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Folge 42

Etwas Altes: Angst im Dunkeln

Gestern Nachmittag habe ich auf Twitter in Solidarität mit Tessa Ganserer einen Tweet geschrieben. 

»Eine als Frau wahrgenommene Person hat – aber das wird ja weggejaabert – auf dem Weg zum Bus schon mehr Gewalt durch cis Männer erlebt als in ihrem ganzen Leben durch trans Frauen.« (Öffnet in neuem Fenster)

Gestern Abend fuhr ich nach 22 Uhr mit dem Bus nach Hause. Auf dem Vierersitz neben mir saß ein angesoffener Typ in mittleren Jahren. Während der Fahrt kippte eine Alkflasche zu seinen Füßen klirrend um, daraufhin grunzte er etwas Unverständliches. Seine Präsenz war für alle im Bus spürbar unbehaglich, man kennt das. Natürlich nur, wenn man Bus fährt. Als ich den Halteknopf drückte, rief der Typ »Yesssssss!« Ich hoffte inständig, mich verhört zu haben. 

Die Haltestelle ist sehr abgelegen, links und rechts von der Straße befindet sich ein Park. Mein erster Gedanke war, ich fahre einfach eine Haltstelle weiter und laufe zurück, der Weg ist dann etwas sicherer, weil da Häuser sind. Ich bin aber doch ausgestiegen, weil es mir peinlich war, dem Busfahrer zu sagen, dass ich lieber weiterfahren will. (Bitte dieses Problem bei Drinnies (Öffnet in neuem Fenster) bearbeiten.) 

Der Typ stieg mit aus. Sonst niemand. Direkt hinter der Haltestelle ist eine Baustelle, man muss deshalb ganz ran an den Park, ins totale Dunkel. Oder man geht links davon auf dem Radweg und riskiert, von einem Auto erfasst zu werden, vermutlich mit dem nächsten Besoffenen darin. Ich gehe diesen Weg spätabends und nachts trotzdem immer mitten auf der Straße nach Hause. Ganz normale Risikoabwägung. Aber normalerweise ist da niemand, ich tue es prophylaktisch. 

Als ich nach links auf den Radweg ging, schimpfte der Typ irgendwas vor sich hin, vermutlich eine Beschwerde darüber, dass ich mich nicht planmäßig zum Überfall begeben wollte. Mein Handyakku war wegen des hohen Stromverbrauchs durch Bluetooth für die Corona-App leer. Wie alle Menschen mit hohem Angstlevel in potenzieller Gefährdung hielt ich mein nutzloses Telefon ans Ohr und fingierte übertrieben laut ein Telefongespräch, dabei weiterhin zügig mitten auf der Straße gehend, kurz musste ich wegen eines herannahenden Autos auf den Radweg ausweichen, dann gleich wieder zurück auf die Straße. Rennen wollte ich nicht, weil es gezeigt hätte, dass ich Angst habe, was so einen vielleicht noch ein bisschen mehr motiviert hätte. Ich bog in unsere Straße ein und rannte nun doch noch. Zuhause hätte ich fast gekotzt.

Ich bin es so leid, in einer Welt zu leben, in der kontextlos mein bloßer Anblick genügt, einen Übergriff auf mich plausibel zu machen. Es hat nichts mit Attraktivität, Alter, Kleidung, Verhalten zu tun, nur damit, dass ich als weiblich eingeordnet werde. Diese Erfahrung begleitet mich seit meiner frühen Kindheit.

Ich habe keine Angst im Dunkeln, ich habe Angst vor dem Patriarchat. Es nützt mir auch nichts, okaye cis Männer im persönlichen Umfeld zu haben. Das weiß ich, sobald ich auf dem Weg zum Bus oder vom Bus bin.

 

Viele Menschen erleben diese Übergriffigkeit, die sich daraus ergibt, dass man nicht als Subjekt, als Mensch, sondern nur als Funktion, als Objekt in Relation gesehen wird, sogar auf mehreren Ebenen, alltäglich, ständig, jederzeit. Sie haben praktisch niemals Ruhe davon, fühlen sich kaum jemals wirklich sicher. 

Falls jetzt nicht endlich eine grundsätzliche Solidarisierung mit allen, die strukturelle Gewalt erleben, geschieht, wird nichts gut werden, nichts. 

Sagt ihre Namen, erinnert euch an sie, gedenkt ihrer, zeigt euch solidarisch mit ihren Angehörigen. #HanauIstÜberall

Bitte überlegt euch, was geschehen muss, damit Frauen und Queere nachts in Parks gehen können, BIPoC keine Angst mehr vor der Polizei haben müssen, Behinderte ihre Freund*innen ganz selbstverständlich zuhause besuchen können usw. Und dann tut euren Teil dazu, damit es geschieht. Haltet euch nicht mehr mit der Analyse auf, dass Faschist*innen Faschist*innen sind. Was soll es an positiver Veränderung bringen, Bekanntes immer und immer wieder zu wiederholen.

Etwas Neues: Cool ist tot, es lebe cool

Hitze (Öffnet in neuem Fenster) von Raven Leilani (im US-Original: Luster (Öffnet in neuem Fenster), ins Deutsche übersetzt von Sophie Zeitz) habe ich gelesen, weil ich neulich Assembly (Öffnet in neuem Fenster) (deutsch: Zusammenkunft (Öffnet in neuem Fenster)) von Natasha Brown gelesen hatte, begeistert darüber schrieb und redete, daraufhin von Asal Dardan gebeten wurde, ihr das Buch auszuleihen, was ich tat. Dies wiederum löste in Asal spontan den Wunsch aus, mir auch ein Buch auszuleihen, so kam Hitze zu mir. 

Ich wollte das Buch gar nicht so richtig mitnehmen, weil gerade kaum Konzentration, viele Lektorate zu erledigen, drei Stapel ungelesener Bücher zuhause usw., aber habe es dann doch eingepackt und zu meinem nächsten U-Bahn-Buch erklärt. Gestern am frühen Abend war es soweit, als ich zur Gedenkkundgebung von #HanauIstÜberall nach Kreuzberg fuhr. Für die Berliner Nord-Süd-Passage brauche ich immer eine Stunde hin und eine Stunde zurück, stabile Lesezeit.   

Der Blurb von Zadie Smith vorne auf dem Cover von Hitze sagt »Brutal und brillant«, und es stimmt. Brutal war auch das erste Wort, das mir selbst beim Lesen in den Sinn kam. Dieses gute brutal, das einen von den Füßen holt, einen mit offenem Mund dastehen lässt; gut, dass ich beim Lesen in der Bahn saß und eine Maske aufhatte. Ein anderer Blurb hinten auf dem Buch sagt »berührend«, was ja so ziemlich auf jedem guten Buch von Personen steht, die keine able-bodied, neurotypischen weißen cis het Männer mit Unihintergrund sind. – Marginalisierte Menschen auf Bühnen sind entsprechend alle »wunderbar«, vermutlich ist damit gemeint, dass es an ein Wunder grenzt, sie selbst sprechen zu lassen. – Ja, das Buch ist schon berührend, so berührend, wie konsensual einen Faustschlag abzukommen.

Auf den ersten Seiten wehrte sich einiges in mir gegen die Protagonistin. Oh nein! Tu das nicht! Sei nicht so! Ich habe das ganz ähnlich anfangs beim Ansehen von Fleabag an mir beobachtet und erkläre es so, dass es aktuell einfach noch schockhaft neu ist, wenn Autor*innen sich nicht safe als sympathischere Versionen ihrer selbst darstellen, wie es in sehr vielen erfolgreichen Gegenwartsromanen passiert. Wenn Monstrosität nicht nur bei autor*innenunähnlichen Figuren gesehen wird und gleichzeitig nicht romantisiert wird, das ist unglaublich befreiend, vor allem wenn nach und nach geerbte und neue Traumata miterzählt werden, ohne dass das wiederum den ganzen Roman bestimmt. So ist dieses Buch auch sehr sexuell, und das ist trotz der ganzen Issues, die herumgeistern, ästhetisch nicht weird. Was mich am meisten fasziniert: Das Buch ist cool, aber eben nicht auf diese unerträglich gewordene kokainfühllose, stilisierte 80s-Weise. (Das Gleiche kann ich auch über das oben genannte Assembly sagen.) Ich freue mich darüber, denn eine Weile lang habe ich gedacht, dass man sich ganz von Coolness verabschieden müsste. Jetzt werde ich noch mal ganz anders darüber nachdenken.

Ihr aber könnt jetzt erst mal Hitze lesen und mit offenem Mund hinter der Maske in der U-Bahn sitzen. Vielleicht teilt ihr ja meine Einschätzung: Klarkomm-Erzählungen sind gegenwärtig die aufregenderen Entwicklungsromane.

– Dies war eine Begeisterungsrezension, in der kein Wort über den Inhalt steht. Na ja, fast keines. Das mit dem Faustschlag war eine Anspielung.

 

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

»Irgendetwas geschieht, wenn man sich in fremden Spiegeln ansieht.«  – Raven Leilani, Hitze  

Etwas Uncooles: Rosa Schimmel

Ich habe heute zum ersten Mal rosa Schimmel gesehen, bei mir zuhause, im Mülleimer in der pastellfarbenen Küche. Schimmel rangiert bei meinen unheimlichen Ängsten ganz weit vorne, aber rosa Schimmel sieht schon ziemlich stylish aus. Habe ich ihn per magischem Denken selbst hervorgebracht?  

Rubrikloses

Neue fehlende Worte und plausiblere Plurale für euch:

»Erführung« bezeichnet das aktive Ermöglichen von Erfahrung, die das wirkliche Verstehen von theoretisch Gewusstem unterstützt.

Im Deutschen lautet der Plural von Mozzarella ab jetzt Mozzarellen (Quelle: Ulrike Heiß).

Der ästhetisch angemessene Plural von Krach lautet Krachen.

Etwas kontemplative Schönheit für die Woche

Guerlica

Kürzest-Duodrama für den öffentlichen Raum   

1. Akt

Narziss: Hallo, schöne Frau, zieh mal die Kopfhörer ab, du kannst mich ja gar nicht hören.  

Echo: Warum, deshalb trage ich sie doch.

2. Akt

Narziss: Hallo, junge Frau, was lesen Sie denn da Schönes?  

Echo: Weiß nicht, ich lese eigentlich nur, um nicht angequatscht zu werden, bloß weil ich da bin.

3. Akt

Narziss: Echo, laberlaberlaber. Echo? Echooo? E-C-H-O!!!? 

Echo: 

Das Patriarchat verblüht instant.

 ENDE

Zurück zur Echonomie, zur Echokratie, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO, Frau Frohmann

Empfehlt #NewFrohmanntic gern im Gespräch mit Freund*innen oder in sozialen Medien. Seht mal beim Frohmann Verlag (Öffnet in neuem Fenster) vorbei. Werdet mit PGExplaining-Shirts (Öffnet in neuem Fenster) lebende ästhetische Intervention im öffentlichen Raum. 

Danke allen, die über steady finanziell unterstützen, egal ob das gesamte Frohmann-Publishing (Öffnet in neuem Fenster) oder isoliert den Newsletter (Öffnet in neuem Fenster).  Genauso danke allen, die wenig Geld haben und auf andere Weise immer an unserer Seite sind. Ich glaube schon an ein wir, eines, das sich ergibt und verändert und nicht gesetzt ist.

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