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Zur Europameisterschaft, dem VAR und dem Wesen der Zeit

 Die Europameisterschaft dominiert derzeit das im Gesellschaftlichen zirkulierende Mediale.

 Unterbrechungen eines Spiels durch Gewitter, ein nach leidenschaftlichem Grätschen jubelnder Antonio Rüdiger, der Fallrückzieher von Jude Bellingham und seine anschließende Messiahs-Pose: es gruppieren sich geteilte Affekte um das, was Menschen zu sehen bekommen; die Bildfolgen evozieren Abscheu, Begeisterung, Freude, Enttäuschung und Eindreschen auf "Allüren" bei den einen, ein Feiern von "was ein Typ" bei den anderen. Eine gegen das "Pride-Team" im pink Trikot giftende Rechte kickt sich derweil ins Abseits. Politisierung sucht Zugriffe auf den Flow der Bildfolgen, während er ununterbrochen als intermedialer Strom ähnlich durch diversifizierte Medienkanäle rauscht wie Platzregen in das Dortmunder Stadion, sich so bündelt wie die konzentrierten Wasserfälle vom Dach des Westfalenstadions. Inmitten derer tanzten Dänen. Jürgen Link nennt diese Dauerberieselung, die sich durch unser aller Leben zieht, das "Fun & Thrill"-Band.

 Die Wahrnehmung dieser Bilder mündet bei mir automatisch, nachdem ich Jahrzehnte mit dem Neuarrangieren von Archivbildern für TV-Dokumentarisches verbrachte, in Selektionsprozesse. Welche Bildsequenzen ich also auswählen würde, wenn ich mal wieder Geld bei einem Jahresrückblick verdienen müsste.

 Zumeist mündet es das in eine Auswahl dessen, schon, weil die Kund*innen das so wollen, sich in den zirkulierenden Bildern als geteilte Wahrnehmung eh schon verdichtet hat, bei X oder Instagram massenhaft geteilt wird. Die Herausforderung besteht dann darin, dieses Bekannte möglichst so aufzubereiten, dass noch so etwas wie Mehrwert, Diagnostik, ein eigener Flow entsteht. Zum Beispiel durch Musikunterlegung. Musik dramatisiert, weckt Assoziationen, arbeitet mit Ähnlichkeitsbeziehungen, löst Erinnerungen aus, kontextualisiert. Musik ist nur als Zeitmedium eines. Eine einzige Note ist noch keine Musik, und noch im Falle minimalster Kompositionen nötigt Musik zu einer "gewissen Dauer". Weil Zeit so erst Zeit wird, nicht nur Henri Bergson zufolge. Zeitpunkte gibt es gar nicht. Die sind immer schon vorbei. Zeit entfaltet sich prozessual, nicht punktuell.

Angesichts von Spielen wie jenem des DFB-Teams gegen Dänemark, geprägt von VAR-Entscheidungen, jenen des Videoschiedsrichters, kann all das verdeutlicht werden. Die durch Computeranalysen geschickten Bilder z.B. eines gefallenen Tores fixieren einen Moment, der alles, was Fußball in seiner Prozessualität erst bestimmt, zuwiderläuft. Da kommen Ball-EKGs und Abseitsscanner zum Einsatz, die ein Standbild aus etwas lösen, was körperlichen Bewegungen als solchen nicht mehr entspricht und in Raumzeit situierten Spielern auch keine Antizipation mehr ermöglicht. Kein Spieler kann wissen, ob er gerade mit der Fußspitze im Abseits steht.

 Man kann das mit Adorno als falsches, weil dem Lebendigen nicht mehr angemessenes "identifizierendes Denken" begreifen. Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie Messungen sich als objektiv ausgeben, dabei aber die Wirklichkeit ihres Gegenstandes verfehlen. Christina Vagt, Expertin für das Werk Henri Bergson, belegte an der Hochschule für Bildende Künste im Rahmen eines Symposions zur Virtualität der Zeit 2017, wie schwer Computerprogramme sich tun, natürliche Bewegungsabläufe zu rekonstruieren. Weil sie alles digital in Einzelbilder und Pixel, eben Daten, auflösen. Das von ihr analysierte, konkrete Beispiel: die Entfaltung der Flügel eines Insekts. Computersimulationen können das nicht nachbauen, weil das digital eben nicht geht. Sie können sich annähern, verfehlen dabei aber gerade die Komponente Zeit im Bergsonschen Sinne - etwas von einer gewissen Dauer, nicht eine Aneinanderreihung von Zeitpunkten zu sein. In nun ausgerechnet dem TV-Kontext kursierenden Annahmen von "Objektivität" zeigt sich das Vergessen von Prozessualität. Sie können den Ablauf nicht fassen, indem sie DAS Einzelbild auswählen.

 Gilles Deleuze baut auf Henri Bergson, dessen Annahmen in "Materie und Gedächtnis" ich hier variiere, seine Thesen in den Kino-Büchern auf - "Das Bewegungs-Bild" und "Das Zeit-Bild". Berühmt der Versuch Bergsons mit dem sich in Wasser auflösenden Zucker: keine Momentaufnahme kann als fixierte das begreifen, was dieser Verlauf des Auflösens ist. Das ist der Unterschied zwischen Fotografie und Bewegungs-, nicht Bewegtbildern: Filmisches entsteht, wenn der Prozess sichtbar wird. Und eben hierin hat Filmisches immer eine enge Beziehung zur Musik, die nur prozessual denkbar ist. Martin Seel schreibt in "Die Künste des Kinos" somit von "Kino als Musik fürs Auge".

 Deleuze greift im "Zeit-Bild" zugleich Bergsons Konzeption von Erinnerungen auf. Bergson unterscheidet zwischen den im Sensomotorischen sich verankernden Erinnerungen einerseits: wenn ich immer wieder übe, den Ball beim Freistoß über die "Mauer" des Gegners in den rechten Winkel zu schießen, so kann ich das irgendwann - es gelingt. Ebenso, wenn ich cis-dorisch wie Charly Parker immer wieder auf dem Saxophon übe. Parker tat das bis zu 11 Stunden täglich. Irgendwann muss ich nicht mehr nachdenken, aus was für Tönen sich diese Tonleiter zusammensetzt und wie die auf dem Saxophon gespielt wird. Es ist Teil des Körpergedächtnisses geworden.

 Eine andere Form der Erinnerung sind situative Eindrücke, gespeichert als Erinnerungsbilder, oft auch die aus der Medienrezeption - so wie der einsame Beckenbauer nach dem WM-Finale 1990 nachdenklich über den Platz schritt, oder, für zukünftige Jahresrückblicke beim NDR, wie Fabian Hürzeler bei der Aufstiegsfeier auf dem Spielbudenplatz die Meisterschale der zweiten Liga gen Himmel reckte. Bergson untersucht individuelle Erinnerungsbilder- der Kuchen beim 80. Geburtstag der Großmutter, der Geschmack von Zigaretten im Mund des Lovers beim ersten Kuss, die Madeleines bei Proust. Wir verallgemeinern, indem wir solche Erinnerungen mit aktuellen Wahrnehmungen vergleichen, so Bergson: "Das Spiel gegen Dänemark ist ja ein wenig wie das gegen Kroatien bei der WM X". Dieses Wahrnehmen von Ähnlichkeiten ist dabei keine erst im Nachhinein erfolgende Erkenntnis. Es ist dem Wahrnehmungsprozess selbst eingeschrieben. Wir sortieren unsere Welt anhand von Ähnlichkeitsbeziehungen, in denen Erinnerungen mit aktuellen Wahrnehmungen abgeglichen werden und so die Mannigfaltigkeiten des Erinnerten wie auch des Wahrgenommenen kondensieren. Sich verdichten in Annahmen über die Welt, die uns begegnet, so Bergson. Mediale Bilder sind dabei längst zentral geworden. Wenn Putin-Trolle endlos Bildfolgen von mordenden "Migranten" in soziale Medien pumpen, so leiten sie ggf. die mentalen Generalisierungsmechanismen der bayerischen Landbevölkerung an, wenn diese mal in die Großstadt fahren und dort mehr "Schwarzhaarige" als in ihrem Dorf treffen, sodann Ähnlichkeitsbeziehungen wahrnehmen.

Es gibt freilich auch harmloseres mediales Futter für diesen Prozess des Abgleichens und Identifizierens von angenommenen Ähnlichkeitsbeziehungen. Mittlerweile sind individuelle Erinnerungen von kollektiv betrachteten Aufnahmen, die in Archiven lagern, durchdrungen. Das Tor von Jürgen Sparwasser bei der WM 1974, DDR gegen BRD, das vermeintliche "Sommermärchen", all die Verlängerungen, in denen Bayer Leverkusen noch Tore schoss auf dem Weg zur Meisterschaft, die in Jahresrückblicken dann jemand aneinanderschneiden wird. Was auch immer von dieser EM erinnert werden wird, unterlegen die Lohnarbeiter*innen rund um die Rundfunkanstalten dann vermutlich mit "Major Tom".

 Diese Verdichtungsprozesse können gar nicht anders, als Interpretationen vorzunehmen. Andy Warhol hat sich über die Illusion, es könne so etwas wie "Abbildhaftigkeit" im Sinne des "Direct Cinema" geben, gekonnt lustig gemacht. Stundenlang filmte er eine einzige Einstellung des Empire State Buildings oder eines schlafenden Liebhabers. Wie so oft bei Warhol begab er sich so in den Raum außerhalb von Bedeutungen, die in allseits zirkulierender Zeichenmaterie (ein Begriff von Gilles Deleuze) ansonsten erzeugt wird. Sie wird produziert mittels dessen, was Siegfried Kracauer als "Formgebung" bezeichnete - eben die Verdichtung von Rohmaterialien im Falle des Filmischen. Die besten Jubelgesten von Antonio Rüdiger, Kai Havertz und Tony Kroos aneinander montiert produzieren solche Bedeutungen. Reflektierte TV-Dokumentaristen basteln da somit nicht einfach so drauflos, sondern generieren explizit eigene Interpretationen, die Andere nur implizit an Üblichkeiten orientiert ebenso vornehmen.

 Medien sind immer produktiv; sie setzen etwas in die Welt, was ggf. Vorhandenes so neu zusammensetzt, wie es vorher eben nicht da war.

 Bei Europameisterschaften generieren Bildarbeiter*innen so notwendig auch Konzeptionen dessen, was unter "Nation" jeweils verstanden wird. Kommentator*innen spielen schon mit konkurrierenden Konzeptionen, wenn sie wahlweise "Deutschland", das "deutsche Team", "Nationalmannschaft" oder "DFB-Team" sagen. Mal spielt da ein ganzes Land auf dem Rasen Fußball, mal eine Verbandsformation, mal wird lediglich die Staatsangehörigkeit der Spieler angedeutet.

 Bei dieser Europameisterschaft konkurriert angesichts eines allgemeinen Rechtsrucks das ethnisch definierte Modell eines "Europas der Vaterländer" mit den Möglichkeiten einer kosmopolitischen Konförderation namens EU. Rechte, die zumeist nur in der Erinnerung leben, alles auf Retro drehen, gleichen die Bilder von der Zusammensetzung von Mannschaften mit den ethnisch homogenen Truppen einstiger Meisterschaften ab und lästern, weil sie sich immer nur mit Vergangenheiten, nie mit jener Dimension, die Zeit eben auch bestimmt, beschäftigen: Der Zukunft.  So sorgen sie auch für die Realität eines sich mittels Frontex abschottenden, an Austeritätspolitik orientierten Wirtschaftsbündnisses "Europäische Union".

 Zugleich, weil Zeit eben immer Prozess, Werden und Vergehen, IST, konkurrieren schon aufgrund der Zusammensetzung der Mannschaften völlig andere allseits zirkulierende Zeichenmaterien, die dem kosmopolitischen Modell einfach Recht geben. Eben deshalb laufen die Rechten Sturm gegen diese Mannschaften, eben deshalb äußert sich Mbappé explizit politisch gegen rechts. Weil er zu dem Werdenden, nicht dem Vergehenden gehört.

 Wenn Menschen sich an diese EM erinnern, dann werden sie das sehen. Die Versuche verängstigter Thüringer, die seit etwas mehr als 10 Jahren - erst da nahm der Ausländeranteil in ostdeutschen Bundesländern merklich zu - auch mal auf Menschen zu treffen, die nicht so aussehen wie selbst, weiter ihre Retrowelten aus Sparwasser-Zeiten zu konservieren, werden scheitern.

 Es lässt sich nicht ignorieren, dass Menschen wie Musiala, der die Wahl zwischen englischer und deutscher Nationalmannschaft hatte und Teile seiner Jugend in London verbrachte, eben eine kosmopolitische Biografie HAT. Dass Tony Kroos mit Real Madrid die Champions League gewann. Dass Spieler ALLER Nationalmannschaften in den Ligen anderer Länder spielen und hybride Zugehörigkeiten pflegen, die klassische "Eigentlichkeits"-Vorstellungen locker transzendieren.

 Das IST ein Modell auch für Europa, das allerorten gelebt und doch zugleich bestritten wird. Immerhin habe ich jahrelang für ARTE gearbeitet; das ist ja spannend, binational zu produzieren.

 Was auf dem Platz passiert kann analog zu Prozessen in der Popmusik verstanden werden, wo immer schon - selbst in der Oper - die zu arrangierende Sound- und Zeichenmaterie im Werden der Zeit oder als Werden der Zeit sich neu anordnet, Bezüge herstellt, neue Ähnlichkeitsbeziehungen schafft, Kommunikationen und Samplings in immer neuen Produktionstechniken hörbar werden lässt. Alles, was sich abschottet, stirbt und wird allenfalls noch in dörflichen Musik- oder städtischen Schützenvereinen als Marsch oder als Polka gespielt. Dabei ignorierend, wie tief sowohl keltische als auch Musiken aus Sinti- und Roma-Kulturen, oft mit jüdischen Traditionen gemixt, immer schon auch das prägen, was in Bierzelten zu hören ist oder auf der Fiesta in Spanien, bei Volkstänzen in Ungarn gespielt wird.

 Das sind Zeichen, die von der EM im Rahmen des Fußballs, immer ein hochkommerzielles Unterfangen, ausstrahlen. Und das auch noch in pinkt Trikots. In der nun abzuspeichernden und in Archiven für teure Lizenzen lagernden Zeichenmaterie werden diese Bilder auf kollektive Erinnerungen einwirken, affektiv angereichert und unabwendbar. Es entstehen so neue Ähnlichkeitsbeziehungen in Wahrnehmungen. Weil Zeit eben Werden ist, kein VAR-Standbild mitsamt Ball-EKG.

 

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Kategorie Medien

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