Woke und Wahnsinn
Rechtsextremisten haben die „Wokeness-Ideologie“ zum globalen Feind erklärt. Aber auch unter den Linken halten viele die „jungen Woken“ für schädliche Spinner. Zurecht?
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Einen „kläffenden Zwerg“ nannte der begnadete Jura Soyfer den Möchtegerndiktator, „eine lebendig gewordene Witzfigur“. Die reaktionäre Brüllmaus, Antipahtieträger selbst für seine Anhänger, war der spätere austrofaschistische Autokrat Engelbert Dollfuß. Ähnlichkeiten mit heutigen Horrorclowns sind möglicherweise nicht gänzlich zufällig.
Während das Land in eine Rezession schlittert, die Realeinkommen im vergangenen Jahr um vier Prozent im Durchschnitt gesunken sind, sich das Unsicherheitsgefühl in alle Lebenslagen frisst, sieht der „kläffende Zwerg“ unserer Tage seine Hauptaufgabe im Kampf gegen die Wokeness. Keine Parlamentsrede, in der Kreml-Herbert Kickl nicht gegen „links-woken Zeitgeist“, „Woke- und Genderideologie“, „Wokewahnsinn“ wettert. Schön, dass wir keine anderen Probleme haben. Wie überall verbeißt sich die extreme Rechte in die von ihr so geliebten Kulturkampfthemen.
Wirtschaftspolitisch steht man treu auf Seiten der Superreichen, hebt bei jeder Steuersenkung für Konzerne artig das Händchen, führt den 12-Stunden-Tag ein, schanzt reichen Freunderln Aufträge zu, und glaubt, mit paranoidem Kulturkampf-Entertainment das Volk aufganseln und so bei der Stange halten zu können. „Anti-Woke“, das ist der neue Schlager aller Rechtsradikalen rund um den Globus.
Woke und Links – ein Widerspruch?
„Woke“ ist aber generell eine Catch-Phrase geworden, die die Emotionen hochgehen lässt. Die kluge, streitbare Denkerin Susan Neiman, Direktorin des Einstein-Forum in Berlin, hat jetzt ein Buch mit dem Titel „Links ≠ woke“ geschrieben. Als explizite, streitlustige Linke hält sie „den Woken“ (wir kommen noch dazu, wer das eigentlich sein soll), vor, ein paar systematische Irrwege zu gehen. Etwa, dass sie die Errungenschaften der Aufklärung zerstören. Einzelne Aufklärer haben gewiss rassistische Vorurteile gehabt, hatten natürlich einen europäischen Blick, und Männer waren sowieso fast alle. Aber schlussendlich waren es „die Aufklärer, welche die Kritik am Eurozentrismus erfanden“ (Neiman). Das Vernunftprinzip und die emanzipatorischen Ideale, die die Aufklärung durchdrungen hatten, begünstigten immer die Selbstkritik der Aufklärung (und der Aufklärer!) an sich selbst. Die Aufklärung folgte einem Universalismus, der dann von der Linken, als Erbe der Aufklärung, stets hoch gehalten wurde.
Gerechtigkeit für Alle statt gruppenbezogener Kampf um die speziell bevorzugte Opfer-Truppe oder die jeweiligen Lieblingsunterprivilegierten. Die Woken fallen, aus Neimans Sicht, dahinter zurück: Sie würden, so ihre Behauptung, einen neuen Tribalismus begründen. Mehr noch: Aus der Achtung von Kulturen folgten die Woken, dass man auch unsympathische Erscheinungen dieser Kulturen zu achten habe, da man doch keine westlichen Prinzipien über andere stülpen dürfe. Das sei Stammesdenken, so Neiman. Es ist ihr Hauptvorwurf. Das Problem ist, dass man oft nicht weiß, von wem Neiman jetzt exakt spricht.
Aber zweifellos gibt es einige dieser angeprangerten Seltsamkeiten: Kleingruppen, die auch vorkommen wollen, und damit in einen Konflikt mit anderen Kleingruppen geraten. Im Bedürfnis, zur jeweiligen eigenen Peer-Group zu sprechen, schrauben sich die einzelnen Stämme in einen immer skurrileren Radikalismus hinein, bis hin zu den obskuren Sprachoperationen, dass man alle paar Jahre neue Begriffe für die jeweils altbekannten Problemlagen lernen muss. Fraglos spielt bei dem, was sich egalitär gibt, auch akademischer Elitismus hinein und signalisiert allen, die die aktuell angesagten Modeworte nicht kennen, dass sie irgendwie unmodern, hinterwäldlerisch oder nicht ausreichend antirassistisch seien, was dann zu den komischen, ärgerlichen Kasperlbegriffen wie „weiß gelesene Personen“ und ähnlichem Unsinn führt. Neiman nimmt sich dann auch noch die aufklärungs- und vernunftkritischen Postulate der Postmoderne her. Michel Foucault, den detailversessenen Erforscher aller grober und eben auch subtiler Mechanismen der Machtausübung, wirft sie vor, dass am Ende alle Katzen bei ihm Grau sind und alles nur unterschiedliche Spielarten des Schrecklichen – von den Dispositiven der Macht, also der Gesamtheit von Ideologie, Verwaltung, Schulsystem bis zum bluttriefenden Tyrannen.
Man kann problemlos lange Listen von haarsträubendem Unsinn aus den Weichbild der „Wokeness“ aufzählen. Das ärgerliche Konzept der „kulturellen Aneignung“, das zu Ende gedacht jede Vermischung von Kulturen und das Pick-&-Mix der Künste schlechtredet, hätte bestimmt einen Spitzenplatz verdient, besonders deshalb, weil es von den kulturellen Reinheitspostulaten rechtsextremer Identitärer nur einen Wimpernschlag entfernt ist. Ganz sicherlich kann man Teilen jener Milieus, die heute so allgemein als „die Woken“ beschrieben werden, einen gewissen Grad an Sektierertum vorwerfen und auch einen Hang zum Autoritären. Wer nicht zu 100 Prozent die Ansichten der jeweiligen Peer-Group teilt, wird niedergeschrien. Aber gut, das hat es in den verschiedenen Traditionssträngen der Linken auch immer gegeben. Schon der bewundernswerte Heinrich Heine lamentierte, wenn seine Kampfgefährten siegen würden, „so schneiden sie mir die Kehle ab, und zwar, weil ich nicht auch alles bewundere, was sie bewundern.“ Man könnte es aber zugleich auch gelassener sehen, und darauf hinweisen, dass viele Bewegungen für gesellschaftliche Verbesserungen immer auch von Verrücktheiten und Übertreibungen begleitet waren.
Spinner pflastern unseren Weg
Von Marx über Marcuse bis Mandela galt stets unbestreitbar auch: Spinner und Schrullis pflastern ihren Weg.
Heute gibt es längst nicht nur den skurrilen rechtsextremen Kampf gegen „die Woke-Ideologie“, sondern auch innerlinke Zerwürfnisse über diese Themenkomplexe. Wenn wir das einmal karikaturhaft zeichnen wollen: Einerseits haben wir die, die als authentische Sprecher*innen für emanzipatorische Anliegen am liebsten ausschließlich schwarze, transsexuelle, lesbische, geflüchtete überausgebeutete Gebäudereiniger*innen zulassen wollen (weil alle anderen ja zumindest nicht ganz so unterdrückt sind und deshalb ihre „Privilegien checken“ sollen), und auf der anderen Seite die, die sich eher auf die breite Masse der Bevölkerung orientieren wollen, die ihrer Ansicht nach in den minoritären Praktiken überhaupt nicht mehr vorkommt, weshalb sie selbst langsam einen Widerwillen gegen alle Antidiskriminierungs-Kämpfe entwickeln.
Ich muss hier beichten: Ich stehe bei diesen Grabenkriegen in der Mitte, zwischen den Polen, und man kann das für eine Entscheidungsschwäche halten oder Ausdruck von Harmoniesucht. Privat halte ich mir zugute, dass das eher aus meinem Hang zur Vernünftigkeit entspringt, aber was weiß man persönlich schon. Üblicherweise geht man mit sich selbst nicht zu hart ins Gericht, und lässt sich gegenüber eine Milde walten, die man anderen nicht unbedingt zugesteht, also: vielleicht bin ich ja genauso nervig wie die Protagonisten der Pole.
In einem sehr feinen Gespräch mit Susan Neiman im Kreisky-Forum habe ich deshalb ein paar halbe Einwände formuliert – oder vorbereitet (man bringt ja in eine Stunde nicht immer alles hinein), wie etwa:
x) man kann doch die Errungenschaften und das Erbe der Aufklärung hochhalten, und zugleich zugestehen, dass manche Aufklärer durchaus rassistische Vorurteile hatten, dass es natürlich einen eurozentrischen Blick gab, dass die meisten Männer waren. So wie Karl Marx ein großer Denker und letztlich auch ein Gigant des Humanismus war, obwohl er Lassalle gar rüpelhaft beschimpfte.
x) man kann die Idee, dass Emanzipation und Fortschritt hochhalten, und dennoch erkennen – etwa mit Freud, aber auch mit Lacan und meinetwegen Lyotard –, dass der Mensch nicht nur ein Vernunfttier ist, sondern auch durch Emotionen angetrieben. Und dass das auch für alle politischen Leidenschaften gilt. Womit wir bei so etwas wie einer Vernunftkritik der Aufklärung selbst wären, oder der Selbstkritik der Aufklärung an sich selbst.
x) auch ein großer Moralist und Sozialist wie Richard Rorty war Relativist und man könnte ihn für „Post-Truth“ verantwortlich machen: „Wahrheit gibt es nirgendwo da draußen“, so sein Diktum. Aber es wäre absurd. Er hat ja in „Achieving our Country“ sogar viele Kritikpunkte an der akademischen postmodernen Kulturlinken geäußert.
x) man muss ja auch nicht alle Postulate der „Critical Race Theory“ teilen, oder auch der „Critical Whitness Theory“, aber dass auch die wohlmeinendsten Menschen in ihrer Vorurteilen und in lange tradierten Stereotypisierungen gefangen sind – was soll daran falsch sein? Ist so, gilt für uns alle, und dafür Aufmerksamheit – Achtsamkeit – zu schaffen, ist ja kein Fehler.
x) was soll an Foucaults Analyse, dass wir die Agenten unserer eigenen Beherrschung sind – man denke nur an seine Analysen der „Technologien des Selbst“ –, oder dass Macht nicht nur durch einen autoritären Herrscher und hierarchische Staatsapparate ausgeübt wird, sondern durch ein Netzwerk, die „Maschen der Macht“, und dass Macht in allem drinnen steckt, den Ordnungen der Diskurse, den Dispositiven, also der Gesamtheit von Schule, Institutionen, Ideologie, Medien etc. falsch sein? Im Gegenteil, diese sehr hellsichtigen Analysen, und detailreichen Analysen sind doch elementar für eine zeitgenössische linke Kritik, die Plumpheiten über „die Herrschenden“ vermeidet.
x) man muss nicht alle Übertreibungen eines Betroffenheitskultes teilen, kann aber dennoch die Tatsache achten, dass von Unrecht Betroffene, die vielleicht ein ganzes Leben systematische Herabsetzungen ausgesetzt sind, eine „Erfahrung“ und damit ein „Wissen“ haben, dass ich so nicht habe.
x) ich bin keineswegs der Meinung, dass Nicht-Betroffene die Klappe halten sollten, aber dass es Sinn hat, Betroffenen zuzuhören, ja, dass es nicht nur wichtig ist, für die Unterprivilegierten zu sprechen, sondern sie auch selbst sprechen zu lassen. Daran ist doch nichts falsch.
Yascha Mounk, der polnisch-deutsch-jüdisch-amerikanische Intellektuelle, hat gerade eben ein gar nicht unähnliches Buch zum gleichen Thema geschrieben („The Identity Trap“), in dem er auf die eigentümliche Tatsache hinweist, dass Engagierte mit noblen Überzeugungen und Theorien, die jede für sich und im Einzelnen sehr inspirierend sind, sich in Summe zu einem sektiererischen und falschen Weltbild amalgamisieren.
Wie Neiman sieht aber auch Mounk nicht nur eine sektiererische und konfrontative Übertreibung an sich richtiger Impulse, sondern er macht eine strukturelle ideologische Irrlehre aus, die er die „Idenitity Synthesis“ nennt. Sieben fundamentale problematische Annahmen kritisiert Mounk, und zwar: „eine tiefe Skepsis gegenüber der objektiven Wahrheit“; „die Verwendung einer Form der Diskursanalyse zu explizit politischen Zwecken“. „Ein Bekenntnis zu essentialistischen Identitätskategorien“, das noch dazu in sich völlig unkongruent sei, da ja zugleich Kategorien wie Geschlecht, Rasse, Ethnie als „sozial konstruiert“ in Frage gestellt werden; „ein stolzer Pessimismus in Bezug auf den Zustand der westlichen Gesellschaften sowie eine Vorliebe für eine öffentliche Politik, die die Behandlung einer Person explizit von der Gruppe abhängig macht, der sie angehört“. Sowie „eine tief sitzende Skepsis in Bezug auf die Fähigkeit von Mitgliedern verschiedener Identitätsgruppen, sich gegenseitig zu verstehen“.
Eine gewisse Vernünftigkeit
Wenn man gesellschaftliche Fortschritte erzielen mag – für die Frauen, für Menschen mit fluider Gender-Identität, für Zuwanderer, für ethnische Minderheiten, für Lesben, Schwule und allen anderen auch –, so empfiehlt sich, die damit verbundenen Anliegen so zu definieren, dass möglichst breite Allianzen entstehen können. Sektierergeist führt notwendigerweise dazu, potentielle Verbündete abzustoßen.
Einen weißen, männlichen Installateur werde ich eher schwer zu meinem Verbündeten machen, wenn ich ihm barsch erkläre, dass er erstens in seinen böswilligen Stereotypen gefangen (ergo: ein schlechter Mensch) ist, und außerdem sowieso privilegiert, er also, welche subjektiven Misslichkeiten er auch immer empfinden mag, sich erst einmal hinten anstellen, die Klappe halten und seine Privilegien checken muss. Wenn man Diskriminierungen bekämpfen will, wird man sich über diese übrigens unterhalten müssen, was nicht gut geht, wenn man etwaigen gutwilligen, aber naiven Leuten erklärt, dass sie nicht mitreden dürfen, sondern nur „den Betroffenen zuhören“ sollen. Dass Betroffene irgendeinen privilegierten Zugang zur Wahrheit hätten, ist sowieso ein antirationalistisches Vorurteil. Ich fürchte, wir werden bei solchen Unterhaltungen sogar ein paar blödsinnige Wortmeldungen ertragen müssen und gut daran tun, auch eine Empfindsamkeit für den Gesprächskontext zu bewahren, also ein Gespür für die Intentionen des Sprechenden. Ist die Person wohlmeinend, aber verwirrt oder gar aufgehusst? Oder ein echtes faschistisches Arschloch?
Das macht womöglich einen nicht unerheblichen Unterschied.
Die Erfahrung lehrt zudem, dass man Fortschritte eher erzielt, wenn man Mehrheiten für Kompromisse gewinnt, als wenn man mit der 100-Prozent-Forderung in der Minderheit bleibt.
Ja, sicherlich, manche verbohrte oder weltfremde Wokies schaden letztlich dem Anliegen, indem sie die Hürden für Zustimmung so hoch legen, dass das am Ende den Gegner stark macht und die Linken als unsympathische Leute erscheinen lässt. Daraus kann man aber noch nicht unbedingt den Schluss ziehen, dass Woke nicht links ist.
Ich bin schließlich nicht unwoke, aber halt alles mit Maß und Ziel, ich spreche da gerne von meiner Woke-Life-Balance.
Was könnte ein progressiver Konsens sein?
Denn natürlich folgt geradezu notwendigerweise aus dem Universalismus und den emanzipatorischen Idealen der Linken, dass man für alle Diskriminierungen und auch für subtile Unterdrückungen eine Achtsamkeit entwickeln soll. Dass gerade die massivsten Unterprivilegiertheiten und die härteste Ausbeutung starke Aufmerksamkeit verdienten, unter anderem deswegen, weil davon meist jene befallen sind, die sich besonders schwer Gehör verschaffen können.
Und gibt es darüber nicht in unseren Gesellschaften längst einen Konsens? Ich denke, wir können uns heute auf einige weitgehend anerkannte, allgemein geteilte Haltungen stützen. Etwa:
Niemand soll diskriminiert werden. Niemandem soll es unnötig schwer gemacht werden. Jedem steht auch Empathie zu. Wir sind eine vielfältige Gesellschaft, die sich aber gerade trotz dieser Vielfalt als ein Wir verstehen sollte. Als Gesellschaft können wir durchaus von „unseren Kindern“ sprechen, die alle die besten Chancen haben sollen, ganz egal ob die Christian oder Ali, Swetlana oder Marlene heißen. Die Zeit, dass man Frauen wie Freiwild behandeln konnte, und in der junge Mädchen in ihren Berufswünschen automatisch hinter Jungs zurückstecken mussten, sind längst vorbei. Sexuelle Übergriffe sind kein „Kavaliersdelikt“ mehr. Gleiche Chancen für Frauen sind noch nicht verwirklicht, aber heute kann sich wenigstens niemand, der ernst genommen werden will, mehr hinstellen und behaupten, das sei okay so, da es „normal“ ist. Und jeder soll seine sexuelle Orientierung so leben, wie er oder sie will. Ein aggressives „du Schwuchtel“ geht heute nicht mehr. Wer mit seiner Genderidentität hadert, hat es meist ohnehin sehr viel schwerer als jemand, der mit allen seinen Ichs gewissermaßen im Reinen ist. Auf Leuten, die es ohnehin nicht leicht haben, soll man nicht auch noch herum trampeln.
Letztendlich kann man sich auf all das mit den allermeisten Menschen schnell einigen. Vorausgesetzt, dass man sie nicht gleich anbrüllt und vorsorglich beschimpft.