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Insel zwischen Vergangenheit und Zukunft

Eine heisere und zugleich sehr weiche Stimme erfüllte die warme Luft. Die Bühne war klein und so auch das Publikum. Oder es wirkte einfach so, wegen der Weite, die dort herrschte. So mag ich das am liebsten.

Es war ein ungewohnt warmer und sonniger Septembertag in Wilhelmsburg. Auf dem Gelände eines ehemaligen Betriebshofs haben Künstler:innen Aktivist:innen und Schüler:innen eine kleine Oase der Selbstversorgung, Bildung und Zukunftsvisionen errichtet. Auf dem weitläufigen Grundstück findet man eine große Werkstatthalle, in der die Bühne und dahinter Werkräume des Alternation e.V. untergebracht sind. Eine ehemalige Garage, Schrotthaufen, verrostete Kräne, uralte riesige Bäume und ein Obst- und Gemüsegarten mit verwinkelten, überwucherten Wegen. An einem ausrangierten Feuerwehrwagen hingen junge Künstler:innen ihre Bilder und Drucke auf. Viele kleine Nischen mit Schaukeln, Ruheplätzen und Beeten. Aus der Kapitänsbrücke eines Schiffs wurde eine kleine Bibliothek errichtet. Darüber hängt ein prächtiger schwarzer Kronleuchter aus alten Fahrradketten. In der Mitte des Platzes — eine große, runde Feuerstelle. 

Isabella hat uns zu dem  „Südwertsfestival“ auf dem Gelände der Minitopia in der Georg-Wilhelm-Straße eingeladen, weil sie dort einen Auftritt hatte. Ihre sehnsuchtsvolle Stimme, ihre sehr persönlichen Texte fügten sich perfekt in die unbehandelte Landschaft. Nebenan grasten Pferde und galoppierten freudig bei jedem Applaus durch die riesige Wiese.

Es gab aber nicht nur Musik und Ruhe. Ich freute mich wie ein Kind über unsere Croques aus buntem Brot, die mit lokalem Gemüse und der hiesigen Gartenernte gemacht wurden. Rotes und gelbes Brot mit bunten Salaten, Soßen und Grillgemüse — megalecker. 

Beim Herumlaufen und Zeichnen entdeckte ich kleine Tafeln zwischen und in den Beeten, die mir erzählt haben was darin wächst und lebt. In einer alten Weide versteckte sich ein Baumhaus mit Schaukeln und Hängematten darunter. Eine Terrasse dahinter, die den Blick auf die Weide mit den Pferden eröffnete. Ein kleiner gelber Wellensittich setzte sich zwischen die Leute auf die Steine der Feuerstelle. Das hat mir allerdings etwas Sorgen gemacht, denn Wellensittiche sind ja nicht gerade gewöhnliche Wildvögel in diesem Lande … aber gerade durch ihn wirkte die Szenerie wie eine Märchenkulisse. 

Seit ich die Elbinsel Wilhelmsburg kenne, ist sie für mich ein Ort der Verwandlung gewesen. Das erste Mal habe ich sie durch das Kunstprojekt Hafensafari kennen gelernt. Es wurden dabei „Orte im Wandel“ von Künstler:innen für das Publikum begehbar und erforschbar gemacht. Und es gibt hier — in dem flächenmäßig größten Stadtteil Hamburgs — sehr viel zu entdecken. Die industrielle Vergangenheit ist noch nicht ganz weg gezogen und die Zukunft kann man nur erahnen. Hier fühle ich mich fast wie zuhause in Kasachstan, Ende der 90-er Jahre.

Auf dem Radweg zurück sind wir bei der alten Honigfabrik in einem Café angehalten. Nebenan, auf einem Campingplatz breitete ein alter Mann jede Menge alte Möbel, Sachen und kaputte, bunte Gegenstände aus. Ich habe mich nicht getraut nachzufragen. Auch nicht, als er ganz laut alte russische Popmusik, die ich aus meiner Zeit in der ehemaligen Sowjetunion kenne, angemacht hat … oder vielleicht deswegen. Es war schon ein bizarres Gefühl, diese uralten Schnulzenlieder hier zu hören. 

Unser Radweg von Wilhelmsburg nach Hamburg führte uns durch Parks, Brachen, Hafen- und Industriegebiete und teilweise verwahrloste, noch bewohnte Wohnblöcke. Ab und zu tauchten Kirchtürme der hamburger Hauptkirchen oder die Spitzen der Elbphi auf. Auf der Brücke über einem Kanal sah ich ganz klein die beiden Michel nebeneinander — die Michaliskirche und den Telemichel.

Zurück durch den alten Elbtunnel fand ich mich in meiner Realität wieder. Nur die beiden einzigen Zeilen aus Isabellas Lied, die ich mir merken konnte, laufen bis jetzt immer wieder in meinem Kopf ab:

Tschüß und bis nächste Woche

Julia Zeichenkind

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Minitopia:
Georg-Wilhelm-Straße 322, 21107 Hamburg
https://minitopia.hamburg

Isabella Francine
https://soundcloud.com/isabella-francine

Café Pause
In der alten Honigfabrik
Industriestraße 125, 21107 Hamburg

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