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Folge 27

Umsehen lernen

Ihr könnt an vielem gerade nichts ändern.
Ihr könnt an vielem gerade etwas ändern.

Klimakatastrophe, Nationalismus, strukturelle Diskriminierung und Corona finden gleichzeitig statt, kosten gleichzeitig durch politische und gesellschaftliche Ignoranz unersetzliche individuelle Menschenleben, müssen gleichzeitig und gemeinsam bekämpft werden. Es ist nicht witzig, wenn der Ozean brennt, und es ist nicht malerisch, wenn auf dem überfluteten Markusplatz in Venedig Paare tanzen. Es ist das drohende Ende der Menschheit, zumindest jener 99 %, die nicht das 1 % sind. – Verstellt euch nicht länger mit Ironie und Romantisierung den emotionalen Zugang zur begründeten Angst um euer Leben und berechtigten Wut darüber, dass keine hinreichenden Maßnahmen zu eurem Schutz und zum Schutze anderer ergriffen werden. Wenn ihr angesichts von emotionalen Netflix-Serien oder Sportereignissen gerührt auf euren Screen weint, aber Hanau, Moria und die Coronatoten nichts in euch auslösen, fragt euch doch mal, ob das nicht merkwürdig ist und ob ihr wirklich so sein wollt. Ich schreibe das nicht aus einer darüber erhabenen Perspektive, sondern stelle auch an mir eine Verrohung fest – nicht grundsätzlich, aber im Vergleich zu früher – und würde gern wieder anders, mitfühlender sein.

Der gesellschaftliche Riss verläuft zwischen denen, die gute Leben für sich und »ihre Leute« und denen, die bessere Leben für alle wollen. Zweitere würden für Erstere mitsorgen, Erstere nehmen für ihren Lifestyle auch den Tod von Menschen in Kauf. Manche Menschen glauben, weil sie mehr Geld haben, auch mehr Menschenrechte zu verdienen.

Warum reden wir nicht zuerst und so lange, bis es zufriedenstellende Antworten gibt, über die Frage, wie alle lebenden Menschen sicher und würdevoll existieren können. Und wie vielleicht auch andere Lebewesen nicht wegen uns unnötig leiden. Alles andere ist weniger bedeutend oder ergibt sich daraus.

Umsehenlernen ist etwas, das man nicht kaufen und konsumieren kann, man muss es wollen und dann für immer an sich arbeiten. Es tut oft weh, weil man merkt, dass man in der Vergangenheit an Unrecht mitgewirkt hat und es auch in der Gegenwart manchmal noch tut.

Umsehenlernen ist die Voraussetzung dafür, dass bessere – würdige, sichere – Leben für alle möglich sind. Es gibt keine Alternative für Deutschland und keine für die Welt.

Wir müssen lernen, dass es, wenn wir sagen »Es geht so nicht mehr weiter«, wirklich nicht mehr weitergeht. Der 26. September ist für viele der Tag, um damit zu beginnen.

Es gibt gute Gründe, Kapitalismus, Nationalstaaten, Parteiensystem für anachronistisch zu halten. Aber aktuell sind sie nun mal der bestimmende Rahmen, das Maß aller Dinge, also geht bitte wählen (und lasst euer Geld nicht bei Nazis oder Monopolisten).

Wählt als die Menschen, die wegen zu jungen Alters oder anderen Passes nicht wählen dürfen. Wählt auch als die Menschen, die ihr wirklich sein, die ihr werden wollt. Es ist eine historische Wahl, macht euch eure persönliche Verantwortlichkeit bewusst.

Fragt euch:

In welchen Krankenhäusern, mit welchen Hebammen sollen die Kinder, die Menschen theoretisch unbedingt zur Welt bringen sollen, praktisch zur Welt gebracht werden, in welchen bezahlbaren Wohnungen sollen sie leben, in welchen Kitas sind Plätze für sie frei?

In welcher Pandemie werden die Kinder, die Menschen theoretisch unbedingt zur Welt bringen sollen, dann praktisch wie unersetzliche Individuen behandelt und nicht wirtschaftlichen Überlegungen nachgeordnet?

Auf welchen Fuß- und Fahrradwegen kommen die Kinder, die Menschen theoretisch unbedingt zur Welt bringen sollen, dann praktisch sicher zur Schule?

In welchen Schulen und Universitäten erleben die Kinder, die Menschen theoretisch unbedingt zur Welt bringen sollen, dann praktisch keine rassistischen, sexistischen, klassistischen, behinderten- und queerfeindlichen Ausschlüsse?

Auf welchem Planeten finden die Kinder, die Menschen theoretisch unbedingt zur Welt bringen sollen, jetzt gerade praktisch noch Lebensbedingungen vor, die ihnen etwa 80 Jahre lang ihr Überleben sichern?

Konservative Parteien können uns in der Klimakatastrophe nicht retten und sie sind auch nicht in der Lage, Marginalisierte vor struktureller Gewalt zu schützen. Für beides ist Umsehenlernen die Voraussetzung, was sie nicht können, weil sie genau das als etwas per se Schlechtes ansehen. Die SPD zeigt aktuell gar keine identifizierbare soziale Haltung und versucht, mit dezenter Zurückhaltung zu punkten,– ein gut(bürgerlich)er Stil hilft aber leider nicht gegen Hochwasser, Dürre und Rechtsterrorismus.

Auch GRÜNE und LINKE werden keine perfekte Politik machen; nicht nur, wer sie nicht wählt, wird einiges schlimm finden. Trotzdem sollte man unbedingt grün oder links wählen, weil niemand sonst Politik macht, die den notwendigen Raum bietet für partizipative neue Bewegungen, die wie Fridays for Future direkt in Teilen der Gesellschaft entstehen. Diese freien Bewegungen werden den Unterschied machen. Bei der Bundestagswahl 2021 geht es in erster Linie darum, die Tür aufzuhalten: für Möglichkeiten.

In Gesellschaften, in denen Menschenrechte wirklich gesetzt, geachtet, gelebt werden, braucht keine Menschengruppe den Schutz einer anderen. So eine Gesellschaft gibt es aktuell noch nicht auf der Welt. Aber sie ist möglich. Das Naheliegende sollte nicht länger unvorstellbar sein. Es ist an an der Zeit, dass die Menschheit ihren Fortschrittsglauben im Sozialen verankert.

Dies ist vor allem eine Offenhaltenvonmöglichkeitenwahl. Schlagt nicht die Tür zu, nicht vor anderen und nicht vor euch selbst. 

Ihr könnt an vielem gerade nichts ändern.
Ihr könnt an vielem gerade etwas ändern.

Seid lieb, nur nicht zu Nazis – und heute auch nicht zu Konservativen und Style-first-Menschen. 

XOXO,
FrauFrohmann

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