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Kampfbegriff “Ethnische Wahl”

Guten Morgen,

du liest die mittlerweile 24. Ausgabe unseres Newsletters “Wie Rechte reden” und wir freuen uns, dass du dabei bist! 😊

Nach dem Duell “Höcke vs. Voigt” bei Welt-TV hatten noch weitere AfD-Politiker Auftritte in anderen medialen Produkten. So war der AfD-Fraktionsvorsitzende Tino Chrupalla am Sonntag bei Caren Miosga (Öffnet in neuem Fenster) und der Spitzenkandidat für die Europawahl, Maximilian Krah, sprach am vergangenen Freitag über sechs Stunden lang mit Tilo Jung bei “Jung und Naiv”. (Öffnet in neuem Fenster)

Beiden Sendungen gemein war der über weite Strecken harmonische Ton - und die Unfähigkeit oder der Unwillen beider Journalist:innen, ihre Gesprächspartner in irgendeiner Form zu “entzaubern”. Stattdessen wirkten Chrupalla und Krah ruhig, nah- und wählbar.

In der Ausgabe “Mit Rechtsextremen reden” (Öffnet in neuem Fenster)haben wir geschildert, dass einige Expert:innen sagen, eine Diskussion sei nicht sinnvoll. Unsere Meinung: Mit der Einladung der beiden neurechten Akteure vergangene Woche haben die Journalist:innen der Demokratie einen Bärendienst erwiesen.

Hast du die Formate gesehen?

Liebe Grüße!

Maria & Johannes

Um was geht’s?

“Der Bevölkerungsaustausch des Wahlvolks stellt die AfD vor die Wahl, sich entweder dem ‘demographischen Wandel’ anzupassen und ‘Charmeoffensiven’ für Migranten zu starten, oder aber langfristig zu einer ‘Volksgruppenpartei’ mit einer Hochburg im Osten zu werden.”

Das schrieb Martin Sellner im vergangenen Jahr auf der Webseite von Sezession. Ein Magazin, das vom neurechten Thinktank “Institut für Staatspolitik” (IfS) herausgegeben wird - einer gesichert rechtsextremistischen Bestrebung.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) (Öffnet in neuem Fenster) erklärt, die Positionen des IfS seien nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, weil es menschenwürdewidrige und demokratiefeindliche Ideologien und Konzepte verbreite.

Das zeigt sich auch in Sellners Beitrag, aus dem das eingangs erwähnte Zitat stammt. Der Text behandelt die sogenannte “ethnische Wahl”. Die nannte Sellner bereits vor rund sechs Jahren eines der entscheidenden Themen des 21. Jahrhunderts (Öffnet in neuem Fenster).

Was genau das ist, die “ethnische Wahl”, und was die Neue Rechte mit dem Begriff bezwecken will, darum geht es in dieser Woche.

Wer spricht da?

Martin Sellner. Er war schon früh im rechtsextremen Milieu aktiv und gründete 2012 die Identitäre Bewegung in Österreich, die in den Folgejahren auch Aktionen in Deutschland durchführte und mittlerweile vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistische Bestrebung (Öffnet in neuem Fenster) eingestuft wird. Er gibt sich heute als Vordenker der Neuen Rechten.

👉 Sellner war in der Zwischenzeit immer wieder in den Schlagzeilen. Der Grund: Im März gab die Stadt Potsdam bekannt, dass sie ein bundesweites Einreiseverbot gegen ihn verhängt habe. Derzeit (Stand 23.04.2024) gilt dieses Einreiseverbot nicht - Sellner hat Widerspruch eingelegt und gegen den Bescheid geklagt. Man müsse mit ein bis zwei Monaten rechnen, bis das Verwaltungsgericht eine Entscheidung treffe, erklärte der Anwalt Jan Thiele von der Kanzlei Dombert, die die Stadt Potsdam vertritt, kürzlich im Tagesspiegel (Öffnet in neuem Fenster).

Dass die Justiz gegen ihn vorgeht, nahm Sellner wiederholt zum Anlass, Begegnungen mit der Polizei medienwirksam zu inszenieren. Bereits Ende Januar reiste er beispielsweise nach Passau, (Öffnet in neuem Fenster) um, nach eigenen Angaben, zu prüfen, ob bereits ein Einreiseverbot gegen ihn vorliegt. Damals wurde laut dem Standard ein Einreiseverbot gegen Sellner geprüft - verhängt war es nicht. Trotzdem wurde Sellner an der Grenze in Gewahrsam genommen, kam aber wieder frei. Auf Telegram veröffentlichte er später ein Foto von sich aus einem Polizeiauto.

Im März wurde er bei einem rechtsextremen Treffen in der Schweiz abgeführt und des Kantons Aargau verwiesen - laut dem Schweizer Radio und Fernsehen (Öffnet in neuem Fenster) hatte der Inhaber des Veranstaltungsortes Sellner und Co. die Nutzung untersagt. Weil die Gruppe nicht Folge leistete, löste die Polizei das Treffen auf.

Bei den Konfrontationen immer dabei: Sellners Team samt Kamera. Und wenig später: die klassischen Medien. Politologin Natascha Strobl schreibt dazu im Moment-Magazin (Öffnet in neuem Fenster): “Die wichtigste Erkenntnis dieser Aktionen ist, dass sie exklusiv für die mediale Berichterstattung passieren. Weder sind Sellner und die Veranstalter überrascht worden, noch kam es ihnen ungelegen. Vielmehr legten sie es genau darauf an, dass dies so passiert, wie es passiert ist. Sowohl in Passau als auch im Aargau waren die Verhaftungen Teil des Plans.”

Es seien Situationen, in der “Extremisten nicht verlieren können”, schreibt Strobl weiter. Entweder würde eine geplante Veranstaltung nicht verhindert - das hätte man als Sieg feiern können. Oder aber man hätte Bilder in Polizeigewahrsam kreiert, die wiederum eine mediale Berichterstattung garantierten. Deshalb lagen die Kameras schon bereit und die passenden Bilder seien erzeugt und verbreitet worden.

Strobl beklagt ein Medienversagen wie schon bei den Berichten über die Identitäre Bewegung vor zehn Jahren, die ebenfalls mit derartigen Aktionen auf sich aufmerksam machten. Sie schreibt:

Wie schon vor 10 Jahren übernehmen viele Medien die Bilder kritiklos und tun so, als wären es neutrale Nachrichtenbilder. Das sind sie nicht. Es sind PR-Bilder von Rechtsextremist:innen für Rechtsextremist:innen. Die Medien werden so Teil der Aktion. Ihr aufgeregtes Tun ist einkalkuliert.”

Die Strategie dahinter

Nach der Correctiv-Recherche “Geheimplan gegen Deutschland” wurde vor allem über den Begriff “Remigration” diskutiert - auch wir haben mitgemacht.

Dabei hat Martin Sellner auf dem Netzwerktreffen nahe Potsdam auch über die “ethnische Wahl” gesprochen. Laut Correctiv sagte er dort: “Nicht nur, dass die Fremden hier leben. Sie wählen auch hier.”

Und genau darum geht es bei der “ethnischen Wahl”. Sie beschreibt laut Sellner den Einfluss von Menschen mit Migrationsgeschichte auf Wahlergebnisse in Deutschland. Die neurechte Erzählung dahinter: Menschen mit Migrationsgeschichte ignorierten jegliche politische oder sozioökonomische Kriterien, sie würden stattdessen ausschließlich migrationsfreundliche Parteien wählen. Sie seien also nur vom Eigeninteresse getrieben und würden grundsätzlich anders als “ethnisch Deutsche” wählen.

Es stimmt laut Bundeszentrale für politische Bildung (Öffnet in neuem Fenster), dass Menschen mit Migrationsgeschichte eher Parteien links der Mitte bevorzugen, “da diese traditionell offener für Einwanderinnen und Einwanderer sowie deren Anliegen waren und sind”. Das ist aber nur eine Tendenz.

Betrachtet man den Zusammenhang zwischen Ausländeranteil und Wahlergebnissen rechter Parteien, ergibt sich ein komplexeres Bild. So schreibt der Politologe Oliviero Angeli in der Welt zunächst einmal, dass die “ethnische Wahl” aus dem Vokabular der Identitären stamme und vor allem zur Diskreditierung von Menschen mit Migrationsgeschichte diene, weil sie angeblich nie wie “echte” Deutsche wählen würden. “Dabei zeigen Erhebungen, dass sich die Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte langsam abschleifen.”

Prinzipiell gilt: Wo viele Nicht-EU-Ausländer wohnen, bleiben AfD-Ergebnisse unterdurchschnittlich – vermutlich auch, weil Kontakte mit Ausländern Vorurteile abbauen. Dagegen schneidet die AfD vor allem in ethnisch homogenen Städten und Landkreisen gut ab, die in Deutschland vor allem im Osten des Landes zu finden sind. Dazu hat die jüngste Studie des Mercator Forum Migration und Demokratie einen weiteren Zusammenhang aufgezeigt: “Ein abrupter und starker Anstieg des Ausländeranteils – wie etwa nach 2015 – kommt der AfD durchaus zugute, und zwar vor allem dort, wo zuvor nur wenige Ausländer lebten.”

Das spielt aber für neurechte Akteur:innen keine Rolle, weil sie mit dem Begriff der “ethnischen Wahl” vor allem…

1️⃣ …offen Rassismus betreiben

Die neurechte Deutung des Begriffs ist rassistisch, weil sie einen Unterschied zwischen sogenannten “Passdeutschen” und “echten” Deutschen aufmacht. Der Verfassungsschutz schreibt dazu in einer Publikation aus dem März (Öffnet in neuem Fenster) im Absatz über die AfD: “Weiterhin offenbart die Unterscheidung zwischen Deutschen und ‘bloßen Passdeutschen’ […] ein ethnisches Volksverständnis. Ein ‘richtiger’ Deutscher sei demnach nur derjenige, der dem deutschen Volk im ethnischen Sinne angehört und nicht zugewandert ist.”

Das zeigt, auf welchem ideologischen Fundament Sellners Weltanschauung fußt - dem Ethnopluralismus. Das ist ein “Theoriekonzept”, das unter vielen Neurechten populär ist und auf Henning Eichberg und Carl Schmitt zurückgeht. Im Kern geht es darum, dass Menschengruppen angeblich unveränderliche Eigenschaften besitzen. Eine Argumentation, wie sie auch bei klassischen Rassist:innen zu finden ist. Nur machen Ethnopluralist:innen die Unterschiede nicht an “Rassen” oder Genen, sondern an Kulturen fest. Und Kulturen sind in der neurechten Logik unvereinbar.

Das gemeinnützige Zentrum für Liberale Moderne (Öffnet in neuem Fenster) erklärt diesen Aspekt so: “Der Mensch findet nur auf dem ihm angestammten Territorium und in Einklang mit der ihm eingeschriebenen Kultur zu einem sinnerfüllten Leben.”

Die Amadeu Antonio Stiftung (Öffnet in neuem Fenster) nennt Ethnopluralismus deshalb einen “Rassismus ohne Rassen”, der genauso zu Ausgrenzung und Gewalt gegen Migranten führen würde.

2️⃣ Verknüpfung mit Verschwörungserzählung

Die “ethnische Wahl” wird von neurechten Akteur:innen auch mit dem rechtsextremen Narrativ des Großen Austauschs (Öffnet in neuem Fenster) verwoben. Erik Ahrens, auch über ihn haben wir bereits geschrieben (Öffnet in neuem Fenster), veröffentlichte im Januar als Reaktion auf die Correctiv-Recherche diesen Satz:

“Weil Linke immer das tun, was sie uns vorwerfen, können wir festhalten: Es finden geheime Konferenzen statt, wo sie planen, Millionen nach Deutschland zu importieren und ihnen die Staatsbürgerschaft zu geben. Das Ziel ist, eine AfD-Regierung durch ethnische Wahl zu verhindern.”

Hier wird zunächst das neurechte Feindbild der “Linken” zur Elite erklärt - denn nur, wer wirklich mächtig ist, besitzt auch den notwendigen Einfluss, um “Millionen nach Deutschland zu importieren”. Diese Millionen sind - in der neurechten Logik - dazu gedacht, um die “ethnisch-deutsche” durch eine “kulturell-fremde” Bevölkerung zu ersetzen.

Das ist in Kurzform der sogenannte Große Austausch.

Das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Öffnet in neuem Fenster) erklärt, dass der Große Austausch als “Meta-Narrativ der extremen Rechten” verstanden werden kann, das “verschiedene Agitationsthemen unter einen gemeinsamen Schirm bringt” - von Migration über “Islamisierung” bis hin zur Elitenkritik. Und dieser Liste versuchen Sellner und Ahrens nun offenbar auch noch die “ethnische Wahl” hinzuzufügen.

3️⃣ Delegitimierung von demokratischen Wahlen

Die Neue Rechte verfolgt noch ein weiteres Ziel mit dem Narrativ der “ethnische Wahl”: Es soll Zweifel an Ergebnissen von demokratischen Wahlen säen, indem der Stimmenanteil von Menschen mit Migrationsgeschichte an einem Wahlergebnis als verfälschend dargestellt wird, da sie anders wählen würden als “ethnisch Deutsche”.

Das belegt eine gleichnamige Webseite (Öffnet in neuem Fenster). Ohne Impressum, nur mit dem Bild einer verschleierten Frau. Dort steht: “Die ethnische Wahl. Die größte Gefahr für unsere Demokratie und die Schlüsselfrage für alle rechten Parteien”. Laut Seitenquelltext wurde das Bild im Januar hochgeladen. Auf der Webseite gibt es nur einen Mailkontakt - den von Martin Sellner. Es ist seine Webseite.

Sellner hat auch für das rechtsextreme Compact-Magazin (Öffnet in neuem Fenster) über die “ethnische Wahl” geschrieben und sie als Teil eines großen Plans der Ampelregierung dargestellt: “Vor unseren Augen will die Ampel also ihre Herrschaft durch Masseneinbürgerung zementieren.” So sei die “ethnische Wahl” immer schon ein beliebtes Werkzeug von Diktatoren gewesen. “Mit jedem Migranten, der über die Grenze kommt und das Wahlrecht erhält, verliert notwendigerweise die Stimme eines Deutschen an Wert.”

Hier wird klar, dass das Narrativ der “ethnischen Wahl” grundsätzlich die demokratische Legimität von Wahlen angreifen soll. Der angebliche Grund: Wenn mehr Menschen mit Migrationsgeschichte die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten und wählen dürfen, werden sie ihre Stimme tendenziell eher Parteien geben, die für eine offene und vielfältige Gesellschaft stehen.

Und eben nicht der AfD.

Aus neurechter Perspektive sinkt damit die Chance der politischen Machtübernahme mit steigender Migration.

Sellner diskutierte (Öffnet in neuem Fenster) in den vergangenen Jahren deshalb immer wieder in Beiträgen, ob sich die AfD mit “Charmeoffensiven” in Richtung von migrantischen Wähler:innen öffnen sollte.

Doch Sellner kommt zu dem Schluss, dass selbst eine offene “symbolische Inklusion” - beispielsweise durch einige wenige, dafür sehr sichtbare, migrantische AfD-Mitglieder (Öffnet in neuem Fenster) in Spitzenpositionen der Partei - die “eigene Basis verunsichern oder gar spalten” könnte. Dadurch könnte “eine gefährliche, von den Medien und von eingeschleusten VS-Agenten [Verfassungsschutz - Anm. d. Red] befeuerte Debatte” entstehen, an deren Ende “die Spaltung der AfD stehen könnte”.

Deshalb schlägt Sellner vor, den angeblichen “Skandal” der “ethnischen Wahl” öffentlich zu machen: “Jede Kollaboration der Altparteien mit migrantischen Wählern muss recherchiert und angeprangert werden.”

Sellner schreibt:

“Denkbar wäre, bei jeder Wahl ein ‘alternatives’ Wahlergebnis zu errechnen, das zeigt, wie sie ohne Ersetzungsmigration und Bevölkerungsaustausch ausgegangen wäre. So wird dem Volk bewusst, wie die Demographie die Demokratie zerstört. Die illegitime und antidemokratische Strategie des Wählerimports rückte so ins Bewußtsein.”

Als Vorbild nennt er diese Seite (Öffnet in neuem Fenster) der FPÖ, der Freiheitlichen Partei Österreichs. Dort steht eine Art Uhr, sie läuft rückwärts. Angezeigt werden mehr als 28 Jahre und zehn Monate - bis zum “Kipppunkt”. Dann soll es in Österreich angeblich mehr Menschen im wahlfähigen Alter mit Migrationshintergrund als Menschen ohne Migrationsgeschichte geben.

Und weil Menschen mit Migrationsgeschichte selbst “selten für eine Beschränkung von Migration” stimmen würden, sei in 28 Jahren “die dargestellte Entwicklung demokratisch nicht mehr rückgängig zu machen”.

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