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Sie ist eine der einflussreichsten Kinder- und Jugendbuch-Autor*innen der Welt: Cornelia Funke. Wir freuen uns riesig, dass wir sie als Interview-Gästin für die Treibhauspost gewinnen konnten.
Cornelia hat mehr als 60 Bücher geschrieben, die über 20 Millionen Mal verkauft wurden. Bevor sie in die Toskana zog, hat sie 16 Jahre lang in Kalifornien gelebt, dem „Schaufenster der Klimakatastrophe“, wie sie selbst sagt. Allerspätestens dort wurde ihr klar, wie dringend wir handeln müssen, um unseren Planeten noch zu retten.
Heute erzählt sie uns, warum sie glaubt, dass wir dafür vor allem daran arbeiten müssen, wie wir der Natur begegnen.
Bevor es losgeht aber noch ein riesengroßes Dankeschön an Dich und alle aus der Treibhauspost-Community. Unsere „Abos gegen Rechts“-Aktion war ein großer Erfolg!
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720 neue Leser*innen seit letzter Woche
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Dank Dir und Euch werden jetzt also 1.000 Euro für Demokratie und gegen Rechtsextremismus gespendet. Herzlichen Dank! 💚
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#80 #Interview #Cornelia Funke #Natur
„Unseren Kindern wird gerade die Welt gestohlen“
Kinder- und Jugendbuch-Autorin Cornelia Funke macht gerade ein grünes Jahr, um das Alphabet der Natur zu lernen. Welche Geschichten und Wörter können wir verwenden, um uns mit Tieren, Pflanzen und dem Planeten verbunden zu fühlen? ~ 8 Minuten Lesezeit
Hallo Cornelia, nimm uns doch mal kurz in deinen Garten mit. Was ist für dich das Besondere an den Pflanzen, die dort wachsen?
Das ist nicht wirklich ein Garten, eher ein wilder Hügel. Als ich aus Kalifornien kam, war es ein großes Abenteuer für mich, die Natur hier zu erkunden. Was ist vertraut, was vollkommen fremd?
Manche Pflanzen machen uns sentimental, selbst wenn uns gar nicht klar ist, dass wir uns an sie erinnern. Weil sie uns vielleicht in den Garten unserer Großmutter oder eines Nachbarn zurückversetzen.
Ich finde faszinierend, dass wir oft bestimmte Gärten in unserer Erinnerung haben, die uns definiert haben und vielleicht sogar mehr mit uns angestellt haben, als wir es ahnen. Kinder wachsen heute leider viel seltener in solchen Gärten auf. Der Autor Richard Louv nennt das „Nature-Deficit Disorder“.
Die meisten von uns haben einen Analphabetismus, was die natürliche Welt betrifft. Ich habe dieses Jahr deshalb zu meinem „grünen Jahr“ erklärt, um meinen Analphabetismus ein klein wenig anzukratzen.
Cornelia Funke lebt in der Toskana auf einem ehemaligem Bauernhof. Sie lädt regelmäßig junge Künstler*innen zu sich ein, die sich von diesem Ort inspirieren lassen und zusammen mit anderen kreativ werden möchten.
Im Pod der guten Hoffnung (Öffnet in neuem Fenster) hast du schon gesagt, dass wir alle das „Alphabet der Natur“ wieder lernen sollten. Bei welchem Buchstaben bist du gerade?
Ich hatte nie erwartet, weiter als bis B zu kommen.
Wieso das?
Ich lese seit vielen Jahren nur Sachbücher, aber dieses Jahr lese ich ausdrücklich über Pflanzen, Tiere, Landwirtschaft und die Entwicklungsgeschichte dieses Planeten. Jedes Buch bestätigt mir, wie wenig ich weiß. Die Vielfältigkeit der Natur ist einfach so atemberaubend. Bis ich an „A“ vorbei bin, werden wahrscheinlich zehn Jahre vergehen.
Und was ist mit dem menschlichen Alphabet? Brauchen wir mehr Natur in unserer Sprache?
Darüber gibt es das wunderbare Buch „Lost Words“ von Robert MacFarlane. Er hat analysiert, welche Worte aus der Encyclopedia Britannica gestrichen werden: alles Namen von Tieren und Pflanzen. Weil sie Kinder scheinbar nicht mehr interessieren und man sie auch nicht mehr benutzt. Stattdessen werden Technologie-Worte aufgenommen.
Dass Kindern die Worte genommen werden, ist etwas unendlich Erschreckendes. Irgendwann können sie eine Brennnessel nicht mehr von einer Distel unterscheiden. Viele Menschen, die auf meinen Hof kommen, kennen den Unterschied heute schon nicht mehr. Sie wissen auch nicht, dass beides Heilpflanzen sind. Oder dass römische Soldaten sich die Glieder mit Brennnesseln peitschten, um sich für die Schlacht vorzubereiten.
Wenn all diese Geschichten verloren gehen, verlieren wir auch etwas, das wir unbedingt brauchen, nämlich die Metapher – das Vergleichen des Menschen mit anderen Wesen und das Verstehen durch das Andere. Wenn ich zum Beispiel sage: Ich bin so stark wie ein Bär. Oder ich bin so ängstlich wie ein Kaninchen.
Oder ich zittere wie Espenlaub.
Ja, fantastisches Beispiel. Das sagt keiner mehr, weil keiner mehr weiß, was eine Espe ist. Wenn wir all diese Bilder verlieren, wird das eine sprachliche Katastrophe, weil wir nur noch in menschlichen, funktionalen Bildern denken werden.
Dann zittert man eher wie ein 13-Jähriger auf TikTok-Entzug.
Genau. Es wird andere Bilder geben, sie werden wahrscheinlich nur sehr mechanistisch sein.
„Ich versuche, die Illusion zu brechen, die wir als Menschen haben: dass wir die Welt wahrnehmen, die Welt uns aber nicht.“
Hier im Newsletter und in unserem Sammelband „Unlearn CO₂“ haben wir darüber geschrieben, dass uns die Wörter fehlen, um zu benennen, was mit dem Klima gerade passiert. Wir beschreiben es als, „das, dessen Name nicht genannt werden kann“. Wie siehst du das?
Ich glaube auch, dass wir die Wörter dafür erst finden müssen. Das gilt auch für die Kunst. Wir müssen in unseren Geschichten, Bildern und Liedern von dem reden, was passiert. Aber das Beschreiben allein ändert natürlich nichts, wir brauchen auch das Erleben. Solange sie es nicht selbst erleben, können wir Kindern oder auch Erwachsenen noch so oft erzählen, dass ihnen die Welt verloren geht.
Hier in der Nord-Toskana wurden die Oliven früher im Pullover gepflückt, heutzutage im T-Shirt. Viele Italiener*innen wissen also, was passiert. Aber das ist noch kein Vergleich zu Kalifornien, wo ich 16 Jahre lang gelebt habe. Ich habe die Landschaft um mich herum sterben sehen, weil es keinen Regen mehr gab.
Ich bin wegen Waldbränden mehrmals evakuiert worden. Irgendwann ist die Farm neben meiner abgebrannt und ich habe ständig mit gepacktem Koffer gelebt, für den Fall, dass ich erneut davonlaufen muss.
💌 Ausgabe #36: Das, dessen Name nicht genannt werden kann (Öffnet in neuem Fenster)
Wenn man die Landschaft so sterben sieht, hinterlässt das bestimmt Spuren. Würdest du sagen, dass du der Natur gegenüber empathisch bist?
Für mich ist etwas anderes als Mitgefühl viel wichtiger. Ich versuche, die Illusion zu brechen, die wir als Menschen haben, dass wir die Welt wahrnehmen, die Welt uns aber nicht.
Ich versuche, den Dialog zu eröffnen, indem ich mir bewusst mache, dass alles, was um mich herum lebt, mich ebenso wahrnimmt. All die Warnrufe, die da plötzlich erschallen, wenn wir einen Weg herunter kommen, der wachsame Blick einer Eidechse … Wir sind von so viel Leben umgeben.
Aber wir brauchen das Wissen darüber nicht länger für unser eigenes Überleben. Sich über die Natur zu informieren, ist heute eher ein Hobby als eine Notwendigkeit. Aber dieser Planet macht uns gerade mit Feuer und Fluten klar, dass wir ihn keineswegs beherrschen, sondern uns in unserer Ignoranz die eigene Lebensgrundlage nehmen.
Gerade unsere Städte pflanzen in uns ein sehr sentimentales Verständnis von Natur.
Würde gegen Natur-Sentimentalität helfen, sich weniger in Städten aufzuhalten?
Die Stadt macht einem leicht vor, dass man in einem sehr komfortablen Aquarium lebt. Einige, die erstaunt sind, wie entspannt sie sich auf meinem wilden Hügel fühlen, sagen beim Abschied, sie fahren „zurück in die wirkliche Welt“. Dabei verlassen sie diese ja, denn Wirklichkeit ist ja sehr viel spürbarer außerhalb von schützenden Stadtmauern.
„Die Welt ist plötzlich auf sechs Zoll geschrumpft.“
Für die Wirklichkeit haben vor allem Kinder keine Zeit mehr. Unser Schulsystem ist eines unserer gewaltigsten Probleme. Die Kinder sitzen bis 17 Uhr im Klassenzimmer und gehen dann mit Hausaufgaben nach Hause. Wann sollen die sich denn noch einen Käfer angucken?
Und wenn sie sich den nie angeguckt haben, werden sie sich auch nicht dafür einsetzen, dass er am Leben bleibt. Dann haben sie stattdessen Angst davor. Viele Kinder suchen sich die Abenteuer auf einem Bildschirm, weil ihnen verboten wird, die Wirklichkeit zu entdecken.
Unseren Kindern wird gerade die Welt gestohlen. Sie haben keine Zeit, echte Erfahrungen zu machen. In Brennnesseln zu fallen zum Beispiel oder sich ein Haus in den Brombeeren zu stampfen.
Die nächste Generation wird mit der Natur vielleicht nichts mehr verbinden – keine sentimentalen Erinnerungen, kein Gefühl von Freiheit. Jetzt dreht sich alles um das Handy – und die Welt ist plötzlich auf sechs Zoll geschrumpft.
Wie gehst du mit dem ganzen Verlust an Tieren und Pflanzen um, den wir gerade erleben?
Wir müssen uns erlauben, darüber traurig zu sein. Ich bin sehr traurig über all das, was verloren geht. Wir erleben das sechste große Sterben auf diesem Planeten, seit es darauf Leben gibt, und kein Meteor oder Vulkan ist dafür verantwortlich, sondern unsere Gier. Wir vertreiben uns selbst aus dem Paradies.
💌 Ausgabe #57: Auswilderungen als Wunderwaffe gegen die Klimakrise (Öffnet in neuem Fenster)
Wieso tun wir das?
Vielleicht kommt unsere Unfähigkeit, die Natur zu schützen, daher, dass wir uns eingeredet haben, dass es uns immer gut gehen muss. Wir machen uns allzu gern vor, dass alles gut wird. Aber wir müssen aushalten, wenn wir traurig und verzweifelt sind. Das gehört alles zum Leben dazu.
Die Hauptcharaktere in deiner Tintenwelt-Reihe, Meggie und Mo, können Wesen in Bücher hineinlesen – oder aus Büchern in die echte Welt hinauslesen. Wünschst du dir manchmal, du könntest ein paar fossile CEOs in ein Buch hineinlesen, damit sie dort Bösewichte sein können und in der realen Welt keinen Schaden mehr anrichten?
Ich habe den Verdacht, dass ihr das gerne machen würdet. Ich bin mir nicht so sicher, ob ich das irgendeinem Buch antun wollte. Ich würde mir diese Schurken lieber auf irgendeinen unbewohnbaren Planeten wünschen.
„Trump ist eine furchtbare Persönlichkeit, aber nicht das Problem.“
Aber könnte es vielleicht helfen, greifbare Bösewichte in unseren Geschichten übers Klima zu haben? Damit diese Krise nicht so abstrakt und unsichtbar bleibt.
Ich glaube, das wäre ein gefährlicher Weg. Dann würden wir leugnen, dass wir ein viel grundsätzlicheres Problem haben: nämlich dass solche Menschen überhaupt heranwachsen können. Wir haben ein System geschaffen, in dem gnadenlose Rücksichtslosigkeit, Profit und einige andere seltsame Werte wie Berühmtheit unendlich belohnt werden.
Trump zum Beispiel ist eine furchtbare Persönlichkeit, aber nicht das Problem. Hinter ihm stehen viele andere und hinter denen wiederum ein System, in dem sie aufgewachsen sind. Darum finde ich es auch zu vereinfachend, wenn Geschichten nur einen Bösewicht haben.
Ich habe noch nie viel davon gehalten, dass es bei Harry Potter oder Herr der Ringe den einen finsteren Bösewicht gibt – und wenn man den besiegt hat, dann ist alles wieder gut. Es wäre schön, wenn es so wäre. Aber in Wahrheit würde doch sofort der Nächste da stehen.
Wie bildest du in deinen Büchern das Böse ab?
Mir ist immer wichtig gewesen, das Böse möglichst realistisch darzustellen. Ich versuche, die Muster solcher Bösewichte klarzumachen und zu zeigen, wie Macht entsteht. Das habe ich auch in Tintenherz mit Capricorn versucht, der quasi eine faschistische Organisation leitet.
Was ich am Bösen am furchtbarsten finde: Es kehrt das, worauf wir am stolzesten sind – die Liebe – gegen uns. Die meisten kriminellen Organisationen und auch der Faschismus funktionieren so, dass man aus Angst davor, dass die eigenen Kinder oder jemand, den man liebt, angegriffen werden, zum Verräter oder Feigling wird.
Gibt es etwas, das dir trotz des erstarkenden Faschismus Hoffnung macht?
Trotz all der Finsternis in diesen Zeiten, muss ich sagen, dass ich eine Sache für unglaublich hoffnungsvoll halte: dass indigenes, dekolonialisiertes Denken eine laute Stimme bekommt. Das gab es nicht, als ich jung war.
Heute gibt es Schriftsteller wie Amitav Gosh und viele andere, die sagen, „Leute, was habt ihr denn 250 Jahre lang getrieben?“. Da wacht gerade vieles auf und ich weiß sehr zu schätzen, dass ich das alles miterlebe.
Es öffnet einem den Kopf, von Kulturen zu hören und zu lernen, die unsere Art zu leben sehr grundsätzlich in Frage stellen. Unseren Glauben an Geld und Zeit, unsere Bewunderung für Rücksichtslosigkeit und das Gegeneinander.
Kannst du uns zum Schluss noch verraten, woran du nach unserem Gespräch gleich weiterschreiben wirst?
Ich hatte mir ja eigentlich geschworen, dieses Jahr keine größeren Geschichten anzugehen. Und dann hat mich in Venedig eine Geschichte angesprungen, die so mächtig ist, dass ich sie zwischendurch immer mal wieder schreiben muss.
Ich hatte dort drei Ideen für Kurzgeschichten, die gerade zusammenkommen und alle haben etwas mit dem Herr der Diebe zu tun – und natürlich auch mit all dem, was wir gerade verlieren. Natur und Kultur, Natur gegen Kultur…
Diese Geschichte ist eine von denen, die einen an den Haaren packt und an den Schreibtisch zerrt. Ich bin immer noch ganz bestürzt, dass sie mir in meinem grünen Jahr ins Herz geschlüpft ist. Aber die Saat war wohl schon in der Luft.
Vielen Dank für deine Zeit, liebe Cornelia.
Und an Dich ein großes Danke, dass Du bis zum Ende gelesen hast!
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Die nächste Ausgabe bekommst Du am 2. November. Bis dahin!
Herzliche Grüße
Manuel und Julien
👨🏻🎨 Alle Illustrationen wie immer in Handarbeit von Manuel Kronenberg.
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