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🎙 ADHS an der Stimme erkennen?

ADHS an der Stimme erkennen ?
ADHS an der Stimme erkennen?

🎙 ADHS an der Stimme erkennen? Klingt gut – ist es aber (noch) nicht

Stell dir vor, man könnte ADHS einfach aus der Stimme heraushören – ganz ohne Fragebogen, Diagnostik-Marathon oder mehrstündige Gespräche. Eine aktuelle Studie aus Berlin hat genau das versucht: mit KI, Algorithmen und fast 1000 Sprachproben. Das Ergebnis? Interessant, aber auch ernüchternd.

Die Grundidee ist bestechend einfach: Menschen mit ADHS sprechen anders – impulsiver, lauter, oft sprunghafter. Ihre Stimme trägt den Stress nach außen, spiegelt das innere Chaos oder die motorische Unruhe. Und tatsächlich: In der Studie von von Polier et al. (2025) ließ sich ADHS aus 2–3 Minuten freiem Sprechen plus Zählaufgabe mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erkennen – anhand von Lautstärkeverläufen, Pausenmustern und Sprechmelodie.

Das klingt nach Science Fiction, ist aber Realität. Nur leider keine besonders treffsichere.

Denn so vielversprechend das Ganze klingt – die nackten Zahlen holen uns auf den Boden zurück:
Die AUC, also die Gesamtgenauigkeit, lag bei 0,77. Das ist ordentlich, aber kein Gamechanger. Bei jungen Frauen unter 32 sogar bei 0,87 – wow! Aber bei Männern über 32? Nur noch 0,59. Also: gerade mal knapp besser als Würfeln.

Und auch die Unterscheidung von ADHS zu anderen psychischen Störungen, etwa Depressionen oder Angststörungen, war eher schwach: AUC 0,60. Mit anderen Worten: Das Tool erkennt zwar ein Problem – aber nicht, welches.

Und mal ehrlich: Was hier gemessen wird, hören wir doch sowieso

Wer schon mal mit einer klassischen ADHS-Person gesprochen hat, erkennt den „ADHS-Stil“ meist sofort:
Diese energiegeladene, manchmal überdrehte Sprechweise, die kaum Pausen kennt. Diese Lautstärke. Dieses ständige Ausschweifen. Das ist keine Magie – das ist Alltag in der ADHS-Sprechstunde.

Brauchen wir dafür eine KI? Vielleicht. Aber wohl eher nicht, um die Offensichtlichen zu erkennen.

Denn genau hier liegt das Problem: Was die Maschine erkennt, erkennt die erfahrene Psychologin auch.
Was die Maschine nicht erkennt, sind die Stillen. Die Strukturieren. Die Angepassten. Die Frauen mit High-Functioning-Maskerade, die Männer mit internalisiertem Stress, die „Unauffälligen“, die trotzdem jeden Tag kämpfen. Genau diese Menschen gehen auch durch diesen Algorithmus durch wie durch ein Sieb.

Die wahre diagnostische Herausforderung liegt nicht bei denen, die laut sind – sondern bei denen, die leise leiden.

Wer auffällt, bekommt Hilfe. Wer funktioniert, wird übersehen. Das war schon immer so – und dieser Algorithmus ändert daran nichts. Vielleicht verstärkt er sogar diesen Bias.

Natürlich ist es faszinierend, dass die Stimme als digitaler Fingerabdruck für psychische Zustände dienen kann. Und natürlich wünsche ich mir mehr objektive Marker in der Diagnostik. Aber der Sprung von „spannend im Labor“ zu „hilfreich in der Praxis“ ist ein großer.

Mein Fazit:

  • Die Sensitivität ist mittelmäßig. Die Spezifität auch.

  • Typische ADHS-Stimmen erkennt man meist auch ohne Algorithmus.

  • Bei untypischen Verläufen bleibt die Stimme stumm.

  • Eine klinische Stimme sagt mehr als tausend Datenpunkte.

Quelle:

von Polier G.G. et al. (2025): Exploring voice as a digital phenotype in adults with ADHD.
Scientific Reports, 15:18076. https://doi.org/10.1038/s41598-025-01989-x (Opens in a new window)

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