25.11. 2023 - Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen
Meine schriftliche Abrechnung mit dem deutschen, misogynen Patriarchat und einer Bitte an unsere Gesellschaft.
Triggerwarnung: im folgenden Beitrag geht es um physische, psychische und sexualisierte Gewalt an Frauen, Suizidversuche und versuchten Femizid!
Wo soll ich anfangen, zu diesem Tag schießen mir tausende Gedanken durch den Kopf! In meinem Magen grummelt ein Wutball, der endlich an die frische Luft muss. In den vergangenen Jahren gab es für mich wiederholt die Momente, in denen ich meine Abrechnung mit dem deutschen, vornehmlich weißen, misogynen Patriarchat niederschreiben wollte. Dann kamen die Schreibblockaden, ach, wen interessiert das schon, ich bin auch nur eine von vielen.
So, jetzt müsst Ihr, wenn Ihr meinen Bericht weiterlest, aber da durch! 2023 ist das Jahr, in dem ich meine sehr ehrlichen Gedanken und Erfahrungen zum Thema Gewalt an Frauen veröffentliche. Nur so viel vorweg, es wird privat und ein kleiner, großer Abgrund wird sich auftun. Du kannst Dich also jetzt entscheiden, umzudrehen oder Du begibst Dich zusammen mit mir auf meine persönliche Gewalterfahrungs- und Heilungsreise, die mit mehreren Wünschen an die Gesellschaft und hilfreichen Links zu dem Thema endet.
Zuallererst stelle ich eine Frage in den Raum, die mich seit meiner Jugend umtreibt. Wie kann es sein, dass sich eine große Masse der allgemeinen deutschen Gesellschaft, vor allem aber Rassisten und rechtspopulistische Anhänger:innen der AFD, NDP, Neue Rechte, such sie Dir aus, hinstellen und ernsthaft behaupten, dass die da draußen, die »Fremden«, die hier ins Land kommen, unsere Frauen vergewaltigen, angreifen und umbringen? Das reicht natürlich nicht. Jetzt kommen für sie noch transgeschlechtliche/transidentitäre Menschen dazu, die Herr Hilse (AFD) kürzlich im Bundestag als verkleidete Männer beschrieben hat, die in unseren angeblichen »Schutzraum Frau« eindringen und wir deshalb noch seltener angstfrei durch deutsche Städte gehen können. Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte.
Wo kommt meine Wut und diese Frage her?
Ich allein, in meiner wirklich kleinen »biodeutschen« Familie kann VIER Männer aufzählen, die entweder/oder/und sexualisierte, psychische, physische Übergriffigkeit bis Gewalt ausgeübt UND sogar einen Femizid begonnen, glücklicherweise aber nicht beendet haben, sonst wäre ich vermutlich mit 11 Jahren eine Halbwaise geworden. Ach, fast schon viel früher, mit 4 Jahren, als meine Mutter, wie viele andere auch, mit akuten Morbus Crohn Beschwerden als psychosomatisch erkrankt bewertet wurde, bis es zu einer lebensrettenden Not-OP kam. Lest diese Aussage gern erneut. Das muss erst einmal ankommen.
Es geht noch weiter. Betroffen von dieser Gewalt unterschiedlichster Art sind alle Frauen, ich eingeschlossen, in meiner Familie. Selbst in Beziehungen, die nach außen hin liebevoll schienen, zeichneten später aufgetauchte Briefe ein anderes Bild. Überdies habe ich sexuelle Übergriffigkeit in meinem engen Freundeskreis erfahren und mich aus Scham und Schuldgefühlen nicht getraut, in dem betroffenen kleinen Kreis darüber zu sprechen, bis der Täter verstorben war. Außerdem kenne ich in meinem Freundeskreis einige Frauen, die von einer Vergangenheit an sexueller Gewalt in ihrer Familie betroffen sind. Aus meiner Perspektive heraus gefragt, ist Gewalt an Frauen so normal wie das Glas Alkohol zum Feiern?
Allein meine eigene Erfahrung und dann die offensichtlichen Statistiken widerlegen doch schon diese verblendeten Meinungsäußerungen dieser vermeintlichen deutschen Gutbürger:innen!
Es gibt gar nicht so viele Männer mit zeitgenössischer Migrationsgeschichte in Deutschland, wie es Frauen mit oben genannten Gewalterfahrungen gibt.
Können wir also endlich mit diesem ausgelutschten und unehrlichen Othering-Narrativ jeglicher Art aufhören, dass die da draußen, nur nicht wir, eine Gefahr für in Deutschland lebende Frauen sind? Wie schon im ersten deutschen Nachkriegsfilm 1946 betitelt »Die Mörder sind unter uns«.
Können wir überdies mutig Aufklärungsarbeit betreiben und hinter unseren eigenen „deutschen“ Türen kehren und in den offenen Diskurs gehen? Denn nur was sichtbar gemacht und benannt wird, existiert! Und nein, ich bin trotz alledem keine Männerhasserin, sondern eine solide Befürworterin einer gleichberechtigten, inklusiven und friedvollen Gesellschaft. Meine Kritik gilt allein dem toxischen, offensichtlich von Gewalt getriebenen Patriarchat, dessen Klauen sich tief in unserer Gesellschaftsstruktur festgekrallt haben. Hashtag Till Lindemann oder auch die Stellungnahme von Friede Merz zum Fall »Machtmissbrauch im Deutschen Jazz und an Musikhochschulen«.
Um also die Schattenseiten aufzudecken, braucht es eine Unrecht benennende Sprache und natürlich auch die eigene Erkenntnis, dass das, was man erfahren hat, 1. eine Gewalterfahrung ohne Konsens war und 2. ggf. eine Straftat war.
Das ist schon eine tiefgreifende Selbsterkenntnis für mich gewesen, wie wirksam das jahrtausendealte Gaslighting des Patriarchats auch mich viele Jahre zum anhaltenden Schweigen gebracht hat. Dabei bin ich doch die, die im Außen immer als starke Frau, die für sich und andere einsteht, gelesen wird.
Natürlich, bei vielen anderen Themen war und bin ich das auch. Nur bei dem kleinen, großen Thema Gewalt an Frauen hat mir der Mut gefehlt. Wenn ich es richtig betrachte, war es nicht nur der Mut, sondern auch der Blick dafür, dass das, was ich erfahren habe, inakzeptabel war. Das ist genauso eine Herausforderung wie zu erkennen, dass man berechtigt ist, Hilfe zu erhalten.
Es hat viele Jahre gedauert, bis ich mir psychotherapeutische Hilfe zugestanden habe. Viele Jahre habe ich mir erzählt, andere Menschen haben viel schlimmere Dinge erfahren. Auch das ist eine Prägung, und bedauernswerterweise sehr verbreitet in unserer Gesellschaft. Denn dieses Vergleichen schießt nicht nur ungerecht und verletzend Pfeile ins Außen, sondern auch in unsere eigenen Herzen und Seelen. Da macht also unsere Leistungs – und Wettkampfgesellschaft nicht einmal Halt vor Erfahrungen von Gewalt und Gefühlen von Schmerz. Denn ja, es wird immer die geben, denen es besser oder schlechter geht und erging! Trotzdem, das, was Du erfahren hast, kann auch sehr schlimm gewesen sein, und Du darfst Hilfe wahrnehmen. Wir müssen mit diesem subtilen Wettkampf aufhören, wer besser und länger Ungerechtigkeit und Gewalt aushält und funktioniert ist stark. Nein! Wer Verletzlichkeit zeigt, Ungerechtigkeit aufzeigt, sich Täter:innen stellt, um Hilfe fragt und diese annimmt, ist stark!
Es gab einen Moment in meinem Leben, da habe ich als Jugendliche aus der Verzweiflung heraus um eine Familientherapie gebeten. Doch als gängige Antwort kam nur, wir haben keine Probleme, wir gehen nicht in die Klapsmühle. Wo dieser Spruch im Kontext unserer Geschichte und Frauen in Psychiatrien herkommt, ist mir unterdessen bewusst. Dieses alte Trauma hat nicht nur mich über ein Jahrzehnt begleitet und Zugang zu professioneller Hilfe verwehrt. Auch wenn ich es im Herzen besser wusste, bin ich viele Umwege gegangen, bis ich das erste Mal eine eigene Therapie wahrgenommen habe. Schlussendlich kamen dann zwei Selbstzahler Psychotherapie-Jahre mit kaum einer Sitzung ohne Tränen. Selbstzahler Psychotherapie deshalb, weil meine seelische Not so groß war, aber unser staatliches psychotherapeutisches System in Deutschland eklatant überfordert und veraltet ist.
Vor dem eigentlichen Therapiebeginn habe ich mich erst einmal oberflächlich meinem eigenen Schmerz gewidmet, indem ich mich zur Heilpraktikerin für Psychotherapie und zur Traumatherapeutin ausbilden ließ. Zumindest konnte ich mir somit viele Probleme in meiner Familie und schlussendlich meine eigenen Probleme und Hindernisse erklären. Und ich habe mein starkes Bedürfnis nach analytischem Verständnis befriedigt. Diese Weiterbildung kam genau zur richtigen Zeit, um die zwei Suizidversuche meiner Mutter nachzuvollziehen und verkraften zu können. Um eine ungesunde und teils gewaltvolle Partnerschaft zu beenden, hat es jedoch nicht gereicht. Das musste der damalige Partner übernehmen. Mein Glück.
Dieser theoretische Ansatz ist meiner Meinung nach nur eine Betrachtungsweise aus einer Meta-Ebene heraus, also eine abgespaltene Sicht auf sich, die nicht ganz so schmerzhaft ist. Zugegeben, die Erkenntnis und das Verständnis für Dinge ist der erste Schritt zur Heilung. Eine Therapie jedoch geht ans Eingemachte, da gibt es, wenn man es zulässt, kein Entrinnen mehr in die tiefen Wunden zu schauen. Der nächste schwierige und große Schritt jedoch ist, Mitgefühl für sich selbst empfinden zu können. Es fällt uns nichts leichter, als Probleme zu benennen und Kritik zu äußern. In der Therapie wurde mir erst bewusst, wie ich mir selbst die Schuld für Taten anderer zuschiebe, mir unberechtigte Vorwürfe mache und abermals auf mich selbst draufhaue. Im Laufe dieser Zeit konnte ich mir endlich zugestehen, dass ich alles, was in meiner Macht und Kraft war als Kind, Jugendliche und junge Frau gemacht habe und mehr einfach nicht möglich war. Allein diese Erkenntnis war schon eine große Belohnung. (Am Ende gibt es zwei Bücher-Links, die mir zum Thema Scham und Schuld sehr geholfen und die Augen geöffnet haben.)
Aber es kamen noch mehr Erkenntnisse, dass wir uns Täter-Opfer-Umkehr widersetzen sollten und ich heute mit diesem veränderten Bewusstsein und Alter einen anderen Handlungsspielraum habe und tatsächlich etwas tun kann. Dass ich als Tochter unter Tränen meine Mutter anrufen, mein Mitgefühl für ihre schmerzhafte Vergangenheit aussprechen und anerkennen, und für diesen kleinen aber wichtigen Moment unsere gemeinsame defizitäre und ungesunde Vergangenheit zur Seite legen kann.
Was bewegt mich also dazu nun doch meine Erfahrung mit Euch zu teilen?
Weil viele einfach mehr sind und die Erfahrungsberichte anderer Frauen, sowie die offensichtlichen Statistiken mir geholfen haben mich zu engagieren. Eigentlich zu realisieren, ich bin mit diesem alten Schuld- und Schamgefühl und Angst davor zu haben, Täter zu benennen und zur Rechenschaft zu ziehen, nicht allein. Denn so wurden wir Jahrtausende geprägt: Frauen seien zum einen schuld an der Übergriffigkeit der Männer und es sei, zum anderen, völlig normal, dass Männer unterschiedlichste Arten von Gewalt an Frauen ausüben. Wie sollen wir Frauen das als nicht rechtens empfinden und uns wehren, wenn das gewaltvolle Verhalten banalisiert wird? Uns immer wieder erzählt wird, Männer sind nun mal so, mach Dir nichts draus, ist in meiner Familie auch vorgekommen, Eltern können auch mal Fehler machen und so weiter und so fort. Genau diese und ähnliche Argumente habe ich alle in meinem Familien- und Bekanntenkreis zu hören bekommen. Und zwar nicht nur von Männern, sondern auch von den Frauen, denn sie haben es auch nicht anders gelernt und tragen dieses Gewaltsystem mit.
Auch ich habe über Jahre hinweg zum Erhalt dieses Gewaltsystems beigetragen und meine eigenen Erfahrungen dieser Art entwertet.
Damals habe ich es immerhin geschafft, den Kontakt zu Täter:innen abzubrechen. Mut zum Aufstand und diese zur Rede und Antwort zu stellen, daran hat es noch gefehlt.
Doch nach meinem langen Informations- und Heilungsweg hat sich endlich und gleichzeitig traurigerweise genau dieser Mut und Tatendrang gezeigt, als jüngst in meiner Familie wieder so eine sexuelle Übergriffigkeit ans Tageslicht kam. Manchmal erwische ich mich bei dem Gedanken, dass ein Fluch über meiner Familie diesbezüglich hängt. In diesem Fall ist mir ebenso bewusst geworden, wie wir als Familie Sexismen in Form von Witzen und Sprüchen nie hinterfragt haben, sondern einfach nur stumm und peinlich berührt mitgetragen haben. Weil wir es einfach alle nicht besser wussten.
Zurück zum Text. Wenn wir uns als Gesellschaft aus dieser verbalen und physischen Gewaltspirale hinausbewegen wollen, dann müssen wir noch transparenter werden und Licht ins Dunkel bringen. Notiz an alle, die Folgendes schon mal gedacht oder sogar geäußert haben, dass auf einmal alle depressiv oder neurodivers seien, Probleme haben und zu irgendeiner #metoo Gruppe gehören.
Ich bin mir sicher, das war auch vor 100 Jahren schon so, nur hat man das entweder verdrängt, sich lediglich im stillen Kämmerlein ausgetauscht, oder mutige Menschen, die sich mal geäußert haben, mundtot gemacht. Logisch kommt es einem heute so vor, als würde es auf einmal unverhältnismäßig viele Betroffene geben.
Ich plädiere für ein anhaltendes, weiterwachsendes, offenes und authentisches Miteinander in Familien, unter Freundschaften und bei professionellen Anlaufstellen. Denn das hätte ich mir für meine Familie und mich gewünscht. Lasst uns darüber sprechen, uns bestärken und austauschen und letztlich helfen. In diesem Fall ist Schweigen alles andere als Gold! Mittlerweile gibt es sogar Handzeichen für Betroffene von häuslicher Gewalt, die wir alle kennen sollten. Lasst uns übergriffige und sexistische Äußerungen in heterogenen Gesprächsrunden ansprechen und über toxische Männlichkeit sprechen. Zu letzterem empfehle ich das https://www.detoxmasculinity.institute/ (Öffnet in neuem Fenster)
Wenn es nach diesem Beitrag auch nur eine Person mit einem AHA-Moment gibt, die nun aufsteht und etwas gegen Gewalt an Frauen dieser Welt unternimmt, sei es für sich selbst oder für andere, dann ist schon sehr viel getan.
Lieber eine als keine, gemeinsam sind wir stark.
Berlin, 25.11.2023
Zoey Zoley
PS: Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich in diesem Beitrag über meine persönliche Erfahrung und Weg zur seelischen Heilung geschrieben habe. Dies ist in keinerlei Hinsicht ein Allheilmittel für seelischen Schmerz. Bitte sucht Euch bei Bedarf immer professionelle Ansprechpartner:innen und lasst Euch medizinisch durchchecken. Es gibt multiple Ursachen für Neurodiversität und psychische Krankheiten!
Weiterführende Links zu dem Thema: