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Zu René Aguigahs “James Baldwin. Der Zeuge”

(Quelle: C.H. Beck)

Düster, heimtückisch, tiefgründig und persönlich - so sei die Wirklichkeit. Real handelnde Menschen sind nicht definierbar, nicht zu fixieren, bleiben fluide. Unberechenbar, komplex, ambivalent, paradox. In Wirklichkeiten unterlaufen Menschen Stereotype noch da, wo sie mit ihnen spielen, sie ihnen zunächst aufgeprägt werden, sie sich im Gegenzug zu ihnen verhalten müssen. Sie gehen um mit dem, was ihnen als vorgefertigte Welt begegnet, und transzendieren sie so. Im "Privaten" - das sei die Domäne der Literatur, dieses in Geschichten zu überführen. Wie auch in Öffentlichkeiten - hier sei Essayistik und Aktivismus, vom Konkreten abstrahierend das Allgemeine ins Visier nehmend, die Form, in der Wirklichkeiten zugänglich gemacht werden können. Um sie zu verändern. So ein paar der Kerngedanken im zweiten Kapitel von René Aguigahs "James Baldwin. Der Zeuge", seit dem 11. Juli im Buchhandel erhältlich.

DER ANSATZ IN “JAMES BALDWIN. Der Zeuge”.

 René Aguigahs analytische Lektüren des Werkes von James Baldwin entfalten ein ebenso komplexes wie überzeugendes Programm des Verhältnisses von literarischem Schreiben, Essayistik, politischem Aktivismus und Geschichtsschreibung. In der Lektüre der Romane und Essays entsteht zudem ein Kommentar zu der Relation von Fiction und Non-Fiction wie auch der Dialektik von Universalem und Partikularem. Der Durchgang durch das Gesamtwerk schaltet in diesem analytische Großessays auf knapp 200 Seiten sozial situierte Zugänge James Baldwins parallel zu aktuellen Diskussionen in deutschen Feuilletons und darüber hinaus. Löst man die formulierten Gedanken aus ihrem Zusammenhang, entsteht beinahe eine Kartographie rund um Kunst und Politik, die Orientierung an aktuellen Fragestellungen bieten kann.

 Als Zentrum fungiert die Baldwinsche Praxis des Bezeugens. Ein Zeuge, in dessen Werk sich Teilnehmer- und Beobachterperspektive verschränken. Selbst schwarz und schwul gelang es Baldwin, aus marginalisierter Perspektive einen bis heute unübertroffen scharfe Sicht auf die weiße Mehrheitsgesellschaft, somit "White Supremacy" und deren polizeiliche Absicherung auszuarbeiten. Zugleich zeigt sich so der vielfältige, chaotische, aus Unterworfen sein und Ignoriert werden resultierende Kampf schwarzer Menschen in den USA in unterschiedlichen Ansätzen, ihn sprachlich verarbeiten zu können. Im Literarischen das Besondere entfalten, im Essayistischen als "spezifischer Intellektueller" frei nach Michel Foucault das Allgemeine herausarbeiten, so ungefähr ließe sich das Ergebnis skizzieren. Zeugnis ablegen, das schreibend erkunden, was in TV-Zusammenhängen "Zeitzeuge" genannt wird, das sei die Programmatik Baldwins. Immer an die eigene Position in einer weiß dominierten, heteronormativen Gesellschaft gekoppelt, die etwas anderes als Haltung zu ihr einzunehmen gar nicht erst zulässt, keine Neutralität ermöglicht. Diesen Aspekt arbeitet René Aguigah mehrstufig heraus in den Lektüren des Gesamtwerks Baldwins.

 Klar wird durchgängig: Jedes Wissen situiert sich im Lebensweltlichen jenseits der Möglichkeit vollständiger Objektivierbarkeit. Es ist ein Wissen darum, wie man in dieser Welt überlebt, sich in ihr orientiert. Leitend im Umgang mit Welt und Anderen ist die Realität "innerer Prozesse, Gefühle und Gedanken" (S. 50).  Wie diese Wechselwirkung aus objektiven Gegebenheiten und komplexen psychischen Prozessen so etwas wie Wirklichkeit erst entstehen lassen, das kann im Werk Baldwins nachvollzogen werden. So kann Lesenden dabei geholfen werden, das alles überhaupt zu ertragen (S. 50).


"Folgerichtig, dass James Baldwin den Blues - oder Jazz allgemein - als Kunst par excellence betrachtet, denn er verwandelt das Leid der Schwarzen in einen lebbaren, ja, glücklichen Umgang mit dem Leben."[1] (Öffnet in neuem Fenster)

ZUR MUSIK IM WERK JAMES BALDWINS

 In "Ein anderes Land" bildet der Blues, vor allem der von Bessie Smith, den Soundtrack dieses Romans von James Baldwin. Anfang der 60er Jahre erschienen, widmet René Aguigah ihm eine detaillierte Analyse der Figurenkonstellationen, die, eingesponnen in die Mikrophysik der Macht im New York der 50er Jahre, unter amourösen Verstrickungen leiden.  

Verstrickungen, die durch und durch von der schwarz/weiß-Relation geprägt sind.

 Baldwin streut Zeilen von Songtexten in die Handlung, solche, mit deren Gehalt sich die Figuren identifizieren können, die ausdrücken, was sie situativ fühlen oder denken. Auf einer Beerdigung erklingt ein Blues, kein Gospel, der noch später in der Erinnerung der Protagonisten wiederhallt. Rufus Scott, eine der Hauptfiguren, ist selbst Jazz-Musiker. Die Clubs Manhattans bilden Schauplätze des Romans. Hier mischen sich in den 60ern weißes und schwarzes Publikum - anders als noch ein paar Jahrzehnte zuvor, da in dem legendären "Cotton Club" nur weißes Publikum gelassen wurde, um sich an den schwarzen "Unterhaltungskünstlern" zu ergötzen. Zunächst oft eine ein Weg, der sich im Rahmen der Platzzuweisung durch von Weißen regierte Entertainment-Industrie als Möglichkeit des Gelderwerbs erwies, hat sich die schwarze Musik dank Bessie Smith, Billie Holiday, dem Modern Jazz eines Charly Parker, eine Dizzy Gillespie, eines Miles Davis aus der ihm zugewiesenen Ecke entfernt und einen ganzen musikalischen Raum erobert. Diesen zu bespielen war Weißen - von ein paar Ausnahmen abgesehen - zunächst kaum möglich. Miles Davis spielte demonstrativ mit dem Rücken zum weißen Hipster-Publikum - er war mit Baldwin befreundet. John Coltrane arbeitete sich durch harmonische Figuren, dass zunächst kaum jemand ihm folgen konnte - schon, weil er so schnell spielte. Aber auch, weil die Dreieck-Sprünge im Quintenzirkel so abenteuerlich wie waghalsig konzipiert waren. Der modale Jazz löste das Prinzip der Kadenzen, das noch die Musik Beethovens prägt - auch die erklingt plötzlich in "Ein anderes Land" - kurzerhand auf unter Rückgriff auf beinahe vergessene Kirchentonarten, und Ornette Coleman zerstörte die weiße Harmonik gleich komplett.

 "Der Saxophonist, schon den ganzen Abend in anderen Sphären spielte, legte ein Wahnsinnssolo hin. Der Junge (...) hatte (...) irgendwas erkannt, dass er das, was er sagen wollte, mit seinem Saxophon sagen konnte. Und das war eine Menge. Breitbeinig stand er da mit seinen paarundzwanzig Jahren, zitternd in seinen Klamotten, und trieb es mit der Luft, blies seine breite Brust auf und brüllte durchs Saxophon "Liebt ihr mich? Liebt ihr mich? Liebt ihr mich? (...) Die Zuhörer wurden attackiert von einem Saxophonisten, der ihre Liebe vielleicht gar nicht mehr wollte und ihnen nur noch seinen Zorn entgegenschleuderte, mit dem selben verächtlichen, gottlosen Stolz, mit dem er die Luft bestieg. Und doch war die Frage fruchtbar und echt, der Junge blies mit Lunge und Bauch aus seiner kurzen Vergangenheit heraus - irgendwo in der Vergangenheit, in der Gosse, in Gangfights oder Gangsex, im ranzigen Zimmer, auf den spermasteifen Laken, hinter Marihuana oder Nadel, unter dem Pissgestank im Keller des Polizeireviers war ihm der Druck entstanden, den er nie wieder loswerden würde."[2] (Öffnet in neuem Fenster)

So die Worte von James Baldwin selbst in "Ein anderes Land". Vieles, was René Aguigah in "Der Zeuge" brillant analysiert, taucht komprimiert in diesem Zitat bereits auf. An deutschen Musikhochschulen ist diese Ebene dem Jazz längst ausgetrieben. Er wurde seziert, auf Akkordfolgen, Upper Structures - gängig ist, über Akkorde mit den "Akkordtönen" der jeweiligen Töne der Tonleiter, z.B. A-Moll, zu improvisieren und dabei innerhalb ihrer sieben Töne zu verbleiben, nimmt man noch die 9, den zweiten Ton der nächsten Oktave, hinzu, verändert sich die "Farbe" des Klangs - und allerlei sonstige hochkomplexe Strukturen reduziert und so all dessen beraubt, worüber Baldwin und René Aguigah schreiben. Reine Technik, die dann wie beinahe sportliche Übungen von NDR-Big Band-Mitgliedern in Clubs als Leistungsschau vorgeführt werden. Aus spezifischer Erfahrung in dem, was Baldwin als Wirklichkeit der Literatur begreift, wurde ein Training in allgemeinen Prinzipien der Harmonik, schneller, höher, weiter. Auch das Praxen von "White Supremacy" und Kern der Problematik, die "kulturelle Aneignung" genannt wird - künstlerische Praxen werden von ihren Entstehungsbedingungen gelöst, soweit noch das, was Kunst ausmacht. Um sodann jedoch in Raster der Traditionen weißer Wissensvermittlung übersetzt zu werden, die sie so weit formalisieren, dass das Resultat als "veredelt" gilt und doch in etwas verwandelt wirden, das dem Leid der so einverleibten nicht mehr gerecht werden kann. In den Clubs von Äthiopien, London, Brooklyn unterlaufen immer wieder neu Musiker*innen dieses Kunsthandwerk, füllen es mit ihren Erfahrungen von spermasteifen Laken, erzeugen eine Rückbindung an das, was Baldwin in Worte fasst.

 Der einzige Kritikpunkt, den ich an "Der Zeuge" habe: René Aguigah teasert die Rolle der Musik in Baldwins Werk über mehr als hundert Seiten an an, um dann, wenn sie analysiert wird, eher auszuweichen. Baldwin habe gesagt, dass er, anders als Ralph Ellison, selbst Trompeter und Saxofonist,  es in "Invisible Man" es gelang, eigentlich keine Ahnung von Musik habe. "Das Musikalische an der Musik zu kommentieren überließ er anderen." (S.182). Im Blues-Schema, einer meist 12 taktigen Struktur, die mit auf der dem 1., 4. und 5. Ton einer Tonleiter aufbauen Akkorden arbeitet, diagnostizierte Baldwin die Möglichkeit, sie wiederholende Erfahrungen aufzubereiten und zu Gehör zu bringen. Er arbeitet auch aus, wie Baldwin Musik als Möglichkeit des Zugangs zur Black History begriff, verwurzelt in der Erfahrung der Sklaverei, und "Äußerungsform, die das echte Leben zur Kunst verarbeitet und, so die Hoffnung, auf dieses Leben zurückwirkt." (S. 185)

 Sich damit zufriedengebend analysiert "Der Zeuge" die Relation von Sprachlichem und Außer- und Vorsprachlichem meines Erachtens zu wenig. Klar, auch weil der Text immanent bleibt, also sich im Kontext der Gedanken Baldwins bewegt.

 Für alle Formen des R&B und Jazz ist das Unterlaufen von Sprache durch musikalische Mittel jedoch zentral. Diese Musiken arbeiten mit Sounds und entstehen im Performativen - auf der Bühne, im Club, in der freien Improvisation. Noch davor bei den Marching Bands in New Orleans auf der Straße, wo formal Befreite und ins ökonomische Elend Gestoßene mit den weggeworfenen Instrumenten von Militärkapellen aus dem Bürgerkrieg Gruppenimprovisationen anstimmten. Miles Davis setzte Erinnerungen an die staubigen Straßen des Südens in seiner Musik um, experimentierte mit den Klängen des westafrikanischen Daumenklaviers. Beschäftigt man sich mit Stücken mit "Naima" von John Coltrane, selbst in das Saxofon blasend, so muss man den Entstehungszusammenhang auf der Sound-Ebene realisieren; man erfasst es nicht durch harmonische Analysen. Vordergründig bringt Coltrane die Liebe zu seiner ersten Frau zum Ausdruck. Das jedoch in einer Tonalität und Stilistik, die man ohne sich wenigstens ein bisschen mit den Black Cultures in den USA der späten 50er, frühen 60er beschäftigt zu haben, gar nicht hören, geschweige denn spielen kann. Greift man zum Horn, muss man sich als weißer Westeuropäer schon klar machen, in was für eine Welt man dabei eindringt. Ich habe Baldwin nur in der Übersetzung gelesen, meine aber, dass sich das auch im "Sound" seiner Sprache vielschichtig zeigt; ein tiefes, musikalisches Verständnis, das sich in Bildern wie dem folgenden offenbart:

"Vor ihm stand eine Mauer, eine hohe Mauer aus Stein, Glassplitter glitzerten oben auf der Kante, scharfe Spitzen, die hinaufragten wie Speere. Er musste an Musik denken, obwohl keine zu hören war: Die Musik wurde vom Anblick des Regens geschaffen, der in erbarmungslosen, langen glänzenden Säulen herabfiel, und vom hellen Glas, das sich dagegen aufbäumte."[3] (Öffnet in neuem Fenster)

 Eine äußerst gelungene Beschreibung musikalischer Strukturen, von Sounds, Stimmungen, Emotionen, Erfahrungen, die ganz ohne Notenbilder und Tritonussubstitution (Öffnet in neuem Fenster) oder Quintfall (Öffnet in neuem Fenster) auskommen. Der Modern Jazz als Instrumentalmusik konnte genau deshalb so viel in Saxofon- und Trompetensoli, Klangstrukturen am Piano und selbst "Walking Bass" erzählen, weil auf diese Art hegemoniale und der Dominanzgesellschaft dienliche Sprachen unterlaufen, ja, sogar ausgelacht wurden - wenn man bei Sonny Rollins z.B. genau hinhört. Eine Vertiefung der Frage des Verhältnisses Sprachlichem und Außersprachlichem hätte "Der Zeuge" gut getan. Es bleibt diskursimmanent.

Das jedoch ist lediglich eine Binnenkritik. René Aguigah berichtet, wie James Baldwin Bessie Smith-Platten mit in die Schweiz nahm und dort hörte, sie fast als eine Selbstvergewisserung nutzte, als er mit dem Rassismus jener konfrontiert wurde, die noch nie einen Schwarzen gesehen hatten. In "Ein anderes Land" werden auch vor allem die Texte des Blues, auch aus "Porgy & Bess" von Gershwin, zitiert. Dabei geht "Der Zeuge", so sanft, elegant, flüssig und konzentriert das Buch geschrieben, so virtuos es komponiert ist, tatsächlich unter die Haut. Wenn man sich darauf einlässt.

WHITE SUPREMACY

 Das Thema von "James Baldwin. Der Zeuge" bilden die fürchterlichen Wirkungen von "White Supremacy", weißem Überlegenheitsdünkel, der sich durch Ignoranz stabilisiert und auf Individuen wirkt.  James Baldwin seziert in seinem essayistischen, aktivistischen und literarischen Werk diesen gesellschaftlich bis heute so wirksamen Mechanismus, diagnostiziert ihn und versucht, ihn wenigstens partiell aufzulösen. Macht wirkt in den Beziehungen, so Michel Foucault, und eben das prägt noch die Relationen der Figuren in Baldwins Romanen. Das arbeitet "Der Zeuge" heraus.

 René Aguigah gelingt es dabei, annähernd alle in aktuellen Kulturkämpfen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wirksamen diskursiven Knotenpunkte in "Der Zeuge" mit Baldwin aufzudröseln. Wie ist das Verhältnis von Aktivismus, Essayistik und Literatur? Was soll "Identitätspolitik" überhaupt heißen? Wie verhält sich Universales und Partikulares zueinander, normativ wie deskriptiv - wieso kann also "Black Lives Matter" nicht mal eben in "All Lives Matter" aufgelöst und dennoch eine universalistische Moral vertreten werden? Wieso sind Malcolm X und Martin Luther King vielleicht gar keine Gegensätze, hier der Separatist, da der Universal-Humanist, sondern verkörperten 2 Ansätze, die Baldwin in seinem Werk zu verbinden wusste? Welche Rolle spielen Erinnerungen im Literarischen wie auch im Politischen? Eine Frage, die rund um Erinnerungskulturen, wessen Leid erinnert werden darf und wessen nicht, welche Erinnerungen als relevant gelten und welche getrost ignoriert werden können, gerade großflächig politisch wie auch in den Künsten mit aller Schärfe diskutiert wird.

Die Stärke des Buches liegt darin, dass René Aguigah in keinem Fall einfache Antworten sucht. Das Werk Baldwins in seiner Interpretation ist von immenser Schärfe in der Diagnostik, ohne je die Unabgeschlossenheit der Fragestellung aufzulösen. Eher öffnet es durch das Changieren zwischen Spezifischem und großer These Diskussionsräume, die erst noch zu bespielen wären.

 Zwei gesellschaftliche Dimensionen jedoch, in denen je unterschiedlich "White Supremacy" sich zeigt, werden sehr entschieden als Prämisse aller Ausführungen installiert.

 Die erste Dimension ist die Ignoranz weißer "Liberals". Im Deutschen sind das nicht nur die aus der FDP, sondern sich als progressiv verstehende Kräfte im Allgemeinen. "James Baldwin. Der Zeuge" beginnt so mit eindrucksvollen Passagen zur Hippie-Hochburg San Francisco. Während man im Süden der USA alltäglichen Rassismus erwarten würde, so müsste doch da, wo der "Summer of Love" sich formieren sollte, die Freiheit von solchen Zuschreibungen erblühen. Nix da. James Baldwin beurteilte die Lage anders. René Aguigah zitiert Aussagen aus einem Dokumentarfilm von 1963 mit dem Titel "Take this Hammer". Für Baldwin zeigte sich San Francisco als eine "ganz normale amerikanische Stadt" (S. 13), was aus seinem Munde eine bittere Einsicht sei. Letztlich wirke hier eine ökonomisch bedingte Segregation, die sich in schlimmen Wohnverhältnissen wie auch Perspektivlosigkeit zeige und in die für die USA übliche Entmenschlichung münde. Die weißen "Liberals" merkten das aber noch nicht einmal, wenn sie sich wechselseitig für ihre "Toleranz" auf die Schulter klopften, dass überall da, wo es um Geld, Status und Macht ginge, doch wieder nur sie selbst Zugang zu den Ressourcen haben und auch entscheiden, wer ggf. mitspielen darf auf den Bühnen, die Dominanz gewähren. Diese Analyse steht nicht zufällig gleich zu Beginn des Buches, beschreibt sie doch auch die Lage aktuell in Deutschland ganz gut.

 Die zweite Dimension entsteht, in Habermas' Terminologie, an der "Schnittstelle von System und Lebenswelt". Teil des Systemischen in dessen Sinne ist die Exekutive, administrative Macht, und somit auch die Polizei. Eben jene Institution, die auch zur "Black Live Matters"-Bewegung führte. Sie zieht sich als gewalttätiger Kontrahent durch das Werk Baldwins wie auch durch das Leben schwarzer Menschen in den USA.

 Baldwin bringt in einer Dialogpassage, auf die wiederholt in der "Der Zeuge" Bezug genommen wird, seine Sicht auf den Punkt:


"Denn alle Polizisten waren schlau genug zu wissen, für wen sie arbeiten, und nirgendwo auf der Welt arbeiteten sie für die Machtlosen." (S.88)

 Die Analysen Aguigahs von polizeilich exekutierter "White Surpremacy" im Werk Baldwins allein schon lohnen die Lektüre. Sie ziehen sich durch das ganze Buch und sollen hier nicht weiter referiert werden. Dann lieber gleich das Buch kaufen und es lesen.

"ABSTURZ IN DIE QUEERE UNTERWELT” VERSUS LIEBE?

 Bleiben noch die mich am stärksten irritierenden Passagen in "James Baldwin. Der Zeuge". Dass sie mich irritierten, das ist gut so. Frei von San Francisco bin auch ich nicht. Es geht um "Giovannis Zimmer" von James Baldwin; zweifelsohne einer der Klassiker der schwulen Literatur.

 Eine durch und durch tragische Geschichte. Gleich zu Beginn berichtet Baldwin, dass einer der beiden in eine Affäre verwickelten männlichen Hauptfiguren sterben wird. Die Ausgabe, die auf meinem Regal steht (nun nicht mehr, René Aguigahs Buch animiert dazu, wieder hineinzulesen), ist die 5. Auflage der Taschenbuchausgabe von 1981. Zu der Zeit gab es wenig öffentlich ohne weiteres zugängliche Literatur mit schwulen Stories. Selbst "Der fromme Tanz" von Klaus Mann war nicht bei Rowohlt erschienen, ein explizit schwuler Roman, der in der Berliner Bohéme der 20er Jahre spielt wie z.B. der "Mephisto", sondern in einem Kleinverlag und schwer zu beziehen. Zudem ich zu dem Zeitpunkt noch nicht so weit war, mal eben so in einem Geschäft ein Buch mit “homosexuellen Inhalten” zu bestellen, und "Amazon" und dergleichen gab es noch nicht. "Giovannis Zimmer" fiel mir mit 16, 17 in die Hände, mitten in meinem Coming Out-Prozess. Es hat mich damals ernsthaft traumatisiert - aufgrund der Tragik des Stoffs. Gleich auf Seite 3 die folgenden Sätze:


"Und ich bin zu mannigfaltig, als daß man mir trauen könnte. Andernfalls wäre ich jetzt nicht allein in diesem Haus, würde Hella nicht auf hoher See schwimmen, wäre Giovanni nicht dazu verdammt, irgendwann in dieser Nacht auf der Guillotine zu sterben."[4] (Öffnet in neuem Fenster)

 Und so nimmt die Geschichte, rückblickend erzählt, ihren Lauf ...

 René Aguigah verweist auf die Probleme, die Baldwin in den 50er Jahren hatte, diesen Roman überhaupt zu veröffentlichen (S. 73). Ein recht unverblümt schwules Buch - das konnte auch juristischen Ärger bedeuten. Und dann noch ein schwarzer, schwuler Autor? Das sei einfach zu viel für die Öffentlichkeit, so wurde Baldwin mitgeteilt. Er solle lieber bei seinen "Race"-Themen bleiben.

 Doch gerade diese "keep the n*** in his place"- Aufforderung sei, "Der Zeuge" zufolge, für Baldwin das Ärgernis gewesen. Genau das trieb ihn an, es trotzdem zu versuchen. Es gelang. Ein Londoner Verlag veröffentlichte "Giovannis Zimmer". Die Story über die intensive Affäre zwischen einem Amerikaner namens David und dem italienischen Barkeeper Giovanni, der nach dem Ende dieser Beziehung einen Mord aus Affekt begeht, wurde so zu einer Zeit veröffentlicht, in dem "Homosexualität" in den USA als Verbrechen galt. Wie auch in Deutschland. Hier bestand unverändert der §175 in der Nazi-Fassung fort. Trotzdem erschien "Giovannis Zimmer" 1963 auch hierzulande. Das Veröffentlichungsjahr, im historischen Kontext situiert, erscheint mir nicht nebensächlich. Rund um das Werk Jeans Genets wurden in den 50er und 60er Jahren im postnationalsozialistischen Deutschland einige Prozesse geführt. Bereits 1956 stritt Heinrich Maria Rowohlt-Ledig für die Veröffentlichung von Genets "Querelle" vor Gericht und unterlag. Er musste einer Vernichtung von Restbeständen der ersten Auflage zustimmen und ein Bußgeld zahlen. Der den Roman "Notre-Dame-de-Fleurs" von Genet veröffentlichende Kleinverlag Merlin wollte sich dem nicht fügen. Zunächst wegen "Verbreitung unzüchtiger Schriften" angeklagt, erwirkte er, dass selbst der Anklage führende Staatsanwalt im Namen der Kunstfreiheit diese Beschuldigung zurückzog. Im Jahr 1962. Ein in der Tat bahnbrechendes Urteil, dass die Veröffentlichung von "Giovannis Zimmer" in Deutschland begünstigt haben dürfte. Genet selbst konnte zu dieser Zeit aufgrund "sexueller Abweichungen" nicht in die USA einreisen. Angesichts dessen dürfte deutlich sein, warum "Giovannis Zimmer" schlicht revolutionär wirkte.

 René Aguigah referiert Baldwins Hypothese, der zufolge die Abwertung von Homosexuellen der Abwertung der Verhältnisse zwischen den Geschlechtern entspräche (S. 75). Schwule dienten als Projektionsfläche für die Ressentiments der US-Gesellschaft. Baldwin habe, vor Stonewall, wohlgemerkt, folgende Perspektive eingenommen: das "Schreckliche" an der Homosexualität sei, dass man sich vor einem "Absturz" in eine "Unterwelt" schützen müsse, in der man "weder Männer noch Frauen treffe", keine Liebhaber oder Freunde fände und die Möglichkeit menschlicher Zuwendung wegfalle. So Baldwin in einem Essays über André Gide (S. 76). René Aguigah sieht mit Baldwin diese Flucht vor der Unterwelt in die scheiternde Suche nach Nähe und Zuwendung auch in "Giovannis Zimmer" als Leitthema erstrahlen. Eine Suche, die final unter die Guillotine führt.

 Diese These ist nicht harmlos. René Aguigah verknüpft sie mit einer Passage in "Giovannis Zimmer", jener, in der David erstmals auf Giovanni trifft. Eine Szene in einer Bar, deren Besucher*innen geschildert werden - die dortige "Unterwelt" präsentiert sich folgendermaßen:

 "Diejenigen Gäste, die mit schriller Stimme und in schrillem Outfit von ihren jüngsten Affären, nennt der Ich-Erzähler "Papageien". Faszination oder Homophobie? Beides." (S. 74)

 Ich habe die Sequenz im Roman selbst noch einmal nachgelesen - in der alten Übersetzung - und würde eher auf Homophobie tippen. Eine Form derer, die bis heute besonders wirksam ist und sich auch bei Schwulen als Internalisierte zeigt. Gerade weil Baldwin recht hat: es sind Abwertungen des Weiblichen im Allgemeinen und des "Effeminierten" bei Männern, die aus Davids Perspektive die Sicht auf das Treiben in der Bar bestimmt. In der alten Übersetzung, frei nach "La Cage aux Folles", "I am, what I am", nennt David sie "Les Folles", frei übersetzt "die Verrückten", die wie Papageien kreischten in, wie René Aguigah schreibt, "schrillen Outfits". Wenn sie sich gruppierten, sähe das aus, so Baldwins Figur David, "wie in einem Pfauengehege". Er sinniert:

 "Mir war es einfach unverständlich, daß sich überhaupt jemand fand, der mit ihnen ins Bett ging, denn ein Mann, der eine Frau haben wollte, nahm doch gewiss lieber eine richtige, und ein Mann, der einen Mann haben wollte, hatte mit dieser Sorte bestimmt nichts im Sinn. Wahrscheinlich kreischten sie deshalb so laut."[5] (Öffnet in neuem Fenster)

Ich bin mir nicht sicher, ob es Baldwin in dieser Szene selbst um Abwehr dieser verderblichen  "Unterwelt" ging. Die Sequenz ist virtuos gebaut, weil sie aufzeigt, wie David in demonstrativer "Ich bin doch nicht schwul"-Haltung, die er deutlich im Dialog so artikuliert -  "Du wirst es kaum glauben, aber ich fliege nur auf Mädchen. Ja wenn er eine Schwester hätte, die ebenso hübsch wäre"[6] (Öffnet in neuem Fenster)- allmählich in den Bann Giovannis gerät. Meine Lektüre wäre eher, dass David hier auch seine eigene als "weiblich" geltende Seite abwehrt, die sich in den "Folles" zeigt und als Negativ-Sterotyp die Sicht auf Homosexuelle prägte.

 Es gab jedoch in den 50ern keine Identifikationsfiguren für Schwule, die männliches Begehren gegenüber Männern hätten artikulieren können. Es fehlte die Sprache dafür. So suchten viele sich Operndiven oder Stars wie Judy Garland, der "Zauberer von Oz" wurde komplett queer geguckt, oder Bette Davis, später auch Diana Ross als Role Models - weil dieses der einzige Weg war, auch passive Seiten des Begehren überhaupt artikulieren zu können. Auf die Idee zu "I'm coming out" von Diana Ross kam Nile Rogers, der den Song schrieb, in einer Drag-Show mit Diana-Ross-Imitatoren. Diesen Mechanismus, über Identifkationen mit Rollen, die einem gar nicht zugestanden wurden, sich von dominanzgesellschaftlichen Zuschreibungen zugleich zu lösen, arbeitet José Esteban Muñoz in "Desidentifications - Queers of Colour and the Performance of Politics" heraus. Womit ich mich nun auch ein wenig selbst beruhige, hier nicht ausschließlich "Whiteness" zu zelebrieren, was mir ja jederzeit passieren könnte.  Muñoz analysiert die Werke von Jean-Michel Basquiat, Richard Fung, Pedro Zamora, den "Terrorist Drag" von Vaginal David als Wege solcher Desidentifikation - in den 70ern hierzulande wurde das, was heute Drag heißt, analog "Fummel" genannt und als politischer Widerstand gegen die patriachale Ordnung verstanden und zelebriert.

Eine "Unterwelt" also, in die man "abstürzen" könne? Ja, Underground unter Bedingungen der Kriminalisierung. Aber "Absturz"? Es gibt eindrucksvolle Schilderungen dieser "Unterwelt" auch vor Stonewall, in der Literatur. Wenn auch nicht unbedingt in jener, die so viel gelesen wird wie James Baldwin. John Rechys "City of the Night"[7] (Öffnet in neuem Fenster) schildert durchaus lustvoll diese "Unterwelt" in New York und Los Angeles; Rechy hat selbst als Sexworker gearbeitet und das nach eigenem Bekunden gerne. Hubert Fichte hat sie in "Der kleine Hauptbahnhof oder Lob des Strichs" beschrieben, ein zugleich von drastisch rassistischen Passagen durchdrungenes Buch, das Sex auf Toiletten, in Parks, so ziemlich überall beschreibt zu Zeiten, da er zwischen Männern noch verboten war. Bei Jean Genet ist diese Welt zentral, vor allem in "Notre-Dames-de-Fleurs", in der Stricher und Ganoven poetisch überhöht werden. In Tennessee Williams' Autobiographie bereitet der Autor seine gesammelten sexuellen Abenteuer ausführlich auf. Der Riot vor dem Stonewall Inn in New York, Geburtsort aller Pride-Paraden, entstand aus dieser "Unterwelt" voller trans Menschen, Drag-Queens, Sexworker*innen; einer Szene zudem, in der schwarz und weiß sich mischten wie in wenigen anderen gesellschaftlichen Sphären. In teils von Selbsthass durchdrungenen Selbstkasteiungen ach so "verlotterter" und dann auch noch feminisierter Schwuler fungieren noch Larry Kramers "Faggots" oder Andrew Hollerans "Tänzer der Nacht". Beide Romane spielen in der Schwulenszene des New York der späten 70er. Bei Molina, Hauptfigur in Manuel Puigs "Der Kuss der Spinnenfrau", auch der Roman eines BPoC-Autoren, der zu seiner Zeit in New York als "Latino" gelesen wurde, wird nie klar, ob sie trans ist, in Drag agiert oder einfach nur schwul und über Identifikation mit Frauen Männer begehren kann. In einem späteren Passus in "James Baldwin. Der Zeuge" verweist René Aguigah darauf, dass Baldwin später postuliert habe, wir alle seien androgyn (S. 190). Das vereinfacht die Sache scheinbar; jene, die es offen zeigen wie Nemo, nonbinär und ESC-Gewinner, werden dafür bis heute offen angefeindet.

 Das ist eine lange Erklärung zu einem kurzen Passus in dem Buch von René Aguigah. Das Buch lädt jedoch durchgängig dazu ein, die Fäden weiterzuspinnen. Auch deshalb ist es so gelungen - es analysiert Baldwin am Leitfaden aktueller Diskussionen. Die Debatte rund um Drag tobte immer schon heftig in schwulen Communities. Es ist Teil schwuler Sozialisation, zwischen Normalitätssehnsüchten und einem freien Spiel mit den eigenen Pozentialen zu changieren. Der erste Strang hat sich verschärft, seitdem die politische Rechte das Thema trans, was etwas völlig anderes als Drag ist, eben eine Frage nach geschlechtlicher Selbstbestimmung, auf die Agenda setzte und rund um CSDs und schwul-lesbische Politik sich die politische Fraktion der Schwulen- und Lesbenbewegung immer stärker auf die Frage nach der "Ehe für alle" fokussierte. Die neben Gleichheitsversprechen und Rechtssicherheit immer auch eine Assimilation an eine Hetero-Institution bedeutet, die ursprünglich einfach als bürgerliche Wirtschaftsgemeinschaft zur Kinderaufzucht rechtlich institutionalisiert wurde, heiliges Sakrament hin oder her, und somit auch ein Normalisierungstool ist. Seitdem formieren sich "LGB without T"-Gruppierungen, die harsch gegen trans agieren, dabei aber alles attackieren, was sich nicht binärer Geschlechtlichkeit fügt und Drag und was sonst so noch alles stolz auf Pride-Paraden sich zeigt in Social Media und anderswo attackieren, dabei politisch oft nach rechts kippend.

 Ich finde so diese Oppositionsbildung zwischen "Unterwelt, in der es weder Frauen noch Männer gibt, in die man abstürzen können" einerseits, und "Zuneigung und Nähe andererseits insofern politisch nicht harmlos. Sie reproduziert sich zwar durchaus z.B. in "The Velvet Rage" von Alan Downs, dem Werk eines schwulen Therapeuten. Dieser vertritt die These, dass Schwulen eine tiefe Scham eingepflanzt würde, die sie glauben ließe, nicht um ihrer selbst Willen geliebt werden zu können. So würden sie die dollsten Fähigkeiten entwickeln, um das zu kompensieren. Ihre Körper perfektionieren, wirtschaftlich besonders erfolgreich sein oder aber kreative Höchstleistungen vollbringen. "Velvet Rage and Beauty", eine Ausstellung in der Berliner Nationalgalerie mit dem homoerotischen Werk Andy Warhols, orientiert sich an den Diagnosen von Downs (Öffnet in neuem Fenster).

 Dennoch mischen sich hier auch eher aus der Psychoanalyse stammende Pathologisierungen gleichgeschlechtlicher Sexualität in den Diskurs. Auch in die Sichtweisen Baldwins. Pointe in "Giovannis Zimmer" sei, Baldwin zufolge, aufzuzeigen was passiere, wenn man Angst habe, jemanden zu lieben (S. 77) - so zitiert es René Aguigah. Zu Zeiten des grassierenden Freudomarxismus führte man die Freudsche Neurosenlehre und Narzißmustheorien gegen Homosexuelle ins Feld - durch einen scheiternden Ödipuskomplex, Identifikation mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil und narzißtischer Selbstbespiegelung verfehle man die vollständige Individuation und könne so gar nicht lieben. Durch die behauptete Opposition zwischen "Unterwelt" und "Nähe und Begehren" reproduziert sich dieses Schema. Zudem es auch bis heute nicht einfach ist, etwas zu leben, für das es vor allem heterosexuelle Vorbilder gibt. In gleichgeschlechtlichen Beziehungen ergeben sich zudem andere Herausforderungen. Michel Foucault formulierte deshalb recht, dass es nicht darum ginge, Begehren in uns zu befreien, sondern uns als schwul erstmal zu erfinden. Zu viele gesellschaftliche Parameter müssen in schwulen Beziehungen erst einmal verhandelt und ausprobiert werden, die keinem vorgegebenen Muster folgen. Auch wird in dieser Deutung - hier Unterwelt, da die "Angst zu lieben" - merkwürdig ignoriert, dass es sich um ein strafbewehrtes Delikt handelte. Das machte es nicht einfacher zu lieben. Giovanni landet wegen Mordes unter der Guillotine, andere wegen schwulem Sex im Gefängnis.

 Das mag jetzt albern erscheinen, solche retrospektiven Kritiken an James Baldwin zu formulieren, der todesmutig als schwarzer Autor in den 50er Jahren Romane und Essays zu einem Thema wie "Homosexualität" veröffentlichte. Es ist für aktuelle Deutungen aber nicht irrelevant, die, wie mir scheint, René Aguigah sich zu eigen macht?

HOMOSEXUALITÄT UND WHITENESS

 Eine weitere Pointe in der Lesart von "Der Zeuge" wäre nun mir nie in den Sinn gekommen, wohl, weil auch sehr viel San Francisco in mir steckt. Baldwin lasse in "Giovannis Zimmer" ein Panaroma von Whiteness entstehen. Baldwin habe den Schwerpunkt darauf gelegt, eher die vermeintliche "Unschuld" weißer, heteronormierter Sexualität aufheben zu wollen, um stattdessen zu zeigen, wie Klischees von Homosexualität unterlaufen werden könnten (S. 76). David sei ein typischer, weißer Amerikaner, der sogar darüber fabuliere, wie seine Vorfahren Kontinente eroberten. Und der trifft auf einen jungen Italiener.

 "Giovannis Zimmer ist nicht zuletzt eine exemplarische Studie über einen weißen Mann aus der Neuen Welt, der seine Gefühle mit unzähligen Drinks wegspült; der sich lieber selbst belügt, als etwas einzugestehen; der sein eigenes Unglück und das Ende seines Gefährten zulässt, weil er die Liebe nicht annimmt, die ihm zufällt. Mit anderen Worten: Das Buch betreibt Critical Whiteness-Studies, bevor dieser Begriff erfunden wurde." (S. 76)

 In "Der Zeuge" wird aufgezeigt, dass schon die Sprachbilder, die in die inneren Monologe der weißen Hauptfigur eindringen, in rassistischen Ikonographien situiert sind. So imaginiert David seinen "attraktiven, südländischen Barkeeper ausgerechnet auf ein Versteigerungsprodest" (S.78)  - in Baldwins Werk sonst "Metonymie für die Versklavung von afrikanischen Menschen". Bei Taxfahrten sehen die beiden Männern am Rande einen schwarzen Obdachlosen, "sehr schwarz und einsam". David spiele durchgängig die Rolle des weißen, amerikanischen "Tough Guys", der großen Themen wie Schmerz und Liebe, für seinen italienischen Liebhaber zentral, ausweiche - der Versuch des selbstkontrollierenden Puritanismus versus Pathos des Katholizismus, sozusagen. Diese Angst vor Schmerz führe, so Baldwin in ergänzenden Essays, dazu, dass weiße Amerikaner auch keinen Zugang zur Lust fänden. Die Verdrängung vergangener Schuld ihrer Väter und Großväter, so der Völkermord an den "First Nations" und die Historie der Sklaverei, münde in eine Mischung aus Schuldgefühl und Abwehrreflexen. Auch in Deutschland, bezogen auf andere Historie, kein unbekanntes Phänomen. Weiße Amerikaner träumten von Sicherheit in einem geradezu naiven Ausmaß. All das verdichte sich in David und münde in seine Angst, zu lieben und sich lieben zu lassen. Lieber kehre er in die Heimeligkeit einer leidenschaftslosen heterosexuellen Beziehung zurück, als sich dem "auszuliefern", was er mit Giovanni erleben könnte. Im Roman verschränke sich dieser so typisch weiße Zwang zum Selbstzwang mit dem Thema Homosexualität.

 René Aguigah zeigt auch Baldwins eigenes Beziehungsleben auf, Liebschaften und solche, inn deren Fall sich langjährige Freundschaften daraus ergaben - so z.B. mit Julian Harpersberger. Er verfolgt die vielen homo- und bisexuellen Figuren in den Romanen Baldwins, verweist auf Schwulenfeindlichkeit, mit der auch Baldwin konfrontiert wurde - z.B. die Reaktion von Richard Wright auf die harsche Kritik Baldwins an dessen Meisterwerk "Native Son (Öffnet in neuem Fenster)", das Baldwin zu sehr als "Thesenliteratur" erschien. Wright konterte, dass in der persönlichen Aussprache mit Baldwin zwischen dessen "sensiblen Sätzen Echos einer Art unmännlichen Weinens zu hören waren" (S. 41), eine klassisch homophobe Herabwürdigung - die auch in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung sich zeigen konnte. Ebenso Thema in "Der Zeuge" ist eine "spezifische Schwulenfeindlichkeit in afroamerikanischen Communities nicht unbedingt auf der Ebene praktischer Anerkennung, wohl aber im Sprachgebrauch" (S.169). Zu ergänzen sei, was René Aguigah nicht erwähnt, in der Sicht Davids auf Giovanni sich aber andeutet, ein ausgeprägter Rassismus auch in schwulen Szenen bis heute, der von Adaptionen extremen "White Supremacy"-Dünkels, oft auch in den Suchprofilen von Dating Apps erkennbar, bis hin zu einer verdinglichenden Fetischisierung und somit Entmenschlichung schwarzer Körper reicht.

BALDWIN, DIE GAY RIGHTS-BEWEGUNG NACH IHM - UND HOUSE-MUSIC

 In den 80er Jahren, in den Jahren vor seinem Tod 1987, sei James Baldwin bereits einer der Älteren gewesen, die führenden Stimmen in den queeren Communities bereits eine neue Generation. Und allesamt weiß, sei hinzugefügt. In vielen Zusammenhängen setzte, in den USA trotz des Wirkens von Audre Lorde in Berlin etwas früher als hier, die Auseinandersetzung mit Perspektiven von Queers of Colour erst arg verspätet ein. Manche der wichtigen Texte sind gerade erst in "Queer Studies" von Laufenberg/Trott wenigstens teilweise übersetzt worden.

 Auch Autoren wie Armistead Maupin, Bestseller-Autor mit den "Stadtgeschichten", kritisieren ihre Ansätze rückblickend als viel zu weiß. Er rückt in deren Jahrzehnte später erst veröffentlichten Fortsetzungen ein Sujet in den Mittelpunkt, das als Zäsur in den 80er Jahren gerade zu der Zeit, als James Baldwin starb, die Communities ergriff. In der Netflix-Adaption von "Tales of the City" ist eine der stärksten Szenen die Auseinandersetzung zwischen einem jungen Schwarzen und wohlsituierten weißen Schwulen über den je eigenen Aktivismus. Die Vorkämpfer der Gay Rights sind zutiefst empört, dass ihnen nun eine Ignoranz des Rassismus in den Communities vorgeworfen wird. Immerhin hätten sie als Aktivisten doch AIDS überlebt und heroisch gekämpft in den frühen 90ern.

 Tatsächlich waren die führenden Persönlichkeiten rund um die Anti-AIDS-Aktivisten "ACT UP" weiß. Dass aber nicht, weil sie nun besonders betroffen waren. Ihre Gesundheitsversorgung, und vor allem auf die Pharma-Industrie zielte der Kampf, war häufig besser als die jener BPoC, die sich z.B.  im "Warehouse" in Chicago trafen und dort als Avantgarde der House-Music einen Tanz im Angesicht drohenden Todes zelebrierten. Wieder war es eher die musikalische Form, ganz wie im Jazz, nicht das Diskursive, das wie ein Aktivismus funktionierte - in einer Kreuzung aus Gospel-Traditionen, "Go, tell it on the mountains", und elektronischer Musik, die dank neuer Technik kostengünstig produzierbar war. In der House Music jener Jahre mischt sich Lebensfreude - "Can you feel it" (Mr. Fingers) - und Erlösungshoffnung mit tiefer Trauer - "Tears" (Frankie Knuckles). Ein zugleich feierndes und sehnendes Aufgehen im Beat, das doch ins "Promised Land" (Joe Smooth) führen möge. Eben jenem Beat, den auch James Baldwin in "Ein anderes Land" beschwört:

"Es hieße, sich an den Beat zu erinnern. Ein N***, sagte sein Vater, lebt sein ganzes Leben einem Beat und stirbt nach diesem Beat, Scheiße, fickt nach diesem Beat, und das Baby, das er da reinschießt, das hüpft danach, und neun Monate später kommt es raus, wie ein verdammtes Tambourin. Der Beat: Hände, Füße, Tamburin, Drums Piano, Lachen, Fluchen."

 In "Ein anderes Land" will die Figur Rufus diesem Beat entfliehen.  Es ist ein Beat, der zunächst aus "Worksongs" entstand, die z.B. beim gemeinsamen Verlegen von Eisenbahnschwellen den Rhythmus des Vorschlaghammers vorgaben. Einer, der später in den Clubs und frühen Clubs der von Gay-Communities, von BPoC dominiert, zum "4 on the floor" mutierte, dem alle Disco anleitenden rhythmischen Strukturmerkmal. Letztlich trug der Beat zumindest dazu bei, bis in die House-Music transformiert, das Leben etwas erträglicher zu machen.

 Um so jene Rolle zu spielen, die Baldwin auch seinem eigenen Schreiben zuwies - und die René Aguigah in all ihren Dimensionen in "James Baldwin. Der Zeuge" so brillant wie profund herausarbeitet und strukturiert.

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[1] (Öffnet in neuem Fenster) Aguigah, René, James Baldwin. Der Zeuge, München 2024, S. 50 - alle Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe

[2] (Öffnet in neuem Fenster) Baldwin James, Ein anderes Land, München 2024, 2. Auflage, S. 20-22,

[3] (Öffnet in neuem Fenster) Ebd., S. 479

[4] (Öffnet in neuem Fenster) Baldwin, James, Giovannis Zimmer, Reinbek bei Hamburg, 1981, S. 11

[5] (Öffnet in neuem Fenster) Ebd., S. 27

[6] (Öffnet in neuem Fenster) Ebd. S. 30

[7] (Öffnet in neuem Fenster) Rechy, John, Nacht in der Stadt, München 1986

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