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Folge 19

Für und wegen Sarah Berger

Etwas Altes: Twitterfreund*innenschaft  

Sarah Berger war mit dabei, als ich das erste Mal ein Twitter-Abendessen veranstaltet habe – eine der merkwürdigsten sozialen Erfahrungen aller Zeiten, zumindest für mich. Wann es war, weiß ich nicht mehr genau, ich vermute, 2014. Plötzlich saßen da einige mir aus dem Netz schon mehr oder weniger vertraute Menschen in meinem Zuhause rund um meinen Tisch, und niemand sprach. Mit gesenkten Köpfen sahen alle außer mir auf ihre Smartphones, wie in so einem medienängstlichen Artikel im konservativen Feuilleton. Auch das Essen, das ich vorbereitet hatte, wurde kaum angerührt, und diejenigen, die doch etwas davon probierten, sagten kein lobendes Wort. 

Ich erinnere mich, wie ich sehr verstört in der Küche stand und mich fragte, wohin meine soziale Intuition geraten war, wie ich nicht hatte voraussehen können, dass alle Geladenen mich und was ich sagen, was ich ihnen an Unterhaltung und Gastlichkeit anbieten konnten, einfach total uninteressant fanden. In meiner Vorstellung schrieben sie gerade in Chats: »omg, Christiane Frohmann ist sooo langweilig, wie komme ich hier möglichst schnell raus?«. Umgekehrt dachte ich: Will ich wirklich mit solchen ungehobelten Klötzen meine Zeit verbringen?

Nach einer Stunde löste es sich wie ein Bann. Es wurde gesprochen, gelacht, und die Netz-Freund*innenschaften weiteten sich, wie es ja irgendwie der Plan gewesen war, auf den physischen Raum aus. Rückwirkend würde ich sagen, dass es einfach die unerhört neue Situation des ins Materielle gestülpten digital-virtuellen Umgangs war, die alle Besucher*innen erst mal auf MUTE stellte. Bei späteren Twitter-Essen hatten wir zwar immer noch sehr viel unsere Smartphones in der Hand, weil wir instantan mit denen, die körperlich nicht dabei waren, teilten, was wir gerade erlebten, aber es war schön und nicht verstörend, es passte einfach zu uns in in dieser Zeit. Dies blieb dann ein, zwei Jahre so, aber je mehr Getrolle und »Ja, aber...«-Reingequatsche wir im Netz erlebten, desto weniger waren wir noch bereit, die Schönheit unseres Miteinanders an solchen Abenden uneingeschränkt zu teilen; die Smartphones waren plötzlich nur die Geräte, mit denen man sich am Ende ein Taxi rief. Räumlich abwesende Freund*innen holten wir nun per nicht öffentlichem Video-Livestream dazu. 

Sarah Berger ist also eine Freundin, die ich über Twitter gefunden habe, dieses Mal ganz ohne Beef (Öffnet in neuem Fenster). Ich habe mich für ihren literarischen Ton auf der Plattform interessiert, für ihr Schreiben auf Twitter. Dass ich sie dann auch als Mensch so sehr schätzen lernte, kam allerdings nicht überraschend: Wer so schreibt, hat eine von Offenheit geprägte ästhetische und gesellschaftliche Haltung, die mich verlässlich anzieht und hält. Anfangs habe ich mich im Netz noch ab und zu von Personen einlullen lassen, die diese Offenheit simulieren und bei anderen manipulieren können, aber das lernt man dann ziemlich schnell erkennen und sich vom Hals halten. (Im Netz muss/te man ja leider wirklich jede Erfahrung noch mal aufs Neue machen. Zu »social blobs (Öffnet in neuem Fenster)« auf der einen und »Scrollminne (Öffnet in neuem Fenster)« auf der anderen Seite habe ich ja schon früher etwas geschrieben.)

Etwas Neues: Verlagsüberschreitendes Verlegen

Es ist gar nicht mehr so neu, sondern bereits 2020 passiert: Drei unabhängige Verlage, Frohmann, Herzstück und Sukultur, haben gleichzeitig, nicht kompetitiv, in Konstellation Bücher von Sarah Berger herausgebracht. 

bitte öffnet den Vorhang (Öffnet in neuem Fenster) (SUKULTUR)

Lesen und Schreien (Öffnet in neuem Fenster) (FROHMANN)

Sex und Perspektive (Öffnet in neuem Fenster) (herzstueckverlag)

Wir Verleger*innen fanden das wundervoll, irgendwie hat es aber wohl kaum jemand mitbekommen, weil alle mit Corona beschäftigt waren. Es ist also noch wie neu, falls ihr euch jetzt darüber begeistern wollt.

Etwas Geborgtes: Mein wahres Gesicht vorgeschlagen (Clemens Setz)

Ich kenne Menschen, die haben Angst vor ihr. Sie behelfen sich damit, sie als Tinder-Poetin zu bezeichnen, bloß weil aus ihrer Feder das beste, perfekteste Buch stammt, das von Dialogerfahrungen mit dieser App inspiriert wurde. Angst macht nicht mal besonders erfinderisch.

Aber diese Angst, die manche empfinden, ist natürlich nur ihr eigenes Schwindelgefühl angesichts der Innovationswucht im Werk von Sarah Berger. Ihr 2017 erschienenes Match Deleted wirkte als Poesie so direkt ins Gehirn, dass man sich beim Lesen andauernd selbst in die dort in ihrem ewigen und unergründlichen Kontaktaquarium dahintreibenden »Er« und »Sie« verwandelte.

Sarah Bergers Werk, in dem die hier versammelten und zuerst in Auszügen auf Instagram veröffentlichten Collagen einen elektrisierenden Höhepunkt bilden, erinnert mich jedes Mal daran, wie unbunt und kreuzbrav es in Wahrheit in der deutschsprachigen Dichtung zugeht. Und ich fühle mich zurückversetzt an damals, wo ich, selbst noch in einigermaßen punkfähigem Alter, die Bücher von Dennis Cooper, Kathy Acker und Eileen Myles entdeckte und darüber jahrelang den Verstand verlor.

Das waren Dichter*innen, die den Blick wiederbelebten. Und genau das tun auch diese Collagen. Wer ist nicht schon einmal an Graffiti in irgendeiner beliebigen Stadt der Welt vorbeigegangen, nur um festzustellen, dass man die Sätze aufgrund ihrer ultraverzerrten Buchstabenform kaum flüssig lesen kann: Man verwandelt sich vor ihnen in einen Menschen des Mittelalters, der in der Kirche in Zeitlupe die bunten Glasfenster entziffert, die ihm vom Leben der Heiligen berichten.

Die Collagen wirken ähnlich hypnotisch und verlangsamend, weil man zuerst immer automatisch den dicker und in Farbe gedruckten Text liest und erst dann »zwischen den Zeilen« die Fragmente der Screenshots von Chatunterhaltungen, Google-Suchen, Tweets und eigenen älteren Postings. Es sind Übermalungen, aber weniger feierlich und aneignend als bei den Großberühmten dieser Form wie Arnulf Rainer und Günter Brus, sondern zärtlicher, komplizierter, weirder, liebenswürdiger und weiser.

Mein Blick springt ständig hin und her zwischen normalem und voyeuristischem Lesen. Immer muss man in Farbe gedruckte Poesie sozusagen mit dem Blick beiseiteschieben, so wie eine Katze eine Tür öffnet, nämlich mit dem ganzen Gesicht, um an die Erfüllung der Neugier zu gelangen. Mit einem österreichischen Ausdruck: man stierlt – was so viel bedeutet wie »unerlaubt in etwas kramen, suchen, herumstöbern«.

Wie genau die Überblendungen dieser mehrdimensionalen Poesie gearbeitet sind, sieht man an dem großen Humor und Charme, den manche Übermalungen sozusagen aus dem Nichts erzeugen. Eine gescreenshottete Tinder-Bio, in der allen Suchenden versichert wird, »auch ein kurzes vergnügen ist ein vergnügen. mein wahres gesicht«; auf diese Formel folgt noch ein Wort (oder sind es zwei?), man kann es nicht entziffern, weil ein Stockwerk höher in der Collage ein neues Wort darübergedruckt wurde: »vorgeschlagen«. Mein wahres Gesicht vorschlagen. Oder die mehrmals durch die Texte läutende Frohebotschaft, dass demnächst male sex robots with unstoppable bionic penises veröffentlicht werden. Unstoppable.

Das Stierln in diesen Texten ist endlos möglich, endlos erlaubt. Manche sind regelrechte Lobeshymnen an die Seltsamkeit, sich auf der Erde und obendrein in einem Körper zu befinden. Manche dagegen sind Klagen über all die seelenzersetzenden Getrenntheiten, in denen sich die Menschheit neuerdings verfangen hat. Aber egal, welchem Lager man eher angehört, es ist unmöglich, sich angesichts dieses herrlichen Buches nicht zu erfreuen an seiner radikalen Güte, seiner fairen Wut, seiner misstrauischen Menschenliebe und seiner florettartig anmutigen Kampfansage.

(Vorwort zu Lesen und Schreien (Öffnet in neuem Fenster) von Sarah Berger, 2020)

Etwas Uncooles: Immer weiter kämpfen müssen sollen

Was mich auch sehr eng mit Sarah Berger verbindet, ist, dass wir Leidensgenossinnen sind, was das überzeugte instantane Publizieren im Netz und das auf multiple Weise dafür Büßen angeht. Wir sind in den letzten zehn Jahren beide so krass mansplaint, belästigt, bedroht – Sarah noch viel schlimmer als ich –, kleingeredet, rausgehalten und beklaut worden, dass es jeder Beschreibung spottet. Und wir halten uns deswegen seit Jahren die Hand und die Haare, stützen uns, wenn es wieder passiert, lachen es weg, wenn wir können. Leider werden wir auch gemeinsam müder, die Kraft und Bereitschaft lässt nach, immer obendrauf auf unsere Arbeit dafür zu kämpfen, dass diese wahrgenommen und sachlich betrachtet wird. Wir wissen sehr genau, dass wir gute Texte veröffentlichen, teilweise damit auch unserer Zeit voraus sind, aber es nützt uns rein gar nichts. Außerdem gelten wir als Aktivistinnen, schlimmer geht es wirklich nicht.

Ich habe vor ein paar Tagen den FrauFrohmann-Account auf Twitter deaktiviert, weil mir die Luft ausgeht, ich will fortan als Person hinter dem Verlag und den Präraffaelitischen Girls verschwinden, um wieder Raum für die Arbeit zu haben. Schöne Grüße an den Herrn Professor, der u. a. auf meine Kosten und trotz unprofessionellen Fehllesens meiner Aussagen gerade SICH mit einer neuen Quatschdebatte ins Gespräch gebracht hat. Ich müsste unbedingt öffentlich darauf antworten, hat man mir aus unterschiedlichen Richtungen gesagt, und gestern hat man mir auch noch gesagt, ich dürfte dies und das nicht, weil sonst die Nazis gewonnen hätten. – Nein. Ich möchte endlich wieder meine eigenen Positionen formulieren und nicht mehr auf ewig gleichen Quatsch in neuen Worten reagieren. Mit Reaktionären teile ich nicht den gleichen Raum und DAS werde ich jetzt sichtbar machen. 

Für Sarah Berger zum heutigen Geburtstag wünsche ich mir, dass alle, die in der Position sind, etwas zu ändern, statt Veränderung nur richtig und wichtig zu finden, wirklich etwas ändern. Schreibt über ihre Arbeit. Sie hat u. a. im deutschsprachigen Raum zuerst die Dating-App- und Chatkommunikation literarisiert, breit berichtet wurde jedoch nur über die Innovationskraft von Büchern, die lange nach Match Deleted in großen Verlagen erschienen sind.  

Ihr könnt es bessern. 

Rubrikloses

Damals, als man noch in Cafés schrieb, schrieb Sarah Berger oft an diesem Platz. 

Verlagskatze Laser verabschiedet Verlagsautorin Berger.

Sarah Berger bei Lesung im OYA, 2019 (Öffnet in neuem Fenster)

Sarah Berger, 2019 im ACUD (Öffnet in neuem Fenster), Berlin. (Anmerkung der Verlegerin: Ganz ehrlich, wir hätten uns auch nicht träumen lassen, dass im 21. Jahrhundert Titten raus wieder eine ästhetische Provokation sein würde.) 

Happy Birthday, Sarah Berger, I love you so much! 

Guerlica 

Zurück zum Verzicht, wir sehen uns in einer Woche wieder.

– Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

FrauFrohmann 

Kauft und lest nicht zur Feier des Tages Bücher und E-Books von Sarah Berger. Wir haben aktuell ihre Titel auf die Startseite vom Verlagsshop gepackt (Öffnet in neuem Fenster). Sarah-Berger-Ultras, euch gibt es ja zum Glück auch: Bitte macht unbezahlt Werbung – einmal durchs Internet und zurück.

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