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Kipppunkte gehören zu den größten Gefahren, die der Planet für uns bereithält. Trotzdem erwische ich mich selbst manchmal dabei, wie ich die möglichen Folgen verdränge.

Gut, dass vor kurzem der Global Tipping Points Report (Öffnet in neuem Fenster) erschienen ist. Damit Du ihn nicht selbst lesen musst, erfährst Du in diesem Q&A von den größten Kipppunkt-Risiken und wirkungsvollen Gegenmaßnahmen.

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Ein Planet auf der Kippe

Fünf Erdsysteme stehen kurz vor ihrem Kollaps. Die Folgen wären katastrophal und unwiderruflich. Positive Kipppunkte können dem jedoch entgegenwirken. ~ 9 Minuten Lesezeit

„Mal ganz von vorne. Sind Kipppunkte wirklich so gefährlich?“

Ja, denn wenn sie einmal überschritten sind, gibt es kein Zurück mehr. Irreversibilität ist das Stichwort. Keine Macht der Welt (und vor allem keine Technologie) kann zum Beispiel ein Eisschild daran hindern, abzuschmelzen, wenn der kritische Punkt einmal überschritten wurde. Mindestens 25 globale und regionale Erdsysteme haben nach aktuellem Forschungsstand einen solchen Kipppunkt.

„Und wie genau funktionieren sie?“

Schau Dir dafür mal diese Grafik aus dem Global Tipping Points Report (Öffnet in neuem Fenster) an. 

„Sieht aus wie zeitgenössische feministische Kunst.“

Stimmt, ist aber Erdsystemforschung. Durch äußere Einflüsse wird ein zunächst stabiles System (die blaue Kugel) so verändert, dass es einen Schwellenwert überschreitet. Die Kugel kommt ins Rollen und das System nimmt einen komplett anderen Zustand an, aus dem es von alleine nicht wieder herauskommt (die rote Kugel). 

„Hast Du auch ein Beispiel parat?“

Stell Dir vor, die Kugel ist der Amazonas-Regenwald. Durch die Erderhitzung, Brandrodung und andere menschliche Einflüsse kippt das gesamte Ökosystem irgendwann von alleine in den nächsten für sich stabilen Zustand.

„Stabil klingt doch erstmal gut.“

Stabil heißt in dem Fall: Steppe. 

„Oh, ok. Und wann geraten die ersten Kipppunkte aus dem Gleichgewicht?“

Ab jetzt. 

„Ab jetzt? Ich dachte, das passiert wenn überhaupt erst Ende des Jahrhunderts.“

Da liegst Du leider falsch. Guck Dir nachher mal dieses Video (Öffnet in neuem Fenster) der Earth Commission an. In dem Screenshot hier siehst Du schonmal, dass wir den Gefahrenbereich (die lila Balken) für fünf Kipppunkte bereits heute schon betreten haben. 

„Krass. Warum hört man davon dann so wenig in den Medien?“

Guter Punkt, aber andere Geschichte. 

Gucken wir uns lieber die fünf Erdsysteme an, die als erstes kippen könnten – oder vielleicht schon gekippt sind. Da wäre zum einen das Abschmelzen desGrönland-Eisschilds, ein sich selbst verstärkender Effekt. Durch das Schmelzen gerät die Oberfläche des Eises in immer tiefere, wärmere Luftschichten, wodurch es immer schneller und irgendwann eben von alleine abschmilzt – auch ohne weitere Erderhitzung. 

„Aber könnte das Eisschild nicht wieder gefrieren, wenn wir die Erderwärmung irgendwann stoppen?“

Leider nein. Denn es ist ein Überbleibsel aus der letzten Eiszeit. Selbst wenn wir die Erderhitzung rückgängig machen, würde das Wasser nicht wieder gefrieren und neues Eis bilden. Dafür müsste man den Planeten wieder in eine neue Eiszeit versetzen.

Das Abschmelzen des Grönland-Eisschildes hätte zusammen mit dem westantarktischen Eisschild – dem zweiten Kipppunkt – drastische Folgen: Die Meeresspiegel würden um bis zu zehn Meter steigen.

„Bitte was?! Zehn Meter?“ 

Ja. Allerdings über den Lauf von hunderten bis tausenden von Jahren. Aufzuhalten wäre der Anstieg beim Überschreiten der Kipppunkte aber eben nicht mehr. 

Anzahl der vom Meeresspiegelanstieg betroffenen Menschen – selbst wenn das Klima bei zwei Grad stabilisiert wird, wären es wahrscheinlich rund 700 Millionen.  📊: Global Tipping Points Report (Öffnet in neuem Fenster)

In dieser interaktiven Karte (Öffnet in neuem Fenster) von CORRECTIV siehst du, welche Regionen und Städte von einem solchen Anstieg betroffen wären – Shanghai, Rio de Janeiro, Bangkok, New York, Buenos Aires, Kolkata und auch Hamburg und Bremen.

„Heftig. Welche Systeme sind noch gefährdet?“

Der dritte Kipppunkt: Korallenriffe. Sterben sie für immer ab, ist das ganze marine Ökosystem um sie herum betroffen – und Millionen von Menschen, die abhängig sind von Fischbestände, Küstenschutz und Tourismuseinnahmen. 

Hinzu kommt noch das Abtauen der Permafrostgebiete in Sibirien und Nordamerika. Das ist besonders kritisch, da dort riesige Mengen Treibhausgase gespeichert sind, die dann in die Atmosphäre gelangen.  

„Einer fehlt noch.“

Last but not least: eine Umwälzströmung unter Grönland, Labradorstrom genannt (Achtung, das ist nicht die AMOC-Zirkulation, zu der kommen wir gleich). Ein Zusammenbruch dieser Strömung würde unter anderem zu noch extremeren Wetterereignissen in Europa führen. 

Weitere drei Kipppelemente sind gefährdet, sobald die Erderhitzung 1,5 Grad überschreitet: boreale Wälder, Seegraswiesen und Mangroven.

Ein Überblick über die Kipppunkte der Erdsysteme. 📊: Global Tipping Points Report (Öffnet in neuem Fenster)

„Aber bis dahin ist es noch lange hin, oder?“ 

Kommt drauf an, was Du als lang empfindest. In einer Studie der Uni Stanford (Öffnet in neuem Fenster) wurde im vergangenen Jahr mit Hilfe von KI berechnet, dass die 1,5-Grad-Grenze wahrscheinlich zwischen 2033 und 2035 dauerhaft überschritten wird.

Und dass die Wahrscheinlichkeit, auch zwei Grad zu überschreiten, selbst mit ernsthaftem Klimaschutz (von dem wir meilenweit entfernt sind) noch ziemlich hoch ist. Sprich, wenn wir 2050 Silvester feiern, ist die 2-Grad-Schwelle mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit schon überschritten.

„Oha, und was würde das genau bedeuten?“

Guck gerne nochmal auf den Screenshot oben. Bei zwei Grad Erderhitzung befinden sich ganze 13 Kippsysteme im Gefahrenbereich oder sind dann schon gekippt. Natürlich kann die Forschung das Kippen nicht ganz genau vorhersagen. Klar ist aber zum Beispiel: Die meisten Kinder, die heute geboren werden, werden sich Korallen nur noch in Dokus angucken können.

„Ich bekomme zwar jetzt schon ziemlich sicher Alpträume, aber: Steht im Report auch, welche Kipppunkte die schlimmsten Auswirkungen hätten?“

Da wäre zum Beispiel der Kollaps der großen atlantischen Umwälzzirkulation, auch AMOC genannt. Wenn das System kippt, führt das zu einer zusätzlichen Erwärmung der Südhalbkugel, zu schwächerem Monsunregen in Afrika und Asien und einer Austrocknung im Sahel und in Teilen des Amazonas. Dadurch könnte die Hälfte der weltweiten Anbauflächen für Weizen und Mais wegbrechen. 

„Holy Shit.“

Ja, aber es kommt noch krasser. Im IPCC-Bericht von 2021 heißt es zwar, dass ein solcher Kollaps in diesem Jahrhundert „sehr unwahrscheinlich ist“. Eine Nature-Studie (Öffnet in neuem Fenster) aus 2023 warnt jedoch davor, dass bei den momentanen, hohen Emissions-Szenarien ein Zusammenbruch der AMOC bereits Mitte des Jahrhunderts eintreten könnte. 

💌 Ausgabe #25: Die To-Do-Liste zur Rettung des Planeten (Öffnet in neuem Fenster)

Stefan Rahmstorf, der wohl bekannteste deutsche Klimaforscher, sagte auf einer Kipppunkte-Konferenz (Öffnet in neuem Fenster) im vergangenen Jahr, dass mittlerweile bewiesen sei (Öffnet in neuem Fenster), dass die AMOC momentan so schwach ist wie seit mindestens einem Jahrtausend nicht. Und dass sie mit Sicherheit auch einen Kipppunkt hat. Schon heute gibt es Frühwarnsignale (Öffnet in neuem Fenster), dass dieser viel eher überschritten sein könnte als gedacht.

„Klingt ja wirklich beängstigend. Und wie war das nochmal mit der Amazonas-Steppe?“

Der Amazonas-Regenwald ist ab zwei Grad Erderhitzung auch in Gefahr zu kippen. Je kleiner der Regenwald ist, desto weniger Wasser verdunstet über ihm und desto weniger regnet es. Brände und Abholzung tun ihr Übriges, dass sich das Ökosystem irgendwann nicht mehr aufrechterhalten kann und zur Steppe verkommt.

Neben katastrophalen Folgen fürs Klima, da Unmengen gespeichertes CO2 in der Atmosphäre landen würden, lassen sich an diesem Beispiel recht gut auch mal die wirtschaftlichen Schäden beziffern. Rate mal.

„Mhh… Hunderte Milliarden?“

Fast. Zehnmal mehr. Der Report schätzt die Schäden aus einem Kippen des Amazonas auf bis zu 3,5 Billionen US-Dollar.

„Wer soll das denn bitte alles zahlen?!“

Genau.

„Und wie lange braucht die Veränderung, wenn ein Kipppunkt erstmal überschritten ist? Beim Eis meintest Du, es dauert möglicherweise tausende von Jahren.“

Das ist ganz unterschiedlich und die Vorhersage teilweise ziemlich schwierig. Bei Korallenriffen würde es zum Beispiel nur zehn Jahre dauern, bei der AMOC rund 50 Jahre und beim Amazonas hundert Jahre. Das sind aber alles Schätzungen, keine genauen Prognosen. 

„Das ist trotzdem alles andere als beruhigend. Die Kipppunkte haben aber erstmal keinen Einfluss aufeinander, oder?“

Wahrscheinlich leider schon. Besonders düsteres Futter für Alpträume bieten Kipppunkte nämlich dann, wenn sie sich gegenseitig wie Dominosteine zum Fallen bringen. Wo, wie und wann genau das passiert, weiß man allerdings noch nicht.

Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen zu Kipppunkten. 📊: Global Tipping Pointf Report (Öffnet in neuem Fenster)

„Steht im Report überhaupt irgendetwas Positives?“

Endlich fragst Du. Ja, es gibt tatsächlich auch positive Kipppunkte. 

„Na Gott sei Dank! Und wann erreichen wir die?“

Die Frage ist eher: Wie? Die positiven Kipppunkte basieren nämlich weniger auf physikalischen Gesetzen als auf sozio-ökonomischen Zusammenhängen. 

Ein Beispiel wären elektrische Fahrzeuge: Wenn ihre Anzahl einen Schwellenwert überschreitet, werden die Batterien wegen großflächiger Produktion und Investitionen deutlich günstiger. Dadurch wird die Energiespeicherkapazität erhöht, was wiederum dem Ausbau der Erneuerbaren zugute kommt.

💌 Ausgabe #48: Sechs soziale Kipppunkte für Klimagerechtigkeit (Öffnet in neuem Fenster)

So ein positiver Dominoeffekt passiert allerdings nicht einfach von alleine, er muss aktiv ermöglicht und herbeigeführt werden – durch technologische Innovation, politisches und soziales Handeln, Verhaltensänderungen und Investitionen.

„Gibt es noch andere positive Kipppunkte?“

Ja, zum Beispiel im Bereich Ernährung: durch eine konsequente CO2-Bepreisung (wodurch tierische Produkte teurer werden) oder vegane Menüs in öffentlichen Einrichtungen, die dafür sorgen könnten, dass eine klima-kompatible Ernährung überproportional schnell umgesetzt wird.  

„Und ohne diese positiven Kipppunkte wird es schwierig?“

Laut Report könnten positive Kipppunkte unsere letzte Chance sein.

Die wichtigsten Klima-Kipppunkte und positive Dominoeffekte. Je weiter links in der Skala, desto schneller können sie kippen. 📊: Global Tipping Points Report (Öffnet in neuem Fenster)

„Schlagen die Wissenschaftler*innen auch noch andere Maßnahmen vor?“

Seit wann genderst du?

„Ich stell hier die Fragen.“

Also da ist natürlich erstmal das Offensichtliche: Ein „phase out“ aus fossilen Energien, also ein rascher, vollständiger Ausstieg. Kein transitioning away (Öffnet in neuem Fenster), dancing around oder andere Formulierungen, die Aserbaidschan, Saudi Arabien und anderen fossilen Staaten auf der nächsten COP einfallen. Genauso braucht es übrigens ein Ende der Abholzung von Wäldern.

Im Report finden sich aber auch konkrete Vorschläge, die man so eher selten hört. Ein IPCC-Sonderbericht zu Kipppunkten zum Beispiel. Oder ein UN-Gipfel, der sich ausschließlich mit den Gefahren beschäftigt, die von ihnen ausgehen. Und in den nationalen Klimazielen, den Nationally Determined Contributions (NDCs), die aus dem Pariser Klimaabkommen heraus resultieren, sollten Kipppunkt-Risiken ab sofort abgebildet werden, empfehlen die Forschenden.

„Ich habe letztens von diesem Solar Geoengineering gelesen. Steht das auch im Report als Maßnahme?“

Ja. Allerdings nur, weil dringend davon abgeraten wird – trotz der gebotenen Eile. Die Politik solle sich vor „kontraproduktiven Maßnahmen“ wie Solar Geoengineering hüten, heißt es im Report. Gemeint ist zum Beispiel das Spritzen von Schwefelmolekülen in der Stratosphäre. 

Politische Debatten über solche technologischen Klima-Drogen (Öffnet in neuem Fenster) stehen uns aber wohl dennoch bevor – spätestens wenn die ersten Erdsysteme wirklich kippen und wir die Folgen mit voller Wucht zu spüren bekommen.

Wenn Du Dich noch ausführlicher zu Kipppunkten informieren möchtest, findest Du hier (Öffnet in neuem Fenster) eine ziemlich gut gemachte Übersicht vom PIK.

Danke, dass Du bis zum Ende gelesen hast. Wenn Dir diese Ausgabe geholfen hat, Kipppunkte besser zu verstehen, würden wir uns freuen, wenn Du unsere Arbeit als Mitglied unterstützt. Eine Mitgliedschaft kannst du ganz einfach via Steady ab 4 € im Monat abschließen. Vielen Dank!

Der neue Podcast mit Treibhauspost

Wir haben es vor Weihnachten ja schon durchklingen lassen… In den letzten Monaten haben wir an einer ziemlich dicken Überraschung für euch gearbeitet: Zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung starten wir ein neues Podcast-Format – den Pod der guten Hoffnung. 🎙

Mehr Details erzählen wir euch nächste Woche. Nur so viel sei verraten: Der erste Gast, den sicher einige von euch kennen werden, ist Erdsystemforscher Wolfgang Lucht. Die erste Folge findet ihr ab Mittwoch, den 17. Januar, überall da, wo es Podcasts gibt.

Die nächste Treibhauspost-Ausgabe bekommst Du am 27. Januar. Bis dahin!

Herzliche Grüße
Julien

Treibhauspost-Partner (Öffnet in neuem Fenster)

💚 Herzlichen Dank für die Unterstützung an alle Treibhauspost-Partner:

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Kategorie Forschung

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