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Was ist das eigentlich?

Guten Morgen,

diese Woche war viel los bei der AfD:

Aussagen haben in diesem Fall schnelle Konsequenzen gehabt.

Viel Freude beim Lesen, bleibt achtsam miteinander!

Um was geht’s?

“Zuwanderer, die auf Dauer hier leben wollen, müssten sich einer gewachsenen, freiheitlichen deutschen Leitkultur anpassen.”

Das sagte (Öffnet in neuem Fenster) der damalige Fraktionsvorsitzende der Union, Friedrich Merz, im Jahr 2000 der Rheinischen Post (Öffnet in neuem Fenster).

Es war die politische Geburtsstunde des Begriffs, um dessen Bedeutung seither immer wieder gestritten wird. 2018 hatte deshalb der Spiegel geschrieben: “Leitkulturdebatte - das Wort, das niemals stirbt. (Öffnet in neuem Fenster)

Zuletzt hat auch die AfD den Begriff in ihr Europawahlprogramm geschrieben.

Was mit Leitkultur gemeint ist, darum geht es diese Woche.

Wer spricht da?

Es ist Luisa Neubauer, Sprecherin von Fridays for Future, die in der ZDF-Dokumentation über Friedrich Merz “Mensch Merz – der Herausforderer (Öffnet in neuem Fenster)” sagt, was derzeit alle zu denken scheinen: “Muss ich jetzt etwas Nettes sagen, der Sache wegen?”

“Die Sache” - das ist die AfD. Die soll geschwächt werden und wegen ihrer Nähe auf dem Parteienspektrum soll es die CDU sein, die der AfD politisch das Wasser abgräbt. Die CDU und ihr Chef Friedrich Merz.

Merz wurde 1955 in Brilon (Öffnet in neuem Fenster) im Hochsauerland als Ältester von vier Geschwistern geboren. Sein Vater führte als Richter am Landgericht Arnsberg zwei große NS-Prozesse. Sein Großvater war Bürgermeister von Brilon und Mitglied der NSDAP.

Friedrich Merz ist ebenfalls Jurist und seit seiner Jugend politisch aktiv als Vorsitzender der Jungen Union in Brilon gewesen. 1972 trat er in die CDU ein. Auf Vorschlag von Wolfgang Schäuble wurde Merz 1998 zum stellvertretenden, zwei Jahre später zum Fraktionsvorsitzenden der CDU. Fast zeitgleich begann auch sein innerparteilicher Machtkampf mit Angela Merkel. Sie übernahm den Parteivorsitz 2000 - demselben Jahr, in dem Merz viel Kritik erfuhr, als er den Begriff der “Leitkultur” einbrachte.

Die Rivalität zwischen Merkel und Merz zeigte sich unter anderem im Kampf um die Spitzenkandidatur zur Bundestagswahl 2002. Doch weder Merz noch Merkel kandidierten am Ende - sondern Edmund Stoiber.

Merz eckte mit seinen Vorschlägen an: Von der Steuererklärung, die auf einen Bierdeckel passen sollte, bis zur Kritik am Kündigungsschutz war er immer wieder ein Bestandteil von Kontroversen innerhalb der CDU. Als 2007 eine von ihm abgelehnte Gesundheitsreform unter der Regierung von Merkel verabschiedet wurde, kündigte er seinen Rückzug aus der Politik zum Ende der Legislatur an.

Mitten in der Weltwirtschaftskrise legte er mit der Streitschrift “Mehr Kapitalismus wagen” 2008 ein Plädoyer für mehr Wettbewerb und weniger staatliche Eingriffe vor. Und 2010 beklagte er sich in seinem Buch “Was jetzt zu tun ist. Deutschland 2.0” - gemeinsam mit Wolfgang Clement von der SPD - über die fehlende Reformfähigkeit der Politik und die mangelnde Bindekraft von Parteien.

Man kann nicht sagen, dass sich Merz seit seiner Rückkehr in die Politik 2018 nicht bemühen würde, diese Bindekraft - zumindest zu einem bestimmten Klientel - wiederherzustellen. Immer wieder fällt er mit mindestens kontroversen Aussagen auf: Er rückte Homosexualität in die Nähe von Pädophilie, bezeichnete sexuelle Orientierungen als Lebensentwurf (Öffnet in neuem Fenster)und machte kürzlich Schlagzeilen mit der Aussage, Asylbewerber:innen würden sich in Deutschland die Zähne machen lassen (Öffnet in neuem Fenster), während Deutsche auf einen Termin warten müssten.

Diese Woche ist er zum zweiten Mal zum Parteivorsitzenden der CDU gewählt worden und gilt als wahrscheinlicher Kandidat in der Kanzlerfrage. Die könnten ihm nur noch Hendrik Wüst aus NRW oder Markus Söder von der CSU aus Bayern streitig machen.

Laut ARD DeutschlandTrend (Öffnet in neuem Fenster) im Mai sind 37 Prozent der Wahlberechtigten zufrieden mit der politischen Arbeit von Markus Söder, 29 Prozent sind zufrieden mit der politischen Arbeit von Hendrik Wüst und 27 Prozent sind zufrieden mit der politischen Arbeit von Friedrich Merz.

Nicht zufrieden mit der politischen Arbeit von Merz sind 63 Prozent, 54 Prozent sind nicht zufrieden mit der politischen Arbeit von Söder und 28 Prozent sind nicht zufrieden mit der politischen Arbeit von Wüst.

Die Strategie dahinter

Im Jahr 2000 (Öffnet in neuem Fenster) sagte Friedrich Merz, dass zu “Leitkultur” die Überzeugung zähle, dass auch “Zuwanderer einen eigenen Integrationsbeitrag” leisten und sich “an die in diesem Land gewachsenen kulturellen Grund-Vorstellungen” anpassen müssten.

Fast ein Viertel Jahrhundert, nachdem er den Begriff politisiert hat, fällt Merz selbst eine konkrete Definition offenbar noch immer schwer. Vor einigen Wochen bezog er sich in einer Rede (Öffnet in neuem Fenster) über die Notwendigkeit einer Leitkultur auf eine Aussage des ehemaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert:

“Wir bekennen uns zu einer vielfältigen, offenen, diversen Gesellschaft. Aber diese Gesellschaft braucht ein kulturelles Minimum. Wir brauchen etwas, das uns zusammenhält. Und zwar über den reinen Text unseres Grundgesetzes hinaus.”

Warum das so sein soll, erklärte er nicht.

Wichtig ist für Merz aber, dass Leitkultur zwingende Voraussetzung einer multikulturellen Gesellschaft ist, die er gutheißt. Er sagt, dass multikulturelle Gesellschaften für Aufbruch stünden, innovativ, vielfältig und spannend (Öffnet in neuem Fenster) seien - aber eine Leitkultur oder ein “kulturelles Minimum” bräuchten.

Die Abwesenheit einer Definition macht es möglich, den Begriff immer wieder aus dem Hut zu zaubern - stets in neuem Kontext. Das zeigt ein Zeitstrahl (Öffnet in neuem Fenster), den der Spiegel vor einigen Jahren mit Leitkultur-Aussagen von Union-Politikern bestückt hat.

Alexander Gauland, damals CDU, fragte beispielsweise, warum “eine anatolische Stadt so anders aussieht als eine deutsche oder französische, wenn es keine Leitkultur gibt?” und Edmund Stoiber, CSU, begründete seine Forderung, dass “Kathedralen größer als Moscheen sein müssen” damit, dass es “eine in Jahrhunderten gewachsene Leitkultur in Deutschland” gebe.

Im Dezember 2023 fügte der Publizist Andreas Speit in der taz der Liste ein weiteres Beispiel hinzu - dieses Mal von Friedrich Merz: “Kurz vor Weihnachten war es die CDU, die mal wieder eine Leitkulturdebatte entfacht hat. Einen Weihnachtsbaum zu kaufen, das sei ‘unsere Art zu leben’, erklärte Parteichef Merz, das gehöre zu ‘unserer kulturellen Identität’.”

👉 Das ist die erste Besonderheit: Der Begriff ist nicht definiert und bietet damit Spielraum, um strategisch Themen zu setzen, ohne sich inhaltlich festzulegen. Dabei ist eine gewisse Beliebigkeit zu erkennen, wenn etwa die Höhe eines religiösen Bauwerks oder die Dekoration zu Weihnachten mit Leitkultur begründet werden soll.

Das Interessante: Es gibt sogar ein Werk über Leitkultur. Geprägt hat den Begriff der Politikwissenschaftler Bassam Tibi. Er wurde kürzlich 80 Jahre alt. Zu diesem Anlass hat die Faz einen Artikel (Öffnet in neuem Fenster) über ihn geschrieben. Darin heißt es:

“Nach Tibis Definition sollte [die Leitkultur] ein transkultureller Konsens über Verfassungswerte sein und nicht das Synonym für Bier und Bratwurst, zu dem sie schnell herabsank. Dahinter stand die Überlegung, dass die Integration von Muslimen in den europäischen Pluralismus deren kulturelle Eigenarten achten und sie zugleich auf einen staatsbürgerlichen Konsens verpflichten müsse.”

Tibli dachte Leitkultur nicht als deutsche, sondern als europäische Idee. Er forderte laut der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (Öffnet in neuem Fenster) in seinem 1998 erschienenen Buch “Europa ohne Identität?” die Verbindlichkeit einer europäischen Leitkultur, die auf Demokratie, Laizismus (also der Trennung zwischen Religion und Staat), Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft basiert.

Laut dem Spiegel-Podcast “Stimmenfang (Öffnet in neuem Fenster)” hat sich Tibi zwischenzeitlich von der CDU-Vereinnahmung der deutschen Leitkultur distanziert. Im selben Podcast erklärt der Theologe Stephan Anpalagan, welches Ziel die CDU mit dem Begriff Leitkultur verfolgen könnte: “Das Konzept der Leitkultur hat etwas Bestechliches. Man hat das Gefühl, es gibt eine deutsche Kultur und die spielt in der Champions League. Und alle anderen Kulturen sind weiter unten.”

Zusätzlich halte man ein Mittel in der Hand, so Anpalagan, mit dem man Menschen, die zwar in Deutschland leben, das Gesetz achten, arbeiten und zur Mitte der Gesellschaft gehören würden, ausgrenzen könnte - indem man zwischen “richtigen” Deutschen und “integrierten” Deutschen unterscheide: “Ich glaube, das ist in einer Zeit der Transformationsprozesse, Kulturkämpfe, Identitätspolitik und dem Gefühl des Heimatverlusts sehr verführerisch.”

Ähnlich sieht das auch Lucas von Ramin, der den Bereich “Gesellschaftlicher Wandel” an der TU Dresden koordiniert. Er sagt im Interview mit dem MDR (Öffnet in neuem Fenster), dass sich die Idee einer Leitkultur “in der politischen und philosophischen Ideengeschichte schon ziemlich lange” finde. Problematisch werde es, wenn die Leitkultur in der Migrationsfrage genutzt werde um das “Wir” vom “die Anderen” abzugrenzen. Deshalb besitze der Leitkultur-Begriff, mit dem die CDU Politik mache, “populistische Elemente”.

👉 Zweitens kann der Begriff der Leitkultur also populistisch genutzt werden, um die eigene Kultur zu überhöhen und andere Menschengruppen ausgrenzen – selbst, wenn sie sich integriert haben.

Auch die Alternative für Deutschland hat sich mittlerweile den Leitkultur-Begriff zu eigen gemacht. Er erfüllt für sie viele Funktionen. Eine zeigt sich im aktuellen Europawahlprogramm (Öffnet in neuem Fenster), in dem die AfD der Europäischen Union vorwirft, dass die “millionenschweren kulturellen Rahmenprogramme der EU zu einer ideologischen Gängelung führen, die auf die ‘Vereinigten Staaten von Europa’ hinarbeitet und nationale Leitkulturen aushöhlt”.

Die AfD macht nationale Leitkulturen also als zur zwingenden Differenz europäischer Nationen. Nur mit einer Leitkultur können, so der Subtext, nationalen Identitäten bewahrt werden.

Auf ihrer Webseite beschreibt die AfD auch die “deutsche Leitkultur” und stellt sie als Gegensatz (Öffnet in neuem Fenster) von “Multikulturalismus” dar. Dieser Satz dürfte ein Überbleibsel aus einem früheren Bundestagswahlprogramm (2017) der Partei sein, in dem es hieß:

“Die Ideologie des Multikulturalismus, die importierte kulturelle Strömungen auf geschichtsblinde Weise der einheimischen Kultur gleichstellt und deren Werte damit zutiefst relativiert, betrachtet die AfD als ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit. Ihr gegenüber müssen der Staat und die Zivilgesellschaft die deutsche Identität als Leitkultur selbstbewusst verteidigen.”

Geht es nach der AfD, bedroht Migration den Fortbestand der Nation. Ihre Existenz hängt auch von der Verteidigung der deutschen Leitkultur ab.

Mittlerweile hat das die AfD abgeschwächt (Öffnet in neuem Fenster). Wahrscheinlicher Grund: Der Verfassungsschutz hat viele Leitkultur-Aussagen der Partei in seinem Gutachten als Anhaltspunkte aufgeführt, wieso die AfD verfassungsfeindlich sein könnte. Veröffentlicht hat den Bericht (Öffnet in neuem Fenster) bereits vor Jahren Netzpolitik. Darin erklärt der Verfassungsschutz, wie die AfD den Begriff der Leitkultur außerdem nutzt.

Dort (Öffnet in neuem Fenster) heißt es etwa, dass aus Sicht namhafter AfD-Funktionäre “Integration als unmöglich dargestellt wird” und “ein friedliches Zusammenleben mit ‘kulturfremden’ - insbesondere muslimischen - Zuwanderern nur durch absolute Assimilation an die deutsche Leitkultur” und “Loyalität zur neuen Heimat” erfolgen könne.

Die AfD unterscheidet explizit zwischen Integration und Assimilation. Der Verfassungsschutz schreibt dazu:

Forderungen nach vollständiger Anpassung stellen die freie Selbstentfaltung von Migranten grundsätzlich in Frage und berühren den Menschenwürdegehalt der einschlägigen Grundrechte. […] In Kenntnis der grundlegenden Zielrichtung der Partei, eine möglichst ethnisch und kulturell homogene Gemeinschaft in Deutschland zu etablieren, ergeben sich […] Verdachtssplitter für einen Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG.”

👉 Die Aussagen zeigen, dass die AfD das Konstrukt der Leitkultur zur Hierarchisierung von Kulturen und Völkern einsetzt. Gleichzeitig sieht sie es als potenzielle Strategie, um gezielt gegen Migrant:innen zu agitieren. In keiner Silbe erwähnt sie, dass auch Deutsche dagegen verstoßen könnten.

Diese Strategie hat zwei (drei) Schritte:

1️⃣ Zuerst wird der inhaltsleere Begriff der Leitkultur situativ gefüllt. Ein Beispiel dafür aus dem Verfassungsschutzbericht ist eine Aussage Alexander Gaulands, dass für ihn die “Umrundung der Kaaba, also die Ausübung eines zentralen muslimischen Rituals, ein Indiz für unzureichende Integration bzw. Assimilation” sei.

Deshalb ist es für die AfD auch so wichtig, dass sich die Leitkultur von feststehenden Gesetzen abhebt. Es gibt AfD-Politiker:innen, wie Marc Jongen, die die Leitkultur sogar über das Grundgesetz stellen. Der Verfassungsschutz schreibt: “Die Beschreibung Jongens, wonach das Grundgesetz Folge eines historischen Prozesses ist, der eine Vielzahl kultureller, religiöser und philosophischer Wurzeln in sich vereint, mag zutreffen. Allerdings leitet Jongen aus dieser Interpretation die Existenz einer inhärenten, unvergänglichen Leitkultur ab, die der rein juristischen Ausgestaltung des Grundgesetzes vorangehe.”

2️⃣ So kann die AfD Migrant:innen ein angebliches Fehlverhalten unterstellen und dieses Verhalten in einen unvereinbaren Widerspruch mit der deutschen Leitkultur setzen. In diesem Fall: Reist eine Person nach Mekka, um den zentralen Wallfahrtsort des Islam zu besuchen, verstößt sie sozusagen gegen deutsche Leitkultur.

3️⃣ Es gibt noch einen möglichen dritten Schritt. Dabei erhebt die AfD das Fehlverhalten Einzelner zum Sinnbild aller Migrant:innen. Das Ziel: Verstößt eine migrantische Person gegen die von der AfD umgedeutete Leitkultur, verstoßen alle Migrant:innen dagegen. So untermauert sie auch ihre grundlegende Ablehnung von Multikulturalismus.

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