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„Zwischen den Jahren – Schleusenzeit – Zeit der Reflektion“

Überall sprießen sie gerade aus dem Boden wie Unkraut, die Jahresrückblicke. Bis jetzt habe ich mich erfolgreich „geweigert“, auch einen zu machen. Nun sitze ich hier und tippe diese Zeilen, war wohl nichts mit dem Weigern lach :-)

Mein Jahresrückblick ist kein fancy „ich reihe meine geilsten Momente in einem Reel aneinander“. Der aller schönste, wichtigste und markanteste Moment war definitiv die Geburt unseres Septembermädchens. Etwas Besseres kann es nicht geben. Also könnte ja nun hier aufhören zu schreiben, Pointe ende. Aber das wäre ja langweilig. 

Der Rest des Jahres 2024 war geprägt von Angst. Angst, die wohl nur Betroffene so richtig nachvollziehen können. Menschen die schon furchtbare Verluste erleiden mussten und danach kaum glauben können, dass ihnen wieder etwas Gutes widerfährt.

Vor 5 Jahren begaben wir uns auf die Reise zu unserem zweiten Kind. Vor fünf Jahren wurde Leonie geboren und ist nach einem „kurzen“, heftigen Kampf 19 Monate später wieder gestorben. Wir haben unser Kind zu Grabe getragen und ich frage mich heute noch manchmal, wie wir das überstanden haben.

 

Jedes Mal, wenn ich nun als Trauerrednerin an einem Grab von einem Kind stehe, fühle ich mit jeder Faser, was diese Eltern nun fühlen. Fühle ihren Schmerz, sehe ihre tiefen Wunden und es ist, als würde ich uns vor nun schon über 3 Jahren dort stehen sehen.  

Das wir Leonies Grab 1,5 Jahre später wieder aufmachen mussten für ein weiteres Kind ist an Artigkeit kaum zu überbieten. An einem verregneten, sehr kalten und grauen Dezembervormittag 2022 standen wir wieder da und ließen wieder ein Kind in dieses dunkle, kalte Loch, das sich Grab nennt, runter.

 

Manchmal liest sich unsere Geschichte wie ein „guter“ Plot. Ein Plot zu einem Buch, das sich kaum einer hätte besser ausdenken können. Nur, dass es eben kein Buch ist, sondern das echte Leben. Unser Leben. Ein Leben, das so oder so ähnlich leider viel öfter passiert, als uns lieb ist. Öfter, als wir es wahr haben wollen.

Schicksalsschläge, die eine Zäsur im Leben darstellen. Es gibt nur noch ein „davor“ und ein „danach“.

In der Trauerbegleitung gibt es den Begriff der „Schleusenzeit“.

Eine Zeit der Anpassung nach solch einer Zäsur. Eine Zeit, in der man zunächst nur versucht, zu überleben.  

Es braucht Rückzug und oft versucht man am Anfang, einfach nur zu überleben. All die Emotionen wie Trauer, Wut, Schuldgefühle und Überforderung wollen bewusst erlebt und verarbeitet werden.  

Eine Zeit, die uns ermöglicht innezuhalten (ob wir wollen, oder nicht), alte Muster oder Zustände zu reflektieren und sich mental, emotional und körperlich auf das „danach“ einzustellen.  

Wie bei einem Schiff das eigentliche Heben oder Senken des Wasserspiegels in der Schleusenkammer, um das Schiff auf die Höhe des oberen oder unteren Wasserspiegels zu bringen, so taumelt man auch nach schweren Schicksalsschlägen zwischen zwei Welten und kommt in keiner so richtig an.

 

Man ist gefangen, alles ist anders, man will zurück doch die Schleuse ist geschlossen. Wir wissen, dass wir auf der anderen Seite weitermüssen, doch wir wollen (noch) nicht. Und so taumeln wir so lange in dieser Schleusenzeit, bis es sich irgendwann besser anfühlt, auf die „neue“ Seite der Schleusenkammer zuzuschippern.

Die Zeit in dieser Schleuse ist notwendig. Es braucht diese Anpassung. Es braucht diesen Raum, um sich Schritt für Schritt mit der veränderten Lebensrealität auseinanderzusetzen.  

Ein bisschen habe ich das Gefühl, dass wir uns die letzten 5 Jahren in so einer Schleusenzeit befunden haben. Da ist ganz vieles einfach abgebrochen, als sich die Schleuse mit Leonies Geburt für immer für das „davor“ schloss.  

Immer wieder trocknete die Schleuse fast bis auf den Grund aus und wir hatten keine Chance, auf der anderen Seite weiterzufahren. Langsam füllte sich das Becken wieder mit Wasser. Wir lernten in dieser riesigen Schleuse zu schwimmen, zu surfen und dann zu segeln. Dann kam Merles Tod und nahm uns unser Schiff. Wieder mussten wir sehr viel schwimmen, um uns über Wasser zu halten. (Ich liebe den Vergleich von Trauer und Wasser, falls es noch nicht aufgefallen ist :-) ) 

Mit der Geburt des Regenbogenmädchens hat sich ganz plötzlich das andere Schleusentor geöffnet. Das Tor für das „danach“.

Doch wir merken, dass es eben nicht so ist, dass man nun einfach die Segel hissen kann und „volle Kraft voraus“ raus aus der Schleuse fährt.

Vieles mussten wir in dieser Schleuse dem Wasser überlassen. Vieles ist kaputt gegangen. Sehr oft haben wir uns beim Schwimmen darin verschluckt und um unser Leben gekämpft. Irgendwann fühlten sich die Wände der Schleuse vertraut an, fast wie zuhause. Und plötzlich ist alles anders. Es braucht Zeit, in diesem „anders“ nun anzukommen.

Es hat ganz schön geruckelt, als unser Leben in den nächsten Gang geschaltet hat…

 

In den letzten Wochen merke ich, dass ich mehr als bereit bin für dieses wieder ganz andere, neu Leben „danach“. Und gleichzeitig weiß ich nicht wie…

Ich habe mir Strategien in der Schleuse überlegt, zwangsläufig, denn ich musste ja irgendwie überleben. Ich habe vieles verlernt, was nun zu lernen schwer ist. Aber vor allem habe ich so oft nach Luft gerungen, dass nun diese frische Briese auf der anderen Seite in den Lungen brennt.  

Mein Jahresrückblick wäre also der, dass 2024 eine Schleusenzeit in der Schleuse war. Die Schwangerschaft war eine Schleusenzeit und die Geburt markiert ein neues „danach“. In diesem „neuen danach“ hat vieles keinen Platz mehr. Ich möchte vieles nicht mehr mitnehmen, wenn die frischen Briese die Segel wieder antreibt. Unser Kompass hat ganz schön verrückt gespielt, und nur langsam zeigt sich der neue Kurs. Wir müssen wieder lernen das Steuerbord in die Hand zu nehmen und los zu schippern. Und bei all dem Neuen dürfen wir nicht vergessen, diese frischen Briese auch zu genießen.  

Ich werde im Januar weitestgehend eine Instagrampause machen. Ich muss mich auf diesem neuen Kurs neu sammeln. Schauen, was ich ins Neue Jahr mitnehmen möchte und zurücklassen, was nicht mehr passt.  

Hier bei Steady habe ich vor, mehr zu machen. Denn das ist etwas, das definit bleiben wird. Meine Schreiberei. Mir fehlt sie sehr und bekommt nun mehr Priorität, anderen Dinge werden dafür weichen.

Auf unserem Weg „in und aus der Schleuse“ möchte ich meine Steadys tiefer und genauer mitzunehmen. Ich freu mich sehr, wenn auch Du mich dabei begleitest.

Bis dahin wünsche ich Dir nun ein schönes ankommen im Jahr 2025, pass auf Dich auf.

Wir lesen uns nächstes Jahr wieder ;-)

Deine Tatjana

 

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