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Fast normal

Impfnachweis? Hier kannst du dich eintragen. Die Maske darfst du absetzen, sobald du einen zugewiesenen Platz hast. Ich trage mich ein, gehe durch, hole mir ein Bier und suche nach einem zugewiesenen Platz. Es ist alles wie immer. Als ob ich erst letzte Woche hier zum letzten Mal war und nicht letztes Jahr. Die gleichen Leute an der Bar und fast die gleichen Gäste. Zumindest sahen sie schon immer so aus. Vertraut, offen, in die Augen schauend. Witze, jemand hat seinen Pulli verloren … jede scheint hier jeden zu kennen, was nicht unbedingt stimmen muss.

Lunacy. Zum ersten Mal seit einem Jahr bin ich wieder hier. Eine kleine Kneipe auf dem Berg. Ich liebe sie und kenne sie schon lange. Hier läuft die beste Musik, die man in anderen Kneipen auf dem Hamburger Berg nicht unbedingt hört: Metal und Punk. Hier kann man rauchen, kickern und sogar tanzen. Auf der vermutlich kleinsten Tanzfläche auf dem Kiez. Heute allerdings nur mit Maske.

Stefan-d-move legt richtig gutes Zeug auf und ich freue mich über Tool und Deftones. Die Kickerecke ist noch leer. Ich frage mich, ob heute noch jemand kommt und werde nicht enttäuscht. Gegen 12 kommen auf einmal lauter Bekannte und es wird voll um den Kickertisch. 

Ich setze mich zu den anderen, jemand drückt mir einen Kugelschreiber in die Hand. Da ich keine Zeichenblöcke mehr mit mir trage, fehlt mir eine Zeichenunterlage. Der Kugelschreiber fühlt sich warm und glatt an mit seiner Holzummantelung. Ich halte es nicht aus und zeichne die Leute am Kickertisch auf meinem Handrücken. Als mir der Platz ausgeht hält Gevert mir seinen Handrücken vor und ich zeichne den DJ mit dem Type-O-Negative-Shirt darauf. Dann kommt Marks Hand, die von Marc auch ;) dann eine noch von einem Typen, den ich nicht kenne, wahrscheinlich auch Marc/k :D. 

So entsteht eine hübsche Serie, die beim ersten Händewaschen schon wieder weg ist. Zum Glück halte ich sie noch auf meinem Smartphone fest. 

Lunacy gibt es auf dem Hamburger Berg schon seit 1998. Da bin ich gerade erst nach Hamburg gezogen. Ich kenne den Laden seit 2007. Dort habe ich sogar gelegentlich für mein Diplom zum Thema Chaos und Kreativität geschrieben. Es gibt heute noch Notizen, Gedichte und Zeichnungen, die dort entstanden sind. Herzschmerz. Einsamkeit. Musik. Es war ganz schön aufregend, sie wieder heraus zu kramen. Und hier sind sie: 

11.06.2007 … get down with the sickness … komm doch vorbei. Schau rein. Ganz kurz. Berührung mit dem Ellenbogen. Ein fremder Ellenbogen. Tolle Musik. Sitze an der Bar. Trinke Becks. (…) Ein Typ hat sich gerade einen Pflaster auf den Finger geklebt. (…) Sie trinkt Wasser und sieht etwas gestresst aus — nein, nicht gestresst, geschäftig. Die Leute drängeln sich an mir vorbei und wollen einen Doppelten. Zeichne Flecken auf dem Tresen.

04.01.2007 … und wieder hier. Und wieder rege ich mich auf. Tja, wieder in Hamburg, wieder du (…) hat sich wohl nichts verändert. Und die Musik ist immer noch gut. Und ich bin immer noch schlecht drauf. Thorsten ist hier, sonst kenne ich keinen … na ja, die Jungs von Deftones und von Chili Peppers und Three Doors Down vielleicht drei Bier. Keine Wohnung. Kein Zimmer. Kein Zuhause … Was schreist du so Blödmann!?!?!?

21.05.2008 … Asche auf der Hose. Lunacy. Schon wieder und es nimmt kein Ende. Eigentlich will ich jetzt zeichnen, aber es ist noch zu offensichtlich. Die Leute sollen sich erst daran gewöhnen, dass ich hier im Fenster sitze und rauche und sie beobachte „Hallo, na!“ Die Musik kenne ich nicht. Ist auch nicht gut „Tschüß Lene!“ — „Tschüß“. Mann, ich will Kickern, aber es ist keiner da und die wenigen gehen auch noch. Der Rauch steigt mir in die Nase und ich muss wieder heulen. Chips, die aus einer geräuschvollen Tüte in eine Glasschale gekippt werden. Immer leiser werdende Musik. Melancholie, sie. Dieser Ort ist erfüllt davon. Melancholie und Faulheit. Polizei. Zwei Polizisten, die gerade vorbei gekommen sind. Astra.  (…) Der Tag ist zu Ende. Der Tag fängt gerade an.

Tschüß und bis nächste Woche!

Julia Zeichenkind

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