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Deine Stimme im Ohr

Als "Familienhörbuch" sprechen unheilbar kranke Eltern ihr Leben auf - ein Projekt der Hörfunkjournalistin Judith Grümmer 

Vielleicht werden Juttas Kinder das Familienhörbuch ihrer Mutter irgendwann auswendig können. Vielleicht werden sie ihre Geschichten jeden Tag hören wollen, vielleicht nur zu besonderen Anlässen. Dass sie es überhaupt können, war Jutta ein Trost. Wenige Monate, nachdem die 40-Jährige mit der Kölner Audiobiografin Judith Grümmer ein Hörbuch mit ihrer Lebensgeschichte aufgenommen hat, ist sie an Krebs verstorben. „Ich bin sehr froh, dass ich das Hörbuch machen konnte“, sagte sie kurz vor ihrem Tod.

Judith Grümmer hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Stimme von lebensverkürzt erkrankten Eltern mit heranwachsenden Kindern zu bewahren. Dafür hat die Radiojournalistin – sie hat bis vor einigen Jahren als feste freie Mitarbeiterin für den Deutschlandfunk gearbeitet – im Jahr 2017 das bundesweit einmalige Projekt Familienhörbuch gestartet. 119 Hörbücher wurden mittlerweile an Familien übergeben, 188 Eltern in das Projekt aufgenommen – die Nachfrage steigt stetig.

Nach einer Anschubförderung durch eine Stiftung wird die für die Teilnehmer kostenfreie Produktion derzeit über Spenden finanziert. Die Klinik für Palliativmedizin an der Universitätsklinik Bonn hat die ersten drei Jahre wissenschaftlich begleitet und wird nun vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen an der Universität Heidelberg abgelöst. Anfangs hat Judith Grümmer alle Hörbücher selbst aufgenommen, mittlerweile arbeitet ein Team an geschulten Audiobiographen mit.

Das Familienhörbuch ist im Stil eines Features gestaltet, 100 Stunden Arbeit investieren Audiographen, Soundtechniker und Judith Grümmer in jedes Hörbuch. Im Mittelpunkt stehen die Erinnerungen und Erlebnisse, eingebettet in Musik und zeitgeschichtliche Tondokumente. Das macht das Familienhörbuch zum individuellen, intimen Zeugnis eines Lebens, das zu früh zu Ende gehen wird.

Für die Kinder, die ohne ihre Mutter, ohne ihren Vater weiterleben werden, soll es ein Anker sein. Jutta war davon überzeugt, dass ihre Kinder ihn irgendwann brauchen werden: „Ich bin mir sicher, dass sie später Fragen stellen werden. Ich wollte deshalb Dinge erzählen, die den Kindern Trost und Hoffnung spenden, und dass das Hörbuch ihnen hilft, sich an mich zu erinnern.“

Bis zu drei Tage sitzen die Audiobiographen mit den Projektteilnehmern zusammen; während der Corona-Pandemie hat Judith Grümmer zusätzlich ein online-Setting aufgebaut, damit die Arbeit weitergehen kann.

Juttas Hörbuch ist 48 Kapitel lang geworden, mehrere Stunden hat sie gesprochen. „Vieles, was ich erzähle, werden die Kinder erst später verstehen. Sie müssen es nicht am Stück anhören, sie können sich immer die Kapitel heraussuchen, die für diesen speziellen Moment wichtig sind. Es sind Geschichten, die nur ich auf diese Weise erzählen kann, obwohl auch mein Mann sehr viel über mich weiß.“ Die Erinnerungsreise lässt sie bei den Großeltern beginnen, den Eltern und bis in die Gegenwart gehen. Auch die Erkrankung ist ein Thema. „Ich erzähle zum Beispiel davon, wie sich meine Sichtweise auf das Leben seitdem verändert hat“, sagt Jutta.

Im Oktober 2017 bekam sie die Diagnose Brustkrebs, fünf Tage vor dem ersten Geburtstag ihrer Tochter. Die Therapie schien erfolgreich, doch ein Jahr später wurden Metastasen in der Leber, dann im Gehirn festgestellt. Sie bekam Chemotherapie, doch „niemand weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt“. Um ihren Kindern – ihr Junge ist zum Zeitpunkt ihres Todes fünf, ihr Mädchen drei Jahre alt – mehr als Fotos zu lassen, hat sie Judith Grümmer um das Hörbuch gebeten. „Ich habe alles eingesprochen, was für die Kinder vielleicht einmal wichtig werden könnte. Ich möchte ihnen selbst vermitteln, wer ich bin, wo ich stehe, was meine Werte sind, was mir wichtig war im Leben, für die Kinder und auch als Mutter.

Das Familienhörbuch biete die „Möglichkeit sich mit seiner eigenen Biografie, der Lebens- und Krankheitsgeschichte, außerhalb des medizinischen Umfelds auseinanderzusetzen“, heißt es bei der Uniklinik Bonn. „Sich selbst nicht nur als unheilbar kranken Menschen wahrzunehmen, sondern sich den positiven Seiten des eigenen Lebens zuzuwenden“ könne für manchen Patienten ein großer Gewinn Sinn.

Judith Grümmer ist es wichtig, und das ist auch der große Wunsch „ihrer“ Patienten, insbesondere den weiterlebenden Kindern ein unverwechselbares Stück Identität zu lassen. Keine Stimme gleicht der anderen, jede einzelne ist so individuell wie ein Fingerabdruck. Schon im Mutterleib hören Babies die Stimme ihrer Mutter, Neugeborene erkennen sie am Klang. Die Stimme der Mutter, des Vaters ist so vertraut wie deren Geruch, ihre Gesten. Ein elementares Stück Geborgenheit. 

Stirbt ein Mensch, verstummt auch seine Stimme, und oft hat man sie schnell nicht mehr im Ohr. Bilder und Szenen bleiben im Gedächtnis, die Stimme eher nicht. Judith Grümmer hält sie lebendig. Bis zum Start ihres Projekts hatte die Medizinjournalistin regelmäßig über Palliativmedizin berichtet, auch Biografiearbeit mit Senioren gemacht. Es erschien ihr jedoch noch sinnvoller, jüngeren lebensverkürzt erkrankten Eltern die Möglichkeit zu geben, ihr Leben in ein Familienhörbuch zu fassen – kostenfrei.

Eine langfristige, sichere Finanzierung aufzubauen ist vielleicht die größte Herausforderung des Projekts. Sie bleibt Judith Grümmer gleichwohl wichtig – und dass die Hörbücher für die Familien kostenfrei bleiben. „Ich möchte das Projekt nicht als gutes Geschäftsmodell aufziehen, bei dem nur jene ihren Kindern ein Hörbuch hinterlassen können, die die entsprechenden Mittel oder einkommensstarke Freundeskreise haben.“ 

Seit 2019 ist das anfangs studienbegleitete Projekt deshalb als gGmbH strukturiert. Ehrenamtliche kümmern sich um Öffentlichkeitsarbeit und Organisation, Judith Grümmer firmiert als Geschäftsführerin. Gut 5000 Euro kostet die Aufnahme eines Familienhörbuchs mindestens. „Hier setze ich die Obergrenze, das sind 100 Arbeitsstunden plus Unkosten“, sagt Judith Grümmer.

Oft drängt die Zeit, haben die Patienten kaum mehr Zeit, manche sind verstorben, bevor ein Treffen mit den Audiobiografen zustande kommen konnte. Nicht selten warten sie lange, bis sie sich an die Audiobiografin wenden. „Ich hatte von der Möglichkeit des Familienhörbuchs schon gehört, aber immer gedacht, ich sei noch nicht so weit, weil ich immer recht optimistisch bin. Aber als die Hirnmetastasen festgestellt wurden, habe ich Angst bekommen, dass mir die Zeit davonläuft“, sagt Jutta H.. „Man bekommt in meinem Fall keine Prognose. Ich weiß also nicht, wie lange es noch gut geht.“ 

Kurzfristig hatte Judith Grümmer Kapazitäten frei. Auch deshalb ist der Audiobiografin eine sichere Finanzierung so wichtig. Die 63-Jährige erzählt von einer jungen Mutter, die mit letzter Kraft schon im Sterbeprozess eine Stunde für ihre Tochter, ihren Mann und ihre Eltern aufgenommen hat, die im Flugzeug auf dem Weg zu ihrer sterbenden Tochter saßen. „Diese Frau hat noch einmal in ihrer Muttersprache persisch gesprochen. Für die Tochter wird das zu hören später einmal unschätzbar wichtig sein.“

Von Anfang an war ihr Ziel Audiobiografen auszubilden. Partner ist dafür die Akademie für Palliativmedizin am Malteser Krankenhaus Seliger Gehard Bonn/Rhein-Sieg. Ein solches Hörbuch lasse sich nicht angehen wie ein beliebiges journalistisches Thema, sagt Judith Grümmer. „Man muss die Geschichten, die Situationen aushalten können.“ Das müsse man ebenso lernen wie den richtigen Ton zu finden, behutsam zu fragen, mit psychischen und physischen Krisen während der Gespräche umgehen zu können. „Es ist ganz wichtig, keinen Schaden mit dem Gespräch anzurichten beim Patienten. Und es ist wichtig, keinen Schaden bei denjenigen anzurichten, die das Hörbuch später einmal anhören werden.“ Deshalb sei es wichtig, dass die Mütter und Väter offen erzählten, dass sie aber gute Gedanken hinterließen, keine Bürden, keine Wünsche oder Aufträge für eine Zukunft, die die Kinder vielleicht gar nicht möchten.

Judith Grümmer und ihre Audiobiografen können mit Tränen, mit Schweigen, mit Wut, mit Trauer umgehen, mit körperlichen Reaktionen auf Erinnerungs- und Trauerprozesse, die unweigerlich kommen, wenn Menschen tief eintauchen in ihr eigenes Leben. Judith Grümmer weiß, wann eine Pause wichtig ist, und dass Manches ungesagt bleiben darf. Manchmal nimmt sie sich über die drei Tage hinaus ein zweites Mal Zeit, wenn die Geschichte doch nicht zu Ende erzählt ist, wenn ein einschneidendes Erlebnis das bisher Gesagte neu justiert – wie bei der krebskranken Mutter, deren Partner sie kurz nach der Hochzeit verlassen hatte. Sie weiß aber auch, dass irgendwann ein Punkt gesetzt werden muss. Manche Patienten freuen sich, dass sie es noch geschafft haben das Hörbuch aufzunehmen. „Ich habe mich mit Frau Grümmer sehr intensiv mit meinem Leben beschäftigt. Das hat mich unheimlich beglückt“, sagt Jutta. Andere haben Angst, dass sie nun endgültig sterben werden und können schwer loslassen.

An diesem Punkt muss Judith Grümmer auf ihrer Funktion, in der sie sich selbst in diesem Prozess sieht, bestehen. Sie sei wie eine Reisebegleitung, die ein Stück des Wegs mitgehe, der man alles erzählen könne. „Aber dann bin ich auch wieder weg.“ Die Biografien dürfen ihr nicht zu nahe gehen. Sie ist empathisch, aber sie leidet nicht mit; um ihre professionelle Distanz zu bewahren, dürfen die Patienten nicht bei ihr übernachten, ihr nicht zu viele Fragen stellen, sie bleibt konsequent beim „Sie“ und sie hält anschließend nur Kontakt, soweit es für das Familienhörbuch relevant ist. Judith Grümmer steuert ein Familienhörbuch zur Lebensgeschichte bei, aber sie ist keine Therapeutin. Sie vergisst die Geschichten ihrer Patienten nicht, aber sie merkt sich nicht alle Details.

„Ich stecke viel Zeit in dieses Projekt“, sagt Judith Grümmer. Es ist ihre Art sich dem Leben zuzuwenden, auch und nicht zuletzt, seitdem ihr Mann vor zwei Jahren an einem metastasierten Zwölffingerdarmkarzinom gestorben ist. Seine Stimme hat sie nicht aufgenommen, er sei ein wortkarger Westfale gewesen und habe das nicht gewollt. Nicht für jeden Patienten ist jede Intervention die passende; für manche aber ist das Familienhörbuch ein Segen. „Schöner sterben mit Judith“ habe ihr Mann gewitzelt, erinnert sich Judith Grümmer, und im makabren Witz steckt ein wahrer Kern. Es ist grausam jung sterben und kleine Kinder zurücklassen zu müssen. Es ist tröstlich, etwas so Unnachahmliches hinterlassen zu dürfen wie die eigene Stimme.

Judith Grümmer glaubt an ihr Projekt. Es soll weiter wachsen – und irgendwann ohne sie funktionieren.

Gofundme-Kamapgnen für das Familienhörbuch unter

www.gofundme.com (Öffnet in neuem Fenster) Stichwortsuche unter Gofundme „Familienhörbuch“ (15 Prozent pro Spende gehen für die Betriebskosten von Gufundme ab)

Direktes Spendenkonto:

Volksbank Köln Bonn eG
Stichwort Familienhörbuch gGmbH
DE52 3806 0186 4906 5620 10
BIC: GENODED1BRS
Steuernummer 214/5855/2466

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