Timelines. In den meisten Leben spielen diese sozialen Medien in einem Mix aus Alltagskommunikation und allerlei Informations- und Desinformationskanälen jedoch eine Rolle. Wenn alles Bewusstsein Bewusstsein von etwas ist, so ist es aktuell Bewusstsein von Memen, von Schnipseln, vorgedeutet und oft gezielt zur Diskreditierung anderer eingesetzt.
Die beinahe hypnotische Wirkung, die diese Tätigkeiten entfalten, stopfen das Präreflexive voll mit allerlei Bildern, Thesen, mit Hetze, Wut, hübschen Katzen und Nachrichten von Freund*innen. Ich habe das in diesem kurzen Video (Opens in a new window) versucht zu pointieren.
Interessanterweise ist dasselbe Video aus meinem TikTok-Account verschwunden. Schwupps, weg. TikTok lebt von diesem Sog, diesem endlosen Scrollen durch das, was userspezifisch der Algorithmus präsentiert. Auch von der Produktion von Paranoia. Wie alle sozialen Medien dieser Art. Wobei Instagram eher dazu tendiert, das Verstörende auszugrenzen und eine nette, normale Welt zu präsentieren.
Statt auf Aprikosencocktails entwirft sich das Bewusstsein hin auf das, was in diesen Medien zirkuliert. Auch auf die Tagesschau oder FAZ oder BILD bei manchen. Es triggert Emotionen. Die werden auch nicht einfach manipuliert. Es entscheidet jeder für sich, was er in das "setzende" Bewusstsein hineinlässt und so auch explizit thematisiert, je nach Selbstbild.
SELBST- UND FREMDBILDER
Dieses Selbstbild leitet über zu einem weiteren zentralen Theorem bei Sartre: "Mauvais Fois". Der falsche Glaube, die Selbsttäuschung, der Selbstbetrug. In seiner Philosophie ist nix fix. In der Zeit bewegt sich das Für-Sich-Seiende und nichtet fortwährend das, was es war - eben noch auf den Aprikosencocktail bezogen und schon mit dem Geliebten im Bett. Es versucht aus Angst vor der Freiheit jedoch ständig, Selbstbilder von sich zu fixieren, sich als starr, invariant, nicht als praktisch im Flow zu begreifen - und diese anderen zu suggerieren. Auch das geschieht kollektiv: die "besten Deutschen aller Zeiten, die ihre Vergangenheit so bravourös aufgearbeitet haben wie sonst niemand und deshalb allen Muslimen sowieso überlegen sind", zugespitzt, ist eine solche kollektive Selbsttäuschung. Sie überschreibt all die kleinen und großen Gemeinheiten im Alltag und stülpt sich als fixe Identitätskonstruktion über den Flow des Lebens zwischen Twitter und Büro, Kinder von der Schule abholen und Abendessen zubereiten. Sartres politische Schriften sind voll von Spott auf die politische Rechte, die sich solchen Selbsttäuschungen noch da hingibt, wo sie als Freiheit ausgibt, Andere zu entrechten und so kollektiv geteilte Negativbilder zu exekutieren.
All das hat bis heute Konsequenzen für ein Verständnis von Philosophie. Implizit folgt z.B. Michel Foucault, ein bis heute viel rezipierter und wirkungsmächtiger Denker, die "Phänomenologie des Blicks", die sich bei Sartre findet. Blickt der Andere mich an, objektiviert er mich - aber ich weiß nicht, wie er mich sieht. Das nennt Sartre "Für-Andere-Sein": ich bin das, habe aber keinen Zugriff auf das, was der Andere in mir sieht. Ich versuche wahlweise, ihm dann die Bilder suggerieren zu wollen, die ich von mir gerne hätte, oder objektiviere ihn, gucke zurück. Auch das ist in sozialen Medien alltäglich aufspürbar.
Foucault anonymisiert diesen Blick, der mich dazu bringt, mich zu ihm zu verhalten, im "Panoptismus". Eigentlich ein Entwurf für Gefängnisse: die Insassen sitzen in einer Zelle und wissen, dass sie von einem zentralen Turm aus beobachtet werden könnten. Sie wissen nicht, ob akut der Posten besetzt ist, ob wirklich jemand blickt, geschweige denn welcher individuelle Wärter - orientieren aber ihr Verhalten an der Möglichkeit, dass sie erblickt werden könnten und daraufhin Sanktionen erfahren. Auf Sprachverständnis erweitert wirkt dieses ebenfalls in sozialen Medien. Alle dort Aktiven setzen sich der Beobachtung und somit auch Sanktionierbarkeit aus. So wurden schon Menschen wegen falscher Likes gefeuert. Dergestalt reguliert die "anonyme Macht" Verhalten. Manchen ist es auch egal, ob ihre Likes gecheckt werden. Vor allem die, die es sich ökonomisch leisten können. Andere passen lieber auf.
Diese Ansätze Foucaults rezipiert auch die politische Rechte intensiv. Der ganze "Man darf ja gar nichts mehr sagen", die Behauptung der permanenten Bedrohung durch erst "Political Correctness", dann "Cancel Culture", dann "woke" bewegt sich in einem solchen Paradigma.
Foucault selbst hatte kein Kriterium dafür, wann die Sanktion gut - AfD-Verbot -, wann schlecht ist. Sartre letztlich auch nicht, wobei beide sich auf die Seite derer schlugen, die tatsächlich Sanktionen erfuhren. Auf Sartres Wohnungen verübten Rechtsextreme zwei Bombenanschläge, weil er sich auf die Seite derer stellte, die für die Entkolonisierung Algeriens kämpften. Er verfasste auch das Vorwort zu Frantz Fanons "Die Verdammten dieser Erde" (Opens in a new window) ; eines, das von vielen bis heute als Skandal empfunden wird. Foucault engagierte sich für Gefangeneninitiativen, um deren Stimmen Gewicht zu verleihen. Wer heute die jeweiligen medialen Objektivierungstechniken verfolgt und beobachtet, wer wirklich Sanktionen erfährt und tatsächlich gecancelt wird, kann sich ja daran orientieren. Ganz ohne moralische Kriterien geht das allerdings nicht.
PHILSOPHIEREN ALS PRAXIS AUS DER 1. PERSON SINGULAR
Für mich haben Sartres Ansätze bis heute Gewicht für philosophische Praxen. Man kann diese im Alltag situieren oder aber in der akademischen Textproduktion, wo Veröffentlichungen als harte Währung für Status und auch Gehälter gelten. Je mehr, desto besser, je renommierter das Medium, in dem veröffentlicht wird, desto gewichtiger. Bei vielen Lektüren beschleicht zumindest mich das Gefühl, dass die Texte weniger aus Erkenntnisinteresse verfasst wurden als deshalb, dass sie dann in Veröffentlichungslisten angeführt werden können. Die Texte sind alle sehr ähnlich aufgebaut, probieren und riskieren wenig - zumindest die, die ich kenne. Sie sind für Symposien geschrieben, nicht wie jene Sartres zunächst einmal, weil eigenes Erkenntnisinteresse ihn antrieb.
Wenn ich in den letzten Jahren die Programme von Philosophie-Kongressen gelesen habe, beschlich mich dieses Gefühl ebenfalls. Endlose Auslegungen von Kant und Hegel, viel kleinteilige und mittlerweile ermüdende analytische Philosophie angloamerikanischer Prägung - eine selbstreferentielle und sich selbst historisierende Philosophie. Beim gerade erst beendeten Kongress in Münster scheint dieses etwas anders gewesen zu sein (Opens in a new window).
Im Zentrum stand das Digitale in all seinen Facetten. Künstliche Intelligenz, Podcasts, Digitales im Recht, "Lack of physicality as a harm of algorithmic outsourcing". Klar, Klassiker wurden auch ausgelegt. Aber nicht nur. In den Medienwissenschaften mühen sich viele schon länger um Meme, Bildgestaltung mittels AI und ähnliche Themen. Das ist ja auch gut so.
Die Haltung zum Gegenstand bestimmt jedoch der Status des objektivierenden Philosophen oder auch Medienwissenschaftlers im universitären Kontext. Das zog sich bis in den Bereich "Theorie und Geschichte" an der HfbK, wo ich "meinen Doktor machte". Die künstlerischen und theoretischen Bereiche zeigten sich in der Lehre seltsam separiert noch da, wo die “Künstler-Professor*innen” Veranstaltungen gemeinsam mit den Theoretiker*innen durchführten. Die Promotionsstudiengänge folgen dem Ansatz, das aufzuheben. Meines Erachtens gelang das - auch mir - nur teilweise.
Was fehlt ist das, was eben Sartre wie kein Anderer uns aufzeigte als Möglichkeit - das Philosophieren aus Teilnehmendenperspektive, jener der 1. Person Singular, im Verbund mit anderen Medien. Sartre verfasste Romane, Theaterstücke, Drehbücher, Chansontexte. Seine Studien zu Genet oder Flaubert bildeten Mischformen aus Literatur und Philosophie. Er wirkte an Radiosendungen und der Zeitschrift "Les Temps Modernes" mit, die solche Grenzgänge kultivierte. Er steht damit auch ziemlich solitär in der Philosophiegeschichte, wobei literarische Formen sich schon in den platonischen Dialogen finden und auch nie verschwanden, ob bei Kierkegaard oder Nietzsche.
Gilles Deleuze analysierte und proklamierte ein Denken des Kinos. Die Filme selbst denken - in Bildern und Dialogen. Es gibt allerlei Ansätze in der Kunst, die dieses auch versuchen - um sodann von Kunstwissenschaften objektiviert zu werden. Der Künstler Barnett Newman formulierte boshaft: "Die Ästhetik ist für die Künstler, was die Ornithologie für die Vögel ist".
Mir scheint es zu wenig Versuche des Crossovers zu geben. Vielleicht kenne ich sie nur nicht. Eine Sartre folgende Phänomenologie des Medialen und Digitalen müsste auch in und mit dem Medialen praktisch philosophieren. Objektivierungen verstehen die Teilnehmendenperspektive nicht. Sie können immer nur die Perspektive der 1. Person aus jener der 3. Person reformulieren und fixieren damit im Sinne des "Für-Andere-Seins" nach Sartre.
Klar, ich versuche so was mit den Bezügen zwischen den Texten hier und den Videos und Musiken bei Youtube, TikTok und Instagram. Ob gut, weiß ich auch nicht, aber versuchen muss man es ja. Bastele gerade an einem Podcast zu Sartres Einfluss auf mein Leben. "Autofiction"-Ansätze wie jene Didier Eribons und Edouard Louis' wagen ebenso durch expliziten Theoriebezug diesen Crossover und füllen damit immerhin große Theater.
Einen brillanten Versuch unternahm der oben bereits erwähnte Simon Strick in einem an Prinzipien von Dub und Remix-Techniken orientierten Text, der teilnehmend Enis Macis "Eiscafé Europa" aktualisiert (Opens in a new window). Man kann das auch als in Sprache überführte DJ-Culture-Variante einer Phänomenologie der Medien lesen.
Ich denke, so etwas müssten einfach mehr Menschen probieren, es ins Visuelle und Musikalische übersetzen und damit soziale Medien fluten. Ich versuch's ja auch. Mediales statt Aprikosencocktail. Und beschreiben, wie es ist, das zu trinken.
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