Der Bettges Newsletter Nr. 9 - was in meinem Denken und in meinen Produktionen nach einer Lesung René Aguigahs geschah …
Am Sonntag hörte ich eine Lesung René Aguigahs aus Texten James Baldwins wie auch seiner Studie “James Baldwin - Der Zeuge”. Das warf das automatisierte Denken in meinem Kopf an, führte mich zu Habermas und Sartre und zeigte noch Wirkung in meiner Musikvideoproduktion … wie, das kann in diesem Text nachvollzogen werden.
«(E)in Künstler und in der Tat jeder Mensch weiß, tiefer als das bewusste Wissen oder die Sprache gehen können, dass es hinter jeder Realität eine andere gibt, die sie kontrolliert», behauptet Baldwin. «Hinter meinem Schreibtisch, der ein greifbares Ding ist, steht eine Leidenschaft, die den Tisch geschaffen hat. (...) Die Dinge, die Menschen wirklich tun und wirklich meinen und wirklich fühlen, sind für sie fast unmöglich zu beschreiben, aber das sind genau die Dinge, die an ihnen am wichtigsten sind: Diese Dinge beherrschen sie, und das ist die Realität. Das, was man in einem Roman zu tun versucht, ist, diese Realität zu zeigen.» Kurz: Auch «das Innenleben ist ein wirkliches Leben, und die ungreifbaren Träume der Menschen haben eine greifbare Wirkung auf die Welt.»
René Aguigah, James Baldwin - Der Zeuge, S. 50
Eine Passage aus René Aguigahs "James Baldwin - Der Zeuge" (Opens in a new window), einer immer wieder neu hochinspirierenden Studie; eine Montage aus Originalzitaten Baldwins.
Ich durfte am Sonntag im MARRK einer inspirierenden Lesung René Aguigahs lauschen, sowohl aus "Der Zeuge" als auch aus einem Aufsatz Baldwins. In diesem schildert Baldwin, wie es war, in einem Schweizer Dorf in den 50er Jahren als einziger und erster Schwarzer im Ort, zugleich im Besitz der einzigen Schreibmaschine, dort seinen Roman fertig zu stellen und kleinen wie großen Gesten der Dehumanisierung ausgesetzt zu sein.
Gabriel Schimmeroth (Opens in a new window), Leitung Veranstaltungskoordination und Projektkurator, moderierte ein begleitendes Gespräch im Hörsaal des ehemaligen "Völkerkundemuseums". Ein beeindruckender, holzgetäfelter Raum in einem wilhelminischen Gebäude, dem man heute noch anspürt, wie hier einst Menschen anderer Kontinente kategorisiert wurden aus "White Supremacy"-Perspektive. Ich besuchte hier in den frühen 90ern eine Vorlesung zu "Kognitive Ethnologie im Feld - Probleme und Methoden der Datenerhebung". Der Ansatz folgte der Annahme, dass sprachliche Repräsentationen von Welt einen Zugang zu Kulturen ermöglichen. Um das zu üben, untersuchten wir im begleitenden Seminar das Fachvokabular von Subkulturen - z.B. Berufsgruppen - anhand formatierter Analyseraster. Wir wählten uns die "Subkultur der Schauspielschüler". Weil sich Raphael Schneider, der später eine tragende Rolle in "Gute Zeiten schlechte Zeiten" spielen sollte, für mein WG-Zimmer, ich stand kurz vor einem Umzug, vorstellte. Ich fand ihn recht attraktiv und wollte ihn gerne näher kennenlernen. Nach den Interviews und deren Auswertung mit den Schauspielschüler*innen formulierten wir die steile These, dass wir eine "Meta-Kultur" untersucht hätten. Ist doch das, was Schauspieler tun, eine Reflektion von dem, was in anderen Menschen und deren Lebenswelten vor sich geht. Ein Zugang, den anders auch ein Romancier wie James Baldwin wählt, begibt er sich in die Positionen und Emotionen seiner fiktiven Figuren hinein.
WAS HEIßT “IN MIR”? SPRACHPHILOSOPHISCHE SICHTWEISEN
Nun handelt es sich beim "Innenleben" von Menschen - wie im Baldwin-Zitat oben - und dessen Verhältnis zu Sprache um ein philosophisch ziemlich kompliziertes Sujet. Von den 60er bis zu den 90er Jahren füllten Reflektionen hierzu die Bücher verschiedener Autoren, die hoch kontrovers diskutiert wurden. Die meisten davon bauten entweder auf Ludwig Wittgenstein oder aber dem Sprachwissenschaftler de Saussure auf, einem der Gründerväter des Strukturalismus.
Zu ersteren gehörte in Deutschland Ernst Tugendhat. In "Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung" fragt er in den imaginierten Hörsaal hinein - das Buch ist als Abfolge von Vorlesungen aufgebaut - angesichts der Möglichkeit von Introspektion, "Innenschau": "Schauen Sie doch einfach mal in sich hinein. Sehen Sie da etwas? Ich nicht." Sinngemäß. Statt uns am Sehen zu orientieren, hätten wir uns dem zuzuwenden, was wir über uns und über Welt sinnvoll sagen oder sagen könnten, wenn wir ein wenig aufräumen würden in unseren Formen des Sprechens. Der Ansatz situierte sich nicht weit entfernt von der Methodik der "Kognitiven Ethnologie". Andere Autoren wie Michel Foucault verfassten in manchen Werkphasen Bücher, in denen "das Innen" nur Effekt diskursiver Formationen und Machttechnologie sei. Roland Barthes schrub im Falle von Ansätzen wie jenen Baldwins vom "Realitätseffekt" in der Literatur. Durch ein schlüssig wirkendes Arrangement von Details im Text würde eine Kohärenz erzeugt, die Realität erst konstituiere, eine, die es als solche gar nicht gäbe. Sehr grob wiedergegeben. Diese Kohärenz, das arbeitet René Aguigah heraus, bestimmt das Schreiben von Baldwin gerade nicht, wenn er das Innenleben seiner Figuren beschreibt. Es ist gerade die innere Widersprüchlichkeit, die Spontanität, die Zerrissenheit, die seine Figuren antreibe und die sich Schematisierungen entzieht. Dazu später mehr.
Wie man das sprachphilosophisch fassen kann, dieses fragmentierte Innenleben in sozialer Situation, also Interaktionen, dazu finden sich bei Ernst Tugendhat wie auch bei Jürgen Habermas Ansätze, die mir über Literatur hinausgehend politisch aktuell von Relevanz erscheinen und, so glaube ich, auch James Baldwin gerecht werden. Tugendhat arbeitet in "Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung" die Sprache des Expressiven, etwas zum Ausdruck bringen, mit Hilfe Wittgensteins und dessen Privatsprachenargument heraus.
Schreit ein Mensch, weil er sich z.B. ein Bein gebrochen hat und es schmerzt, bewegt er sich noch auf einer quasi-animalischen Ebene des Ausdrucks. Sobald Menschen jedoch sprechen, "Das tut weh", "Da, in meinem Schienenbein, schmerzt es fürchterlich", bewegen sie sich in einem ihnen vorgängigen Gefüge der Sprache und artikulieren, was sich an Gefühlen, Körperempfindungen, Affekten, emotionalen Haltungen zu anderen - "Du Schwein!" - "in ihnen" bewegt, in präfigurierten Begriffen. Sie bringen dabei etwas zum Ausdruck, zu dem sie exklusiv Zugang haben. Andere können sehen, dass ich Schmerzen habe, wenn ich mit verzerrtem Gesicht mein Schienbein halte. Ob ich ihn wirklich fühle, das sehen sie nicht. Wie weit reichend das in sozialen Welten relevant ist, das kann man bei jedem Fußballspiel beobachten. Windet sich der Spieler da jetzt nur, weil er dem Schiedsrichter etwas vorspielen will, oder fühlt er den wirklich? Ob er ihn fühlt, das kann nur der Spieler wissen, weil er es ist, der in fühlt.
In Habermas' "Theorie der Geltungsansprüche" taucht dieses "Sprachspiel" als "Anspruch auf expressive Wahrhaftigkeit" wieder auf. Ich meine wirklich das, was ich zum Ausdruck bringe. Dieser zunächst schlicht erscheinende Ansatz ist zentral in seiner Gesellschaftstheorie in den frühen 80er Jahren. Seine Kritik an der Systemtheorie Luhmanns setzt hier an. Diese könne Gesellschaft nur aus der Beobachterperspektive, der 3. Person, beschreiben. Sie kann aber aus dieser Sicht nicht begreifen, wie es ist, Rassismus ausgesetzt zu sein. Was Menschen dabei empfinden.
TEILNEHMENDEN- UND BEOBACHTERPERSPEKTIVEN
Im Werk Baldwins ist das zentral. Auch die Diskussion nach der Lesung von René Aguigah entwickelte sich in diese Richtung. Habermas formuliert in der "Theorie des Kommunikativen Handelns" daraus sehr weit reichende Thesen: Aussagen verändern ihre Bedeutung, je nachdem, ob nun aus der Perspektive der 1. oder der 3. Person formuliert oder eine andere Person mit "Du" adressiert wird. Gesellschaft kann man nur dann verstehen, das, was lebensweltlich vor sich geht, versetzt man sich in die Teilnehmendenperspektive, nicht, wenn man von außen drauf schaut. Man kann nicht einfach "Ich liebe Dich" in "Er liebt ihn" übersetzen, weil das, was "Ich liebe Dich" aus der Perspektive der 1. Person bedeutet, eben an das gekoppelt bleibt, was die Person fühlt und auch nur von dieser Person verifiziert werden kann - z.B. in liebevollen Handlungen.
Das liest sich trivialer, als es ist. Kaum eine gesellschaftliche Diskussion mal ab von denen über "Wutbürger" und die Besorgten im ganz rechten politischen Spektrum wird so geführt, dass nun die Teilnehmendenperspektiven aller Beteiligten als relevant anerkannt werden. Das ist jedoch der Kern der berühmten "Diskursethik", des "herrschaftsfreien Diskurses" im Werk von Habermas. Die in ihr angestrebte "Unparteilichkeit" ergibt sich erst dann, wenn die Interessen - dazu gehört auch die affektive Dimension - aller von gesellschaftlichen Regeln Betroffenen zumindest hypothetisch in der Diskussion eine Rolle spielen und sodann, nach wechselseitiger Perspektivenübernahme, von diesen abstrahiert wird, um sich gemeinsam auf Regeln zu einigen. Nur das ist Habermas zufolge wirklich rational.
Mir fällt keine einzige Debatte ein, in der so diskutiert würde. Meistens folgen sie eher einem Schema, das Jean-Paul Sartre in seiner Theorie des "Für-Andere-Seins" in zwischenmenschlichen Beziehungen analysierte. Einem Prozess wechselseitiger Objektivierung: ich schwinge mich zum Souverän über Dich auf - "Muslime sind alle so und so, Migranten im Allgemeinen sonstwie und "Wokies" eh folgendermaßen, ich definiere das jetzt und formuliere dann aus der Sicht der 1. Person Plural, "WIR DEUTSCHEN" die "Lösung”, abschieben. Diese Sicht tarne ich jedoch als Perspektive der 3. Person; "es ist der Fall, dass folgende Probleme bestehen" usw.. Nachdem ich ausgiebig die NZZ, die WELT und Susanne Schröter gelesen habe, gelte allgemein “dass X”.
Dieses "Für-Andere-Sein", wirkt hinein in das, wie Betroffene sich erleben und mit dieser Sicht umgehen - es wird zum Teil ihres Seins, sich zu dem, was ihnen als So-oder-So-Sein angedichtet wird, zu verhalten oder machtlos gar keine Möglichkeit dazu zu haben.
So entstehen Habermas zufolge soziale Bewegungen, weil das, was als Perspektive der 3. Person behauptet, sich in administrativen und ökonomischen Systemen verdichtet, die Menschen instrumentalisieren und als ihre "Umwelt" kontrollieren. Asylbewerber mutieren aus dieser Sicht zur zu beherrschenden, verdinglichten Masse, die im Sinne der Funktionssysteme über den Globus geschoben oder im Mittelmeer versenkt werden können oder man zumindest nichts dagegen unternimmt, dass sie ertrinken.
Tatsächlich taucht all das im Werk Baldwins auch auf. René Aguigah zeigt den historischen Rahmen für die Rezeption Baldwins in den 60er Jahren wie folgt auf:
"Während im Frühling in Georgia und Mississippi die Kämpfe um die Wählerregistrierung weitergehen, bündelt Martin Luther Kings Organisation, die Southern Christian Leadership Conference (SCLC), ihre Kräfte für Birmingham, Alabama.4 Geschäfte werden boykottiert, Sit-ins und Märsche organisiert. Commissioner Bull Connor lässt sich provozieren und nimmt Demonstranten fest. Der prominenteste von ihnen, King selbst, verfasst hinter Gittern seinen «Brief aus dem Gefängnis von Birmingham» – heute ein klassisches Doku- ment über zivilen Ungehorsam. Im Mai nehmen auch Schüler an den Protestmärschen teil. Nach Hunderten von Festnahmen sind die Gefängnisse voll, und Connor setzt Wasserwerfer und Kampf- hunde ein. Governor Wallace schickt die Staatspolizei, um den Commissioner zu unterstützen. Am 11. Mai werden Bomben gegen schwarze Bürgerrechtler gezündet."
Ebd. S. 18-19
Habermas schreibt in solchen Fällen von sozialen Bewegungen, die sich an der Schnittstelle von System und Lebenswelt herausbilden. Lebenswelt, das ist die Sichtweise und Erfahrungsdimension der Teilnehmenden. Hier arbeitet auch Baldwins Literatur, beeindruckend, die Realität als auch "innere" heraus. Hier situiert sich auch "Identifikation und Empowerment", wie Wolfgang Ullric (Opens in a new window)h es rekonstruiert. Anders als in der Philosophie jedoch, indem die spezifische Erfahrung von Teilnehmenden in die Romane eingeht. Oder in die Musik. Oder die bildende Kunst, mag sie sich auch als noch so autonomen behaupten. Häufig ist die behauptete Autonomie dann einfach nur die Teilnehmendenperspektive des Bildungsbürgertums, während die aus dem Besitzbürgertum sich den Lichtenstein als Wertanlage zulegen oder als Statussymbol an die Wand hängen.
COLORISM
Systemische und lebensweltliche Prozesse durchdringen einander. René Aguigah las am Sonntag Passagen aus "Der Zeuge" vor, in denen er ausführte, wie Baldwin Systemisches in seiner Literatur unterläuft - einfach, indem er virtuos sich den Besonderen widmet. Hier mischen sich expressive und deskriptive Modi der Sprache so, dass sie das falsche Allgemeine, kleine Adorno-Anleihe, mittels Sinnlichkeit auflösen und so auch Perspektiven der 3. Person ihre Absurdität vor Augen führen. René Aguigah feiert Baldwins Virtuosität in einem Abschnitt, überschrieben mit "Baldwins Farbenlehre" und analysiert in diesem das vielfältige Vokabular der Figur Leo Proudhammer im Roman "Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort (Opens in a new window)".
"Leos Blick auf Hautfarben macht einen zentralen Aspekt sichtbar, den Sozial- oder Kulturwissenschaften meinen, wenn sie race als soziale Konstruktion bezeichnen: Die äußeren Merkmale, die Gesellschaften zum Zweck der Menschensortierung benutzen, sind nicht als solche von der Natur gegeben. Sie lassen sich nicht von den Kategorien trennen, mit denen sie wahrgenommen werden, und die sind menschengemacht. (...) Als der Ich-Erzähler seine Mutter einführt, klingt es so: «Die Farbe ihrer Haut erinnerte mich an die Farbe von Bananen. Ihre Haut war genauso leuchtend und enthielt diese Art von Versprechen, und sie hatte winzige Sommerspros- sen um ihre Nase und ein kleines, schwarzes Muttermal genau über ihrer Oberlippe.» Die Zeichnung von Leos Mutter ist nur ein Beispiel für die breite Palette, die James Baldwin für die äußere Beschreibung seiner Figuren einsetzt."
Ebd, S. 138
Diese spezifische Wahrnehmung, die genau hinsieht, auch eine Körperempfindung, Sehen, bildet die wohl stärkste Waffe der Kunst gegen eine systemisch gestützte Totalisierung der 3. Person.
Die dominante Position freilich schreibt sich sogar in Schminckes Farbsortiment ein. Schmincke ist einer der führenden Hersteller von Ölfarben in Tuben. Das Bild unten, das ich irgendwann in den frühen Nullerjahren gemalt habe, sollte ein Witz über die Tube sein, auf der "Hautfarbe" stand:
(Das Bild glänzt so aufgrund des verwendeten Malmittel "Dammarfirnis”; das reflektiert)
Habe damals versucht, exotistische Klischees mitsamt Bauchbinde und Senderkennung in ein Bild zu überführen. In Vordergrund arbeite ich mit diesem nur "weiße" Hautfarbe berücksichtigenden Farbton. Der ja auch offenkundig nicht weiß ist, sondern ein Beige- oder Ockerton, in den Weiß und vielleicht ein paar orangene Pigmente gemischt wurden. Klar, Maler*innen, die das richtig können, mischen ihre "Fleischfarben" selbst an. Rubens erlangte auch deshalb Berühmtheit, weil seine so üppig erstrahlten - in einer Zeit, als es noch keine Tuben gab.
René Aguigah las damit korrespondierend amüsante Passagen darüber, wie Baldwin die Haut von "Weißen" beschrieben hat: unterschwellig grünlich oder grau, mit rosa und rötlichen, manchmal bräunlichen Pigmentierungen durchzogen. Man sieht das nur aus Teilnehmendenperspektive, weil Sehen an diese gekoppelt bleibt - und es ist zu vielgestaltig in der Realität, als dass dabei so etwas wie "die Weißen" heraus käme.
Jeder, der sich mit Zeichnen und Malen nicht nur aus der Perspektive der 3. Person beschäftigt hat, weiß, wie viel genauer, vielfältiger, auch schöner, strahlender, leuchtender die Welt wird, wenn man beginnt, sich mit Negativ-Formen zu beschäftigen oder die Vorlage auf den Kopf stellt und mit Farben arbeitet. Mir scheint das in ästhetischer Theorie oft unterbelichtet, die Praxen der Künste aus der Teilnehmendenperspektive zu betrachten. Gerade da, wo unsinnige Diskurse um "Identitätspolitik" dominieren. Wo auf einmal Schwarze selbst auf die irre Idee gekommen sind, in finsterem Tribalismus - schon das Wort ist rassistisch, liebe Frau Neiman, spielt es doch auf die "Stämme" aus der "Völkerkunde" an - nun auf einmal auf "Black Lives Matter" als Identitätkategorie sich zu fokussieren. Liberale antworten im Chor "All lives Matter", während sich in den politischen Praxen "des Westens" regelmäßig zeigt, dass er wenig Probleme damit hat, viele Nicht-Weiße umzubringen oder sterben zu lassen. Diese Differenz zwischen "schwarz" und "weiß" als sozialer Position, systemisch verfestigt, und dem, was man tatsächlich sieht, betrachtet man die Gesichter der Anderen, arbeitet René Aguigah mit Baldwin in "Der Zeuge" hervorragend heraus. Und auch die Realitätseffekte, die sich als Wirklichkeit in Teilnehmenden als Seins-, Empfindungs- und Denkweisen heraus bilden.
DIE FOLGEN FÜR MEINE MUSIKVIDEOS
Auf merkwürdige Art schlich sich das in meine Video- und Musikproduktion ein, ohne dass ich es zunächst überhaupt merkte. Unruhig, ängstlich und doch getrieben wollte ich nun endlich auch mal singen oder zumindest das artikulieren, was meinen Möglichkeiten auf diesem Feld entspricht. Auch wenn ich mich jedes Mal furchtbar erschrecke, wenn ich meine eigene Stimme in Aufnahmen höre; aus Teilnehmendenperspektive hört sie sich ganz anders an als objektiviert und verdinglicht.
Ich schickte eine Version eines Tracks an Freunde, die kommentierten hilfreich, ich sang erneut ein, mischte das Ganze anders, weniger Echo, und suchte nach Bildern für ein Musikvideo. Bei dem Stock-Footage-Anbieter Pexels wurde ich fündig und blieb an diversen Sequenzen zum Schachspiel hängen. Die gefielen mir zunächst, weil ich auch mit Sounds aus den 80ern gearbeitet habe und in einer Reihe von Videos diese in den Karo-Mustern, typisch frühe 80er, dem Anzug und der Frisur eines Protagonisten visuell zitierbar wurden. Mehrere der Reihen inszenierter Motive spielten damit, dass sie das Schwarz und Weiß der Schachfiguren auf weiße und schwarze Menschen übertrugen und entsprechende Models auf dem oder am Schachbrett agieren lassen. Wohlgemerkt: "schwarz" und "weiß" meint hier die soziale Position, keine "Phänotypenlehre". Auf diese Art entstand beinahe schon ein Kommentar zum "Colorism" im Kontrast zwischen den Schachfiguren als dem Allgemeinen und den Models als dem Besonderen, ohne dass es ich es zunächst merkte:
https://www.youtube.com/watch?v=uCv_7XVSZ3s (Opens in a new window)Das Ganze verstärkte sich jedoch noch durch das "Color Grading", die Bearbeitung der Farben und des Lichts in der Filmproduktion. Beschäftigt man sich einmal damit, kann man gar nicht mehr unschuldig irgendetwas bei Netflix oder in der ZDF-Mediathek gucken. Man sieht nur noch Color Grading; oft schlechtes. Ganz schlimm in der eh schon in Teilen grotesken ZDF-Serie "Gestern waren wir noch Kinder". Die Farben sind da derart aufgedreht, dass manches wie "naive Malerei" wirkt.
Man kann mit Color-Grading Großartiges erreichen und es gibt Vorlagen, LUTs, um mit ihnen ganze Sequenzen im "Blade Runner"-Style einzufärben. Als wir das recht aufwändige Color Grading für meine Roy Lichtenstein-Doku durchführten, veranlasste es mich, dem großartigen Editor einen Vortrag über die "Weißhöhung (Opens in a new window)" in der Ölmalerei zu halten bzw. in den gezeichneten Untermalungen. Weil ich das Jeff Koons-Interviewbild gerne in dem Stil haben wollte. Das zeigte Wirkung, verweist aber auf das Problem, dass die westliche Darstellungstradition seit der Ölmalerei, die mit hell/dunkel, Farbschichten und Lasuren arbeitet, ganz auf "weiße" Haut zugeschnitten ist. Die Relation von Licht und Linse in der Videoproduktion reproduziert dieses Schema, dass "schwarz" - soziale Position - oft nur als "Ableitung" von weiß noch in der Software bearbeitet wird. Das zieht sich bis in das Color Grading eines Videos.
JAZZ UND SAXOFON
Doch damit nicht genug. Die Relation Sartre und Baldwin interessierte mich, so dass ich René Aguigah dazu auch befragte nach der Lesung. Immerhin lebten beide zeitgleich in Paris. Er wusste von wenig expliziten Bezügen. Mir scheint jedoch die - wie oben erwähnt - wechselseitige Objektivierung durch den Blick, Frantz Fanon hat dies in "Schwarze Haut, weiße Masken" explizit auf Rassismus bezogen, die Zuweisung sozialer Positionen gut zu erklären. Im Finale von Sartres "Der Ekel" hebt jedoch - trotz rassistischer Termini in der deutschen Übersetzung - das Anhören eines Jazz-Songs, "Some of these days", den alltäglichen Grusel des Für-Andere-Seins jauf. Eine andere dem Material immanente Organisationsweise lässt ihn wie eine parallele Wirklichkeit, die eigenen Gesetzen folgt, erscheinen. Eine tröstende.
Jazz spielt nun im Werk Baldwins auch eine gewichtige Rolle. Auch diese Musik ist kein unmittelbares Ausdrucksgeschehen. Das harmonische Vokabular und die Rhythmik muss hart erarbeitet werden; eine intensivere Arbeit, als in eine Sprache als Kind hineinsozialisiert zu werden. Charly Parker übte bis zu 11 Stunden täglich Tonleitern.
Dennoch entsteht dabei etwas, was sich dem Blick entzieht, ihn unterläuft. Einen der radikalsten Brüche im Selbstempfinden erlebte ich, als ich im fortgeschrittenen Alter noch einmal begann, das Saxofon zu lernen. Alles veränderte sich. Nun bin ich immer noch kein Virtuose, aber die Praxis mit diesem Instrument transformiert den Weltzugang. Allein schon, weil die Beschäftigung mit Jazz-Improvisation ein Eintauchen in eben jene Lebenswelten ist, die Baldwin beschreibt, aus einer ganz anderen sozialen Position heraus. Das kann man reflektieren oder es bleiben lassen, ich plädiere für ersteres.
So oder so erscheint gerade bei dem Umgang mit Instrumenten im Jazz eine Ebene, die sich für mich zumindest so anfühlt, als läge sie hinter dem Blick. Als würde sie Welt anders erschließen. Als verdingliche sie nicht. Vielleicht hat Baldwin sich auch deshalb so eindrucksvoll auf ihn bezogen.
Ergebnis war dieses Video hier:
https://www.youtube.com/watch?v=5y4Tnc_G37U (Opens in a new window)Die Aufnahme ist schon etwas älter, entstand zu etwas, dass ich im Flow in der Musiksoftware zusammen bastelte. Um dann dazu mit einem Mundstück zu spielen, das mich daran hindern sollte, nun unbedingt den "Subtone", das Tenorsaxofonspiel mit dem hohem Rauschanteil, fast gehaucht, Ben Webster, imitieren zu wollen.
Musik ist, glaube ich, ein Medium, mit dem soziale Positionen unterlaufen werden können. Paradoxerweise auch da, wo sie die fixierte Position gerade zum Ausdruck bringen. Sie schwingen sich zum Souverän über die Verdinglichung auf. Das ist dann gar nicht identitär, sondern will das Für-Andere-Sein, die Fixierung, überwinden. Baldwin selbst formuliert das, bezogen auf seine Position, im folgenden Zitat aus einem seiner Romane. Ihm stehen die letzten Worte dieses heutigen Newsletters zu:
"Es hieß, sich an den Beat zu erinnern: Ein Nxxx, sagte sein Vater, lebt sein ganzes Leben nach einem Beat, lebt und stirbt nach diesem Beat, Scheiße, fickt nach diesem Beat, und das Baby, das er da reinschießt, das hüpft danach, und neun Monate später kommt es raus wie ein verdammtes Tamburin. Der Beat: Hände, Füße, Tamburin, Drums, Piano, Lachen, Fluchen, Rasierklingen (...)."
Baldwin, James. Ein anderes Land: Roman (S.19). dtv. Kindle-Version
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