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Wenn nur ein Foto etwas bewirkt…

… hat sich der Einsatz gelohnt. Fotografin Alea Horst engagiert sich als Nothelferin und Menschenrechtsaktivistin 

„Ich erinnere mich gern an ein Erlebnis bei meinem ersten Projekt in Lesbos. Ich hatte noch keine Ahnung und war sehr unerfahren. Ich half Menschen aus den Booten und alle weinten und schrien. Ein junger Mann rief laut nach einem Handy und packte mich am Arm und fragte, ob er meines nutzen darf. Ich hatte erst Angst. Vielleicht will er mein Handy klauen, dachte ich. Er lief verzweifelt zu allen und niemand gab ihm ein Handy. Dann dachte ich: gib ihm dein Handy, wenn´s weg ist, ist´s weg. 

Dann haben wir zusammen die Vorwahl von Syrien rausgesucht und er hat seine Mama angerufen. Er hat das Handy auf Lautsprecher gemacht, ich stand direkt daneben. Er sprach arabisch, aber sagte sowas wie: Mama, ich habe überlebt, ich bin in Lesbos. Und dann hörte man die Mama am anderen Ende laut jubeln und gleichzeitig weinen. Der junge Mann weinte auch und gab mir das Handy zurück. Er rannte dann weg zum Bus, der ihn ins Camp brachte. Ich musste dann auch weinen und schämte mich. Ich habe ihn nie wieder gesehen.“

Es gibt ein Foto, das Alea Horst mit diesem jungen Mann am Strand von Lesbos zeigt, wie sie beide auf das Handy schauen. Damals, 2016, wollte sich die Hochzeitsfotografin aus Reckenroth in Rheinland-Pfalz für zehn Tage als Nothelferin im Flüchtlingslager Moria engagieren.

Es wurde ein verändertes Leben daraus.

Nach ihrem ersten Mal in Moria konnte Alea Horst nicht mehr nichts tun.

Sie fuhr los, immer wieder, schaufelte Zeit zwischen ihren Hochzeiten und Familienshootings in Deutschland frei. Das war nicht immer einfach. Denn das Ziel ihres Business-Plans hatte sie erreicht. „Ich will eine der besten Hochzeitsfotografinnen im Rhein-Main-Gebiet werden“, hatte sie zum Start in die Fotografinnen-Karriere in 2008 notiert. Ihre Freunde lachten damals. Alea Horst ist Autodidaktin an der Kamera. 

Doch das Unerwartete möglich zu machen ist Alea Horst nicht fremd. Mit 17 Jahren hatte sie ihr erstes Kind bekommen, mit 18 das zweite, kurz nach der Hochzeit. Das gehe niemals gut, sagten die Freunde. „Jetzt bin ich zwanzig Jahre mit dem Vater meiner Kinder verheiratet“, sagt Alea Horst. Die Kinder studieren. „Ich habe gezeigt, dass es eben doch geht. Dass es immer einen Weg gibt.“ Ihr Weg führte sie nach Moria, weg von der satten Zufriedenheit des heimischen Erfolgcs.

Am Strand von Lesbos. Alle Fotos: Alea Horst

Moria, einer der Hotspots der Europäischen Union, Sammelort für Flüchtlinge, die aus dem Irak und vor den Kriegen in Syrien und Afghanistan flohen. In Moria lebten zeitweise 20.000 Männer, Frauen und Kinder. Im für 2.800 Menschen konzipierten Camp wurden ursprünglich Asylsuchende registriert und danach aufs griechische Festland gebracht. 

Dann schloss die EU mit der Türkei ein Rücknahme-Abkommen, und Moria wurde zur Endstation. Migranten und Flüchtlinge, die nach dem 20. März 2016 auf den griechischen Inseln ankamen, durften nicht mehr aufs Festland gebracht werden, da die Türkei sie sonst nicht zurückgenommen hätte. Für die Geflüchteten bedeutete das: Endstation Moria. Jahre mussten sie dort unter unwürdigen Bedingungen auf Entscheidungen über ihr Leben warten. Im September 2020 brannte das Lager ab, Geflüchtete wurden wegen Brandstiftung verurteilt. Die EU baute Tara Kepe, das Nachfolge-Camp. Es sei in nichts besser, sagt Alea Horst.

Als sie zum ersten Mal in Moria ist, kann sie kaum glauben, was sie erlebt. Eine Woche vergeht, bis sie es schafft, zum ersten Mal zu fotografieren. Jetzt ist es ihre Lebensaufgabe: helfen, wo sie kann. Und zeigen, was zu zeigen ist. 

Mehrmals im Jahr ist die 39-Jährige unterwegs. Als Einzelaktivistin unterstützt sie Projektpartner; große Organisationen wie SOS Kinderdorf und kleine Vereine wie die Kinderhilfe Siebenbürgen. Neben Lesbos war sie auf Sri Lanka, in Bosnien, Tunesien, Hebron im Westjordanland. „In Jordanien war ich völlig erschrocken, dass das Lager deutlich besser aussieht und funktioniert als in Europa.“ Sie reist nach Bangladesch, Rumänien, fährt mit dem Seenotrettungsboot Sea Eye aufs Mittelmeer. „Was ich in Syrien gesehen habe, ist jenseits von Worten.“ 

Syrien. 

Alea Horst trifft Menschen, die unter Bedingungen leben, die fern der Vorstellungskraft der europäischen Durchschnittsbevölkerung liegen. Flucht, Krieg, Armut, Hunger in Europa und der Welt. Darauf will sie die Wahrnehmung lenken. Was sie erlebt, dokumentiert sie in den Sozialen Medien, auf Facebook, Instagram, auf Ausstellungen in ganz Deutschland. Gerade ist ihr erstes Buch erschienen, "Manchmal male ich ein Haus für uns". Es zeigt das Leben von Kindern im Flüchtlingslager Tara Kepe. 

Sie suche „ganz stark nach Resonanz, die man nur mit dem Herzen fühlen kann. Ich suche Menschlichkeit, Nähe, Freude, Berührung“, sagt Alea Horst über ihre Fotografie. Einst liebten ihre Kunden aus Deutschland, die Brautpaare und Familien, sie für ihren unkonventionellen, ehrlichen, offenen Blick für den Augenblick. Jetzt ist es genau dieser Blick, der ihre Bilder aus den Flüchtlingslagern und den Elendsorten so eindringlich macht.

„Am Anfang habe ich viel nachgeahmt, mich an Kollegen orientiert“, erinnert sie sich. „Doch es waren ganz selten diese Kopien, die mich wirklich berührt haben, sondern die emotionalen Fotografien. Verrückterweise sind noch mehr Menschen auf mich zugekommen, nachdem ich die Entscheidung für diese Art zu fotografieren getroffen habe. Ich konnte mich vor Anfragen kaum retten. Der Weg zu mir selbst hat mich erfolgreich gemacht.

Eine Zeitlang war Alea Horst mit diesem Leben glücklich. Doch dann kam diese Leere. Geboren aus Sattheit, einer diffusen Unzufriedenheit. Wenn man mit Anfang 30 seine beruflichen Ziele erreicht hat, genug Geld, Aufträge, könnte das Leben immer so weitergehen. Oder?

Doch da war dieses Gefühl der Verantwortung. Wie würde die Zukunft ihrer Kinder aussehen und welcher Beitrag wäre möglich für eine gute, friedvolle?

Lesbos.

Und da war dieser krasse Kontrast. Hier die teuersten Hochzeiten an den exquisitesten Locations. Dort Reportagen aus dem Krieg in Syrien. Lässt sich beschreiben, was Menschen dort erleben?

Die Bilder im Fernsehen lösten etwas aus in Alea Horst. „Das Gefühl wurde immer unerträglicher.“ Sie wollte etwas tun. Nur was? Ein Jahr lang rang sie mit sich, diskutierte mit ihrem Mann. „Was kann ich schon ausrichten? Ich bin eine unnütze Hochzeitsfotografin!“ Dann kam Silvester, die Nacht der guten Vorsätze für das neue Jahr 2016. Alea Horst spürte: „Wenn ich jetzt nicht in die Pötte komme, wird mich das bis an mein Lebensende verfolgen.“ Mitten im Winter hat eine Hochzeitsfotografin nicht viel zu tun. Ein paar Tage später saß sie für die schwedische Hilfsorganisation I Am You im Flieger nach Lesbos, auf dem Weg nach Moria, als Nothelferin. 

Die Reise zahlte sie selbst. „Es war fantastisch, dass mein Mann mir so viel Vertrauen geschenkt hat. Er hat gemerkt, wie stark mich das beschäftigt und mich ermutigt, meiner inneren Stimme zu folgen, nach Griechenland zu gehen.“ 

Griechenland.

Heute sagt sie: „Das Elend der Menschen in den Flüchtlingslagern ist politisch gewollt. Der Wirkungskreis von Helfern wie mir wird immer kleiner. Hilfsorganisationen bekommen keine Genehmigung, geraten in eine bürokratische Endlosschleife, werden hingehalten. Und wenn sie doch tätig werden, müssen sie mit Strafen rechnen. Die Bevölkerung hat gespendet, das ja. Aber wenn die Hilfsorganisationen nicht tätig werden dürfen, muss das politisch gelöst werden.“ Es bestehe kein Interesse daran, das Leben der Menschen in den Camps zu verbessern aus Angst, weitere Flüchtlinge nach Europa zu locken.

In Hebron.

Als Nothelferin sucht sie Möglichkeiten, das Leben der Menschen in den Lagern, in Slums, im Elend zu verbessern. Für das Kind, für das sie eine Wärmflasche habe organisieren können, mache sie einen Unterschied, sagt sie. 

Als Fotografin und Bloggerin dokumentiert sie das Schicksal von Waisenkindern, von Roma in Rumänien, von Kindern, die in den Fabriken Bangladeschs schwer arbeiten. Von Geflüchteten, ausgegrenzten, traumatisierten, retraumatisierten Männern, Frauen und vielen, vielen Kindern. 

Wie das von Tariq aus Syrien.

„Ich habe nur ein paar wenige Erinnerungen aus Syrien. Die sind voll von Krieg und Bomben. Eines Tages kamen Männer in unser Haus und haben meinem Papa und mir gesagt, wir sollen auf die Straße gehen. Dann haben sie meinem Papa mit einem Gewehr in den Kopf geschossen. Genau zwischen die Augen. 

Ich kann mich an nichts mehr erinnern, was danach passiert ist. Ich habe Erinnerungen daran, wie ich hierhergekommen bin. Einmal sind die Schlepper einfach weggerannt und die Polizei hat uns gefasst. Das war in der Türkei. Die haben uns dann ins Gefängnis gebracht und alle geschlagen. Das Gefängnis war ein großer Raum. Viele Leute waren darin und man gab uns eine Decke, wo wir drauf schlafen sollten. Ich finde Kinder sollten nicht ins Gefängnis. 

Hier im neuen Moria gibt es nur Zelte, kein richtiges Zuhause oder generell ein Haus. Es ist hier auch alles voller Schlamm. Wir haben nur eine Stunde Strom, danach zehn Stunden gar nichts. Man kann nicht mal einen Tee kochen dann. Wir bekommen hier nur Ablehnungsbescheinigungen. Wenn wir krank sind, dann gehen wir zum Arzt und bekommen weder Untersuchungen noch Medikamente. 

Ich habe sehr schlimmes Asthma. Ich kann nachts nicht atmen, nicht schlafen, die Luftfeuchtigkeit ist über 80 Prozent, aber ich bekomme hier kein Spray oder irgendwas. Das Leben hier ist so schlecht, dass könnt ihr Euch nicht vorstellen."

In Syrien.

Manchmal wird Alea Horst gefragt, wie sie ihre Erlebnisse und diese Geschichten aushalten kann. Sie müsse nur zuschauen, sagt sie dann, aushalten müssten die Menschen, mit denen sie spricht, die sie fotografiert. Und: „Ich begegne den Menschen mit ganz viel Offenheit und Herzlichkeit. Und diese Herzlichkeit spiegeln sie zurück.“

In 2021 hat sie ihre Arbeit in Deutschland als Hochzeits- und Familienfotografin aufgegeben. Zu zeitintensiv sei dieses Engagement gewesen, um beidem gerecht zu werden – deutschen Feierlichkeiten und europäischen Flüchtlingscamps. Bis dahin hatten ihre Aufträge die Reisen querfinanziert, sagt sie. Die Ersparnisse seien aufgebraucht. Nun muss es anders klappen.

Alea Horst hat dafür extra einen Verein gegründet, Alea e.V., über den sie ihre Einsätze künftig finanzieren will. Der Verein soll auch eine Ideenschmiede für Menschen mit Visionen für eine nachhaltige Welt im Gleichgewicht werden. „Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, dass ich etwas absolut Sinnvolles und Notwendiges leiste.“ 

Sie weiß, dass ihre Fotos etwas auslösen in der Wahrnehmung ihrer Betrachter. Sie zoomt eine Realität heran, „die viel zu wenige Menschen wahrhaben wollen“. Manche sagen ihr, sie könnten ihre Bilder nicht ansehen, die Geschichten nicht hören, die seien ihnen zu krass.

Alea Horst kann das nicht verstehen. „Ich kann den Kindern im Lager, die nicht schlafen können, weil es so kalt ist und sie nur in einem dünnen Zelt leben, die Angst haben, die keine Schulbildung bekommen, die Krätze haben, nicht sagen, dass es in Deutschland Menschen gibt, die ihre Fotos nicht anschauen können, weil sie sonst traurig werden.“

Bangladesch.

Einen exklusiven Bildband – Auflage drei Exemplare – hat sie an Bundesinnenminister Horst Seehofer, Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geschickt. Alles Gute, schrieb die Kanzlerin. Man bedanke sich für ihr Engagement, schrieb die EU. Ob diese Bildbände etwas bewirkt haben? „Ich wollte es wenigstens versuchen.“ Horst Seehofer antwortete, er wolle die Bilder in mahnender Erinnerung behalten, und dass er sich nicht erinnern könne „jemals so ein eindrückliches, bewegendes Werk erhalten zu haben, das zum Nachdenken anregt, ohne das menschliche Leid auf oberflächliche Weise zu instrumentalisieren“.

Griechenland.

Alea Horst bekommt viel Lob. Dafür, dass sie das Elend sichtbar macht, auf die Verletzung der Menschenrechte aufmerksam macht, dafür, dass sie Männern, Frauen und Kindern aus der Anonymität des Flüchtlingslebens Gesicht und Namen gibt. 

Und viel Hass und Häme. Ihre Fotos seien zu ästhetisch, sie bereichere sich am Elend, sie sei zu fett, um von Flüchtlingen vergewaltigt zu werden. Früher hat Alea Horst geweint, wenn sie solche Kommentare gelesen hat. 

Heute kann sie die Kommentare besser reflektieren. Auf „Erfahrungsberichte wird nicht eingegangen. Es wird das Thema gewechselt. Nach Abschiebung in ein Land, in dem gerade die Taliban die Macht übernehmen, geht es auf einmal um die Aufnahme aller Flüchtlinge der ganzen Welt. Es wird pauschalisiert und sich am Ende gegenseitig persönlich beleidigt.“ Oft antwortet sie, versucht zu erklären, einzuordnen, zeigt Verständnis. „Ich sage ja gar nicht, dass Deutschland alle Flüchtlinge aufnehmen kann oder soll.“ Doch das Elend in den europäischen Flüchtlingscamps dürfe man nicht hinnehmen. 

„Die Vergessenen“ hat sie eine ihrer Ausstellungen genannt. Alea Horst hat die Menschen nicht vergessen.

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