Der Übermedien-Newsletter von Stefan Niggemeier.
Liebe Übonnentin, lieber Übonnent,
wir haben neulich in der Redaktion noch darüber geredet, wann genau wir eigentlich Artikel von externen Autoren als „Gastbeitrag“ kennzeichnen und wann einfach als „Kommentar“. Eine genaue Abgrenzung ist uns, ehrlich gesagt, nicht eingefallen.
Aber jetzt hilft uns Mathias Döpfner, Axel-Springer-Erbe und kurze Zeit noch Präsident des Zeitungsverlegerverbandes. Er erklärte vor zwei Tagen seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber irgendwie auch uns allen (Öffnet in neuem Fenster), die „Funktion des Gastkommentars“:
„Die Idee von Gastkommentaren ist ja, das Spektrum des Sagbaren bis an die Grenzen auszuloten und auf diese Weise Debatten anzustoßen. Deswegen schreiben da oft Autoren, die nie Eingang in normale Kommentarspalten finden würden.“
Bullshit.
Daran erkennt man die besondere intellektuelle Brillanz des größten anzunehmenden Zeitungsverlegers: dass er es schafft, auf so knappem Raum so viel Unsinn zu verbreiten.
Erstens ist es natürlich nicht die Idee von Gastkommentaren, irgendwie besonders extreme Positionen ins Blatt zu holen. Das ist auch ganz (Öffnet in neuem Fenster) offenkundig (Öffnet in neuem Fenster) nicht die Idee von Gastkommentaren in der „Welt“.
Es ist nur so, dass in dieser Woche ein Gastkommentar in der „Welt“ erschienen ist (Öffnet in neuem Fenster), der feindselig über queere Geschlechtsidentitäten und ihre Darstellung bei ARD und ZDF schrieb und massive Proteste auslöste – intern wie extern. (Lesen Sie dazu auch den Gastbeitrag von Johannes Kram auf Übermedien (Öffnet in neuem Fenster).) Döpfner distanzierte sich danach deutlich von Inhalt und Form des Textes, verteidigte aber, dass er in der „Welt“ veröffentlicht wurde – unter anderem mit dem von ihm spontan erfundenen Prinzip des Gastkommentators als Grenzerkunder im Land der Sagbarkeit.
Das ist der zweite Unsinn in Döpfners Sätzen: Dass es ein guter Weg sei, Debatten voranzubringen, indem man so nah wie möglich an die „Grenzen des Sagbaren“ geht. So würde ein Medium wie die „Welt“ natürlich gerne ihre Marketingstrategie als etwas intellektuell Produktives und gesellschaftlich Wünschenswertes verbrämen. Provokationen „am Rande des Sagbaren“ erregen Aufmerksamkeit, bringen Klicks und vielleicht sogar Abos. Aber regelmäßig (und nicht überraschend) vergiften sie Debatten, statt zu einer Klärung beizutragen. Und sie erweitern die Grenzen des Sagbaren – und können extreme Positionen mainstreamtauglich machen.
Natürlich ist es gut, wenn Diskussionen um neue Positionen bereichert werden; wenn Leute von außen, Experten, Betroffene, Aktivisten, ihre eigenen Perspektiven einbringen. Diese Art eine vielfältigen und kontroversen Debatte hat aber nichts mit einem gezielten „an die Grenzen gehen“ zu tun. Man übertrage den Gedanken versuchsweise auf ein Thema, das den Leuten bei Axel Springer ganz besonders am Herzen liegt: Wie naheliegend ist der Gedanke, dass man eine gute Debatte über Israel anstoßen kann, indem man das Spektrum des Sagbaren bis an die Grenzen auslotet? Lasst uns versuchen, so dicht wie möglich an den Antisemitismus heranzuargumentieren? Warum sollte eine solche Taktik bei einem schwierigen, heiklen, sensiblen Thema wie Transgender vernünftiger, fruchtbarer, unproblematischer sein?
Der Kollege Daniel Bröckerhoff, der unter anderem für den NDR arbeitet, hat es gut auf den Punkt gebracht (Öffnet in neuem Fenster): Der Gastbeitrag, den die „Welt“ veröffentlicht hat, „ist so zuträglich für eine Debatte über Transidentität wie Beiträge von Dr. Homburg zu Pandemien“.
Und dann ist da noch Döpfners Punkt, dass in „Gastkommentaren“ oft Leute zu Wort kämen, „die nie Eingang in normale Kommentarspalten finden würden“. Selbst wenn das so wäre, führt es als Versuch, eine Distanz zwischen den fünf Gastkommentatoren und der Redaktion aufzubauen, im konkreten Fall in die Irre. Verfasst wurde der Text nämlich nicht zuletzt von der Biologin, Journalistin und Werbetexterin Rieke Hümpel. Die fand mit ihren Positionen schon häufiger Eingang in die, naja, „normalen“ Kommentarspalten der „Welt“, mit Beiträgen wie „Gendern – das erinnert mich inzwischen an einen Fleischwolf“ (Öffnet in neuem Fenster) oder „Sollten Minderjährige bei ihrer Geschlechtsidentität mehr Rechte bekommen?“ (Öffnet in neuem Fenster) (kurz gesagt: nein). Die „Welt“ nannte sie dort: „unsere Autorin“.
Döpfners Brief an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Axel Springer ist ein Versuch, bewaffnet mit ein paar Nebelkerzen zu deeskalieren. Er verteidigt prinzipiell die Veröffentlichung eines Artikels, den er „in der Sache unterirdisch“ und im Ton „oberflächlich, herablassend und ressentimentgeladen“ nennt. Dann beklagt er die heftigen Reaktionen darauf, die „Ausgrenzung“, zum Beispiel weil Axel Springer bei der LGBTQ+-Jobmesse Sticks & Stones nicht mehr als Partner willkommen sei. „Es ist eine fast tragische Pointe, wenn ausgerechnet der Kampf für Vielfalt und Inklusion, für Toleranz und Freiheit der Lebensformen mit den Mitteln von Ausgrenzung, Intoleranz und Unfreiheit geführt wird“, schreibt Döpfner, und, schwupps!, sind nicht mehr trans oder nicht-binäre Menschen die Opfer in dieser Geschichte, sondern der arme Springer-Verlag.
Er beklagt sogar allen Ernstes „die Polarisierung von Publizistik und Gesellschaft“, bezieht das aber nicht auf den Gastbeitrag, sondern auf die Reaktionen darauf. Warum man ausgerechnet einen – nach seinem eigenen Urteil – unterirdischen, ressentimentgeladenen Artikel zum Ausgangspunkt für ein gutes Gespräch nehmen soll und nicht mit einem Gesprächsabbruch reagieren, bleibt sein Geheimnis.
Auch „Welt“-Chefredakteur Ulf Poschardt hat inzwischen auf die Kritik an dem „Gastkommentar“ reagiert (Öffnet in neuem Fenster). Er zählt verschiedene Einwände verschiedener Kolleginnen und Kollegen gegen den Text auf, die er sich ausdrücklich nicht zu eigen macht, und kündigt eine kontroverse Auseinandersetzung mit den Thesen im Blatt. Poschardt selbst hatte sich den „Gastkommentar“ auf LinkedIn und Facebook zu eigen gemacht. Als ein Facebook-Nutzer ihn angesichts der Aufmachung mit der Sendung-mit-der-Maus-Maus vor (falsch herum dargestellter) Regenbogenflagge fragte: „im Ernst?“, ließ Poschardt das reflexhaft abtropfen: „Text gelesen?“
Die Aufmachung hat die „Welt“ inzwischen geändert, und Poschardt schreibt, er wolle sich, „stellvertretend für viele engagierte Kolleginnen und Kollegen im Unternehmen, ganz konkret“ bei einer Person entschuldigen: Philipp Kaste. Der engagiert sich bei Springer im LGBTQ+-Netzwerk „Queerseite“, und sah seine Arbeit durch den Artikel zunichte gemacht. Poschardt schreibt: „Philipp saß da, war höflich und konstruktiv, und wir haben uns in die Hand versprochen, dass wir die Dinge künftig noch besser machen.“
Noch besser.
Es ist gut, dass die Kritik an dem Anti-Trans-Artikel so laut war, dass sich Poschardt und Döpfner gezwungen sahen, öffentlich zu reagieren. Aber es ist unklar, wie Springer auf Dauer den Spagat schaffen will: Einerseits sich als Unternehmen, nicht zuletzt auch international, ganz besonders modern und weltoffen zu geben. Und sich andererseits, gerade in der „Welt“, als einzig wahre oppositionelle Stimme gegen einen wahrgenommenen linksgrünen Mainstream zu profilieren, als nach Aufmerksamkeit gierender Troll und als Kulturkämpfer von rechts und von gestern.
Wie akrobatisch dieser Spagat ist, sieht man unter den Artikeln an der Funktion, in der die Leserschaft Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken kann. Der Anti-Trans-Gastbeitrag bekam von fast 10.000 „Welt“-Abonnenten ein Daumen-hoch-Zeichen; nur knapp 450 senkten den Daumen.
Döpfners In-eigener-Sache-Artikel mit der Überschrift „Unser Haus steht für Vielfalt und Freiheit“ hat dagegen nur knapp 600 positive Reaktionen, aber fast 2400 negative. In den Kommentaren findet sich fast ausschließlich wütender Widerspruch von Abonnenten über den „feigen Kotau“ vor der „Regenbogen-Lobby“ und den „Schneeflöckchen“.
Diese Woche neu auf Übermedien
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Erinnern Sie sich an Josef Joffe, den Herausgeber der „Zeit“, der seinen Freund und Bankier Max Warburg vor Recherchen der „Zeit“ über die illegalen #CumEx-Geschäfte warnte? Im vergangenen Monat hatte Cum-Ex-Rechercheur Oliver Schröm ja einen Brief veröffentlicht (Öffnet in neuem Fenster), in dem Joffe sich bei Warburg über dessen Undankbarkeit beklagte, obwohl er mit seiner „Intervention“ angeblich dafür gesorgt habe, „dass das Stück geschoben wurde und die Bank die Gelegenheit erhielt, Widerrede zu leisten“. (Die Gelegenheit hatte die Bank in Wahrheit auch vorher schon.) Nach einem öffentlichen Aufschrei entschieden die Verleger der „Zeit" und Joffe „einvernehmlich“, dass sein Mandat als Herausgeber „ruht".
Joffe aber ruht noch nicht. Er gab der „Welt“ jetzt ein Interview (Öffnet in neuem Fenster), in dem er sich, natürlich, als Opfer darstellt, dem übler mitgespielt wurde als Tätern im Wilden Westen: Die hätten, bevor sie gehängt wurden, üblicherweise wenigstens noch einen fairen Prozess bekommen. „Heute gerät schon der Verdacht zum Beweis, die Vermutung zum Verdikt.“
Warburg-Warner Joffe hat die Chuzpe, anderen vorzuwerfen, sich nicht an Grundregeln des Journalismus zu halten. Seine Verteidigung läuft im Kern darauf hinaus, dass das, was er Warburg schrieb, gar nicht stimmte, sondern nur ein nachträglicher Versuch war, eine Freundschaft zu retten. Okay.
Die beste Stelle ist aber diese:
WELT: Ihre Herausgeberfunktion bei der „Zeit“ ruht. Sie läuft im März 2023 aus. Faktisch sind Sie also raus. (…)
Joffe: Nicht raus. Mein Mandat ruht, die Bezüge und mein Büro laufen weiter.
Ist das nicht schön? Er bekommt weiter Geld, darf nur nichts mehr dafür tun. Mit so viel Schamlosigkeit muss man erstmal prahlen wollen.
Schöne Pfingsten!
Stefan Niggemeier